Frühe wissenschaftliche Tätigkeit N.Berdjajews in Westeuropa

Klaus Bambauer

 

Im Blick auf seine im Jahre 1922 vom Sowjetregime erzwungene und in seiner Autobiographie "Selbsterkenntnis" ausführliche dargestellte Übersiedlung nach Westeuropa (S. 275ff.) sagte Berdjajew: "Als ich ins Ausland kam und dort mit der russischen Emigration Fühlung nahm, gehörte das zu den schwersten Eindrücken meines Lebens" (1). Im September 1922 war die aus 75 Personen bestehende Gruppe auf dem Seeweg über St. Petersburg und Stettin nach Berlin gereist, und man hatte die Empfindung, nun frei zu sein.

Die enge Atmosphäre der russischen Orthodoxie in seiner neuen Heimat belastete sein freies Denken, da man dort nicht nach Wahrheit suchte – wie er es als Philosoph gewohnt und was ihm zum Lebenselement geworden war –, sondern nach Ordnung und nach einer starken Macht. "Schärfer denn je trat an mich eine entsetzliche Versuchung heran: das Fehlen einer gnadenerfüllten Erleuchtung bei Menschen, die sich selber für orthodox-gläubig hielten, die unentwegt die Gottesdienste besuchten, beteten, oft zur Kommunion gingen. Es ist das eine Erstarrnis der Geistigkeit im äußeren Ritus […]. Es hatte den Anschein, als wäre die Tradition des russischen schöpferischen religiösen Denkens völlig unterbrochen; unterhalten wurde sie nur durch eine kleine Gruppe von Vertretern des philosophischen und theologischen Denkens, die nicht für echte Orthodoxe galten. In mir regte sich eine wahrhafte Empörung gegen diese Atmosphäre, und ich versäumte keine Gelegenheit, in mündlichen und schriftlichen Protesten hiergegen Front zu machen" (2).

Wie aus der großen Studie von Donald A.Lowrie über Berdjajew bekannt ist, widmete sich Berdjajew schon bald nach seiner Übersiedlung von Russland nach Berlin den seit langem in Westeuropa bestehenden ökumenischen Bemühungen (3). Berdjajew hat sich selbst dazu geäußert: "Ich habe noch vieles über meine Berührungspunkte mit der christlichen Welt des Westens, mit Katholiken und Protestanten, zu sagen. Diese Beziehungen waren komplizierter Natur. Mir persönlich würde ein Überkonfessionalismus außerordentlich liegen (ich möchte dieses Wort dem Terminus "lnterkonfessionalismus" vorziehen). Mich verlangte aber immer ganz besonders nach Reformation, wenn auch nicht im ausdrücklich protestantischen Sinn des Wortes. Diese Reformation oder diese tiefe geistige Reform ist auch für die protestantische Welt vonnöten. Aber mein inneres religiöses Leben und mein religiöses Drama kann nur in Verbindung mit der von mir gepflegten inneren Erfahrung einer tiefen, inneren Krisis, vollkommen verstanden werden" (4).

In ihrem Aufsatz zum Thema "Ekklesiologische Positionen orthodoxer Tradition" fassen Abt Tichon und W.A.Nikitin zusammen: "Auf Initiative prominenter russischer Religionsphilosophen im Ausland (neben anderen wären N.A.Berdjajew, S.L.Frank, F.A.Stepun, N.S.Arsenjew [1888-1977], I.A.Iljin, L.P.Karsawin [1882-1952], W.E.Sesemann zu nennen) gründete man im November 1922 in Berlin beim CVJM eine Religionsphilosophische Akademie. Ihr ist in der ökumenischen Bewegung der 1920er Jahre eine bedeutsame Rolle zugewachsen. 'Die Religionsphilosophische Akademie stellt sich das Ziel, auf die geistige Wiedergeburt der christlichen Nationen hinzuarbeiten', so heißt es im Programm der Akademie (Sophia. Probleme der Geisteskultur und der Religionsphilosophie, Berlin, 1923 S. 137)" (5). "Die Akademie plante die Herausgabe eines periodisch erscheinenden Sammelbandes über Probleme der geistigen Kultur und religiösen Philosophie mit dem Titel 'Sofija' (Weisheit), doch erschien davon nur ein Band 1923. Aufgrund innerer Auseinandersetzungen wahrscheinlich mit Berdjajev, dem Initiator und Leiter der Akademie, hatte die Akademie in Berlin keine lange Lebensdauer und wurde bald nach Paris verpflanzt, wo sich Berdjajev endgültig niederließ" (W.Offermanns, S. 26, vgl. Anmerkung 17).

