Zehn Jahre

Predigt am 14. Mai 1988 in St. Marien, Hannover

 

Heute vor zehn Jahren, es war im Jahre 1978 der Tag des Pfingstfestes, wurde ich im Hohen Dome zu Münster zum Priester geweiht.

 

Weil morgen meine Nichte Felicitas in dieser Kirche zur Erstkommunion geht, feiere ich diesen Gedenktag hier in Hannover. Wenn diese Predigt deshalb etwas persönlicher wird als üblich; dafür haben Sie sicher Verständnis.

 

Unser Weihekursus, das heißt, die Priester, die vor zehn Jahren zusammen geweiht wurden, war in einiger Hinsicht ungewöhnlich. Nur ein einziger von diesem Kurs war auf dem üblichen Wege Priester geworden, das heißt, gleich nach Schule und Studium. Alle anderen hatten Umwege gemacht. Ein ehemaliger Lehrer wurde im Alter von 55 Jahren Priester. Ein anderer hatte ein Biologiestudium hinter sich, einer war Ingenieur gewesen, einer war Gärtner, einer Assistent an der Universität, einer hatte Pädagogik studiert und ich orientalische Sprachen. Einer hatte sich der religiösen Gemeinschaft der Focolare angeschlossen und war in deren Zentrum in Rocca di Papa gewesen.

 

Auch in zahlenmäßiger Hinsicht war unser Weihekursus eine Ausnahme. Es waren nur neun Priester! Das war die geringste Anzahl, die seit Menschengedenken im Bistum Münster geweiht worden war. [Heute, 2025, wäre jede Diözese in Deutschland heilfroh, jedes Jahr neun Priester weihen zu können!]

 

Im Jahre 1988 sind es nur noch sieben: Ein Mitbruder erkrankte an der Hodgkinschen Krankheit, das ist ein bösartiger Tumor des Lymphsystems, und starb vor zwei Jahren. Ein anderer schied aus dem Dienst aus, wurde Arzt und Jugendpsychiater.

[Heute, 2025, sind wir noch vier Mitbrüder von diesem Weihekursus. Drei weitere Mitbrüder sind inzwischen verstorben, einer an einer Herzschwäche, einer an Krebs und einer an Durchblutungsstörungen.]

 

Welche Erfahrungen habe ich in diesen zehn Jahren gemacht? Ich nenne nun zunächst negative Erfahrungsbereiche und dann positive. Das Negative möchte ich vermeiden und das Positive stärken.

 

Ein Priester wurde einmal gefragt, was er als durchgehende Einsicht seiner seelsorglichen Tätigkeit mitteilen könne. Er nannte zwei Erkenntnisse:

·     Die Menschen werden nicht erwachsen.

·     Die Menschen sind nicht besonders glücklich.

 

Ich kann beides bestätigen. Der Prozeß des Erwachsenwerdens ist oft nicht mit achtzehn Jahren abgeschlossen. sondern geht weiter. Da heißt es:

·     Weil mich meine Eltern zu sehr gefüttert haben, bin ich so dick.

·     Weil ich solch schlechte Lehrer hatte, ist aus mir nichts geworden.

·     Weil mir meine Umgebung nicht die Zeit zu einem religiösen Leben gibt, komme ich nicht dazu.

Es ist einfach, die Verantwortung auf andere zu schieben. Erwachsensein zeichnet sich dagegen dadurch aus, daß für das eigene Leben die Verantwortung übernommen wird.

 

(Das Kindsein im Sinne des Evangeliums bleibt davon unberührt. Bei ihm handelt es sich um die Haltung des Vertrauens, um das Staunenkönnen, um die Hingabefähigkeit, kurz gesagt, es geht um die Bereitschaft, sich zu verschenken und zu binden.)

 

Zum Erwachsensein gehört auch die Zufriedenheit. Natürlich möchte der junge Mensch Grenzen überschreiten und das Unmögliche erreichen. Erwachsen zu sein, bedeutet aber auch, eigene Grenzen anzunehmen. Wer Dinge nicht positiv verändern kann, akzeptiert sie. Jeder Mensch ist in seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten begrenzt. Das anzuerkennen, ermöglicht, reifer zu werden.

 

Ein Priester erzählte: „Für mich waren nicht meine Lebensweise und der Gehorsam schwierig, sondern die Rivalität und die Eifersucht unter meinen Mitbrüdern.“ Die invidia clericalis, der Neid der Kleriker untereinander, ist geradezu sprichwörtlich geworden.

·     Er predigt zwar hervorragend, aber Worte allein bewirken nichts.

·     Seine Gottesdienste werden von vielen besucht, weil er sich anbiedert und dem Zeitgeist huldigt.

·     Er zieht zwar viele Jugendliche an, aber um die Erwachsenen kümmert er sich überhaupt nicht.

Wer in seiner Seelsorge und Katechese erfolgreicher als andere ist, bekommt hämische Bemerkungen zu hören, wird ausgegrenzt und überwacht, ob er vielleicht einen Fehler macht oder etwas Falsches sagt.

 

(Sie wundern sich sicher, wie offen ich rede. Andererseits sind diese Dinge nicht verborgen geblieben.)

 

Bevor ich handle oder rede, möchte ich mich selbst prüfen, damit ich weder von Neid noch von Eifersucht motiviert bin.

 

Es gibt einige, die regelmäßig zur Kirche gehen, aber für die sozialen Probleme blind sind. Andere Menschen setzen sich für soziale Gerechtigkeit ein, können aber mit Religion nichts anfangen.

 

Gottes- und Nächstenliebe gehören aber zusammen. Um Frömmigkeit und Soziales zusammenzuführen, bin ich vor vier Jahren Arbeiterpriester geworden. An einer Presse fertige ich Bremsbeläge für die Bahn. Zugleich bin ich in einer Pfarrgemeinde tätig. Ich spüre, welche Kräfte wirksam sind, um beide Bereiche auseinanderdriften zu lassen. Wer malocht, sieht meist nicht ein, warum Religiöses nützlich sein soll. Wenn ich aber in der Gemeinde erzähle, daß ich acht Stunden an der Maschine stehe, werde ich nicht mehr als Priester anerkannt.

 

Tatsächlich leben beide Bereiche voneinander. Im Gebet und in der Eucharistiefeier lebe ich auf, kann Enttäuschungen verarbeiten, sehe deutlicher, wo und wie ich an mir arbeiten kann und erhalte neue Kraft. Im Betrieb werde ich von der Freundschaft getragen, erfahre aber auch die Situation eines ungelernten Arbeiters. Beide Bereiche gehören wesentlich zu meinem persönlichen Leben.

 

In einem Gebet heißt es:

·     „Gib, daß wir lieben, was Du befiehlst, und ersehnen, was Du verheißen hast, damit in der Unbeständigkeit dieses Lebens unsere Herzen dort verankert seien, wo die wahren Freuden sind.“

Ein Schiff muß umso besser verankert sein, je höher die Wellen vom Sturm aufgepeitscht werden. Nur eine tiefe Beziehung kann die Stürme der Zeit überdauern. Je mehr unsere Existenz von innen und von außen in Frage gestellt wird, desto tiefer ist sie verankert und hält stand, desto stärker ist die Verbundenheit mit der Person, die ich liebe. Gott und Mensch kommen zusammen.

 

Dabei tragen folgende Worte:

·     „Stelle dein Leben unter das Geheimnis des Kreuzes!“ Dies wird bei der Priesterweihe gesagt.

·     „Stat Crux, dum volvitur orbis“ (Fest steht das Kreuz, während die Welt umhergewirbelt wird). Dies ist der Wahlspruch der Kartäuser.

 

Wer liebt, lebt in der anderen Person und durch sie.

 

„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.

(Brief des heiligen Apostels Paulus an die Galater, Kapitel 2, Vers 20).

 

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025

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