Bei der Eröffnung der Akademie am 26. November 1922 hielt N.A.Berdjajew eine richtungsweisende Ansprache zum Thema "Vom religiösen Sinn der russischen Revolution". Auf die Krise des modernen europäischen Humanismus hinweisend, betonte er, dass diese Krise nur zu überwinden sei, wenn die Christen in West und Ost sich miteinander verbinden" (6). Berdjajew erinnert sich: "Für eine religionsphilosophische Akademie hatten wir unter den Russen im Auslande, vor allem aber unter den Verbannten genügend Kräfte zur Verfügung. Der Namen 'Akademie' schien mir zu aufdringlich und entsprach meinem Geschmack nicht. Indessen hatten wir uns nicht um einen anderen Namen bemüht. Dank der aktiven Bemühungen des amerikanischen christlichen Jungmännerverbandes, des YMCA konnte die religionsphilosophische Akademie gegründet werden […]. Ich bin überzeugt, dass das uneigennützige Wirken des YMCA, die aus ihrer Heimat vertriebene russische Autoren verlegte, dereinst in Russland richtig bewertet werden wird, wenn dort wieder ein freies Wort gelten wird. Von den Russen war S.L.Frank, außer mir, am Verlag beteiligt. Und wir haben in Berlin viel zusammen gearbeitet" (7).

In der religionsphilosophischen Akademie wandte Berdjajew sich an jüngere Menschen. Berdjajew schreibt: "Auch die religionsphilosophische Akademie stand mit der Christenbewegung der Jugend in enger Verbindung. Wir beteiligten uns alsbald aktiv an christlichen Gruppen gelegentlich des ersten Kongresses dieser Bewegung in der Tschechei" (8).

Im Rahmen seiner Tätigkeit lernte Berdjajew auch den Verbandssekretär des YMCA, P.F.Andersen und den Schweizer G.G.Kullmann kennen (1894-1961), dessen Name im Briefwechsel zwischen Berdjajew und F.Lieb mehrfach genannt wird. "G.G.Kullmann verblüffte mich und S.L.Frank durch die verwandte Auffassung der durchlebten Revolution, durch die Nähe unserer Ansichten in vielen Fragen. Er war ein hochkultivierter Mann" (9). Dass es Berdjajew möglich war, kurz nach seiner Ankunft in Berlin schon auf seinem Gebiet tätig zu werden, verdankte er dem nordamerikanischen YMCA. Er war wohl einer der wenigen Emigranten, denen man früh solche Aufmerksamkeit zuwandte.

Berdjajews Schwägerin Eugenie Rapp zählt einige Namen derer auf, die an den oben genannten Zusammenkünften teilnahmen: [Igor] Smolitsch (1898-1970) (10), Babitsch, Vera Chulkowa, Sophie Schidlowskij, Lunin, Pianoff, Fiedler und Schlusberg. Zur Eröffnungsveranstaltung der Akademie lud man auch den Metropoliten Evlogij ein. Er war zu dieser Zeit der Exarch des Moskauer Patriarchats in Paris. Nach 1927 unterstellte er sich aus kirchenpolitischen Gründen dem ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (11).

Die sich anschließende Zusammenkunft mit einer Aussprache über geistliche Themen fand in Berdjajews Berliner Wohnung statt. Nachdem Berdjajew den Metropoliten begrüßt hatte, sprach Berdjajew ausführlich über die Wichtigkeit christlicher Jugendorganisationen in einer Zeit, in der sich antichristliche Kräfte aggressiv formierten. Einer der Teilnehmer äußerte sich bei dieser Diskussion heftig gegen die katholische Kirche. Während der Metropolit mit väterlich-ruhigem Lächeln zuhörte, unterdrückte Berdjajews Gesicht seinen heftigen Zorn. Nachdem der Metropolit gegangen war, wandte sich Berdjajew an die Gruppe und besonders an den jungen Fragesteller und wies ihn mit barscher Stimme darauf hin, es sei ihm nicht erlaubt, dem Metropoliten Vorschriften zu machen. Er ergänzte: In einem Hause, in dem die Gastgeberin zur katholischen Kirche gehörte [seine Frau Lydia, die während der russischen Revolution zur katholischen Kirche konvertiert war], zieme es sich nicht, in solcher Weise über Katholiken zu sprechen. Er forderte ihn auf, sich sofort bei seiner Frau zu entschuldigen und das Haus zu verlassen. Zu den übrigen sagte er: "Wir müssen immer eine christliche Haltung annehmen gegenüber den Christen, welcher Konfession sie auch immer sind" (12). In diesen Zusammenhang mag Berdjajews Hinweis passen: "Peinlich wirkte auch ein geradezu fürchterlich niedriger Stand der geistigen Interessen, des Kulturniveaus. Dann das Primitive, das Fehlen aller Problematik beim größten Teil der Jugend, obwohl sich auch einzelne Menschen anderer Art fanden, denen mehr Bedeutung zukam" (13)

Außerdem nahm Berdjajew in Berlin federführend an der Gründung des Russischen wissenschaftlichen Instituts teil, dessen Dekan er wurde. In diesem Institut hielt er vor großem Auditorium eine Vorlesungsreihe über die Geschichte des russischen Denkens sowie über Ethik. Die Einrichtung wurde vom deutschen Staat unterstützt. (Die Regierung wurde damals vom katholischen Zentrum und von Sozialdemokraten gebildet.) Berdjajew hatte mehr als andere Russen Deutschkenntnisse, wenn er auch langsam sprach. Dies half mit, die Projekte der Exilierten voranzutreiben. Im Institut wurden vier Vorlesungsreihen angeboten: 1. Agronomie, 2. Ökonomie, 3. Gesetz, 4. ein Kurs zum Thema "Philosophisches – Geistiges".

In Berlin machte Berdjajew auch die Bekanntschaft von M.Scheler (14), den er öfter in Berlin und später in Paris wiedertraf, Graf H.Keyserling (15) und Oswald Spengler. Über die Beziehungen zwischen Graf H.Keyserling und Berdjajew erfahren wir Näheres aus Keyserlings Buch "Reise durch die Zeit". In seinem dortigen Text über L.Tolstoi heißt es: "Nikolaj Berdjajeff, welcher, insofern er ähnlichen Ursprungs ist wie ich (nicht dem Blute, wohl aber der Grundkonstellation nach, auch mein Vater war griechisch-orthodox und hatte die Mentalität eines Orthodoxen) und Ähnliches erlebt hat, mich eigentlich einigermaßen verstehen müsste, schrieb mir 1936 – und dabei kannte er mich persönlich lange schon: 'Ich habe jetzt herausgebracht, warum ich Sie so schwer verstehe. Der Kampf zwischen Erde und Geist tobt nicht nur außer, sondern auch in Ihnen. Sie sind selber sehr erdhaft. Und es ist nicht deutlich, dass Sie überhaupt zum reinen Geist hinwollen.' Ich antwortete ihm: 'Mit Ihrer Feststellung haben Sie nicht Unrecht, jedoch Sie verkennen mein Ziel. Sie bekennen sich für sich noch zum Ideal weltflüchtiger Heiligkeit. In dieser Weltphase aber tut ganz anderes not. Gerade weil ich selber Schauplatz des Kampfes zwischen Erd- und Geisteskräften bin, glaube ich eine Sendung zu haben'." (16)

Die oben erwähnten Einrichtungen verstanden sich in gewisser Weise als Fortsetzung der Freien Akademie geistiger Kultur, die er 1919 in Moskau gegründet hatte und wo sich P.Florenskij (1882-1937), S.Frank (1877-1950), G.A.Rachinskij, I.A.Iljin (1883-1954), L.Schestow (1866-1938), F.A.Stepun (1884-1965), P.B.Wyscheslazew (1877-1954), S.Bulgakow (1871-1944) und andere bei Berdjajew trafen (17).

Schon einige Jahre zuvor (1907) hatte Berdjajew in St. Petersburg den Plan, die Petersburger Religionsphilosophische Gesellschaft zu gründen, doch verließ er St. Petersburg schon im gleichen Jahr, um nach Paris zu reisen, wo er u.a. auch mit D.Mereschkowskij (* 1866 St. Petersburg, †1941 Paris) (18) zusammentraf.

In seiner Autobiographie "Selbsterkenntnis" (19) berichtet Berdjajew ausführlich über die Gründungen solcher religionsphilosophischer Gesellschaften in Moskau, St. Petersburg und Kiew, wobei S.N.Bulgakow eine der Hauptpersonen war und nach einer marxistischen Phase zur russischen Orthodoxie fand (20).

Anmerkungen

1) Selbsterkenntnis. Versuch einer philosophischen Autobiographie, Darmstadt 1953, S. 227. Zit. Selbsterkenntnis.

2) Selbsterkenntnis, S. 228.

3) Vgl. dazu die ausführlichen Hinweise bei D.A.Lowrie, Rebellious Prophet. A life of Nikolai Berdyaev, London 1960. Zit. Lowrie, Berdyaev.

4) Vgl. dazu: Selbsterkenntnis, S. 229f. Vgl. dazu ebenso auch den Aufsatz von N.Berdjajew: Universalismus und Konfessionalismus, in: Christian Reunification: The Ecumenical Problem in Orthodox Consciousness, Paris 1933, S. 63-81 (Klepinina, Nr. 64).

5) Vgl. dazu den in dieser Zeitschrift veröffentlichten und neuerdings wieder abgedruckten Beitrag von N.Losskij, Der Kommunismus und die philosophische Weltanschaung, in: Stimme der Orthodoxie Heft 2/3, 1992, S. 21-25.

6) Vgl. Stimme der Orthodoxie Heft 4/1984, S. 35. Darauf, dass es in Berlin eine weitere Vereinigung russischer emigrierter Philosophen unter W.Zen'kowskij gab, und auf die sich daraus ergebenden Spannungen macht Lowrie, Berdyaev, S. 165, aufmerksam. Für die zahlreichen Einzelheiten der Arbeit Berdjajews in Westeuropa kann hier nur auf die Studie von Stefan A.Reichelt, Nikolaj A.Berdjajev in Deutschland 1920-1950, Leipzig 1999, verwiesen werden. Zit. Reichelt, Berdjaev.

7) Selbsterkenntnis, S. 278.

8) Selbsterkenntnis, S. 278.

9) Selbsterkenntnis, S. 278.

10) Vgl. zur Biographie von I.Smolitsch: Kirche im Osten, Bd. 14 (1971), S. 17-18.

11) Zur Tätigkeit von Metropolit Evlogij (1868-1946), der als Erzbischof am 27. August 1921 in Paris eintraf und dort später residierte sowie zu den kirchenhistorischen Fragen über die Zeit der Wirren vgl. S.Taurit, Zeuge russischer Kultur und Frömmigkeit in der Fremde, in: Stimme der Orthodoxie, Heft 3/1997, S. 33-43.

12) Vgl. Lowrie, Berdyaev S. 163f. Zu Metropolit Evlogij vgl. Reichelt, Berdyaev, S. 53, 55-58, 144, 190.

13) Selbsterkenntnis, S. 279.

14) Zu Scheler sagt Berdjajew, Selbsterkenntnis (S. 279f.): "Die Begegnungen mit M.Scheler interessierten mich darum, weil er mir in seinen Büchern in vielen Dingen nahezukommen schien. In M.Schelers Werken fand ich etliche Gedanken, die ich auch schon ausgesprochen hatte, die aber auf andere Weise ausgedrückt waren. Die erste Begegnung mit Scheler entäuschte mich. Vor allem stellte sich heraus, dass er nicht nur vom Katholizismus, sondern auch vom Christentum abgekommen war. Seine Art zu sprechen, war interessant, reich an Gedanken; er selbst war eine loyale Natur und hatte sogar etwas Kindliches an sich. Was mich aber betroffen machte, war sein ganz unverhohlener Egozentrismus. Jedes Gespräch wusste er auf sich selber, auf seine Bücher, auf die Rolle, die er spielte, auszumünzen. Diesen Egozentrismus brachte er naiv, unmittelbar zum Ausdruck. Er war ein sehr begabter Mensch, der interessanteste deutsche Philosoph der letzten Epoche. Aber ich fühlte in ihm keine zentrale Lebensidee" (S. 279f). Berdjajew hatte Scheler wohl auf einer der Zusammenkünfte in Pontigny kennen gelernt (so Selbsterkenntnis, S. 299). Vgl. auch Reichelt, Berdyaev, S. 28, 79, 128, 150.

15) Zu Graf Keyserling vgl. Selbsterkenntnis, S. 164, 280. Vgl. auch Reichelt, Berdyaev, S. 77ff.

16) Graf H.Keyserling, Reise durch die Zeit II, Abenteuer der Seele, Darmstadt 1958, S. 49f.

17) Vgl. auch die noch etwas ausführlicheren Hinweise in: N.Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, Waltrop 1998, S. 8. Zu Bulgakow vgl. neuerdings die eindrucksvollen Erinnerungen von A.Schmemann, Bilder einer geheiligten Priesterpersönlichkeit, in. Stimme der Orthodoxie, Heft 1/1998, S. 26-34. S.Bulgakow fand seine letzte Ruhestätte auf dem russischen Friedhof von Sainte-Geneviève-des Bois. Vgl. zu I.A.Iljin die informative Studie von Wolfgang Offermanns, Mensch, werde wesentlich! Das Lebenswerk des russischen religiösen Denkers Ivan Iljin für die Erneuerung der geistigen Grundlagen der Menschheit, Reihe Oikonomia, (Quellen und Studien zur orthodoxen Theologie Bd. 11), Erlangen 1979.

18) D.Mereschkowskij ruht zusammen mit seiner Gattin Sinaida Hippius (* 1869 Bélew, † 1949 Paris), der Dichterin, Literatin und Journalistin, auf dem Friedhof Sainte-Geneviéve-des Bois.

19) Selbsterkenntnis, S. 174ff.

20) Vgl. dazu auch die ausführlichen Hinweise bei Helmut Dahm, Grundzüge des russischen Denkens, München 1979, S. 50ff.

 

 

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