Die russische Volksfrömmigkeit*

von Pierre Pascal, Paris

 

[S. 69] Selbst wenn man einmal festgestellt hat, dass Russland das Christentum von Byzanz empfangen, oder, genauer noch, von den lateinischen Warägern, dann von Bulgarien und erst in der Folge unmittelbar von Byzanz, so hat man damit noch nichts über die Religion des russischen Volkes ausgesagt; denn in einem jeden Volk festigt sich das Christentum in anderer Form. Zwar ist die Heilige Schrift überall die gleiche, doch werden schon die Dogmen nicht völlig in gleicher Weise verkündet, und die Kirchenordnung unterscheidet sich zwangsläufig noch mehr. Wie wird es sich nun mit dem religiösen Gefühl verhalten, das von zahlreichen ethnischen, geographischen, ökonomischen, historischen und sozialen Faktoren beeinflusst wird? Wir müssen von vornherein anerkennen, dass das Christentum im Bewusstsein des russischen Volkes eine eigene Form angenommen hat.

Aber das ist nicht alles. In Russland hat sich ein Phänomen herausgebildet, das vielleicht sein Gegenstück in den westlichen Ländern findet, das aber nirgends einen so unbedingten, so katastrophalen Grad erreicht hat: der Bruch zwischen der Elite und dem Volk. Sicher hat ein derartiger Bruch bei uns während der Renaissance stattgefunden und sich noch bis zur Revolution verschärft. Aber in Russland kam es durch den Willen Peters des Großen zu einer völligen Scheidung. Zar Peters Reform bestand darin, unter allen Umständen eine Minderheit von Elite zu schaffen, die von Russen, doch vor allem von Ausländern herangebildet worden war, jedenfalls eine westliche Erziehung genossen hatte, und die auf allen Gebieten regieren, befehlen, lehren und zum Nutzen des Staates die ungeheure, amorphe, verächtliche und irgendwie beängstigende Masse des Bauernvolkes knebeln und ausbeuten sollte. Dieses System hat sich im 18. Jahrhundert nur noch verstärkt mit Ausdehnung und Erhärtung der Leibeigenschaft. Das Ergebnis war, dass in einer einzigen Nation zwei - selbst in Sprache und Religion - völlig verschiedene Völker lebten.

Die Elite sprach Französisch, las Montesquieu und Voltaire und sah in der Orthodoxie lediglich eine Staatsreligion, die zu gewissen Riten verpflichtete, aber weder Glauben noch Lebensführung berührte, und sie machte, ganz wie es der aus dem Westen herübergekommenen Mode beliebte, die Entwicklung vom Rationalismus Voltaires zur Sentimentalität Rousseaus durch, um sich bald dem Freimaurertum und dem Martinismus schwärmerisch anzuschließen.

Dagegen blieb das Volk aus der Provinz und vom Lande den alten Sitten treu: der echten russischen Sprache, der orthodoxen Religion und oft sogar dem "alten Glauben" aus der Zeit von Nikon. Es lernte im slawischen Psalter lesen, erdachte sich Lebensgeschichten der Heiligen und hörte mit Vergnügen [S. 70] von den frommen Abenteuern der Bettelmönche, Wanderasketen und Pilger erzählen.

Während des 19. Jahrhunderts hatte sich die Kluft etwas verengt. Die Elite hatte versucht, sich dem Volk zu nähern. Es entstand eine nationale literarische Sprache, eine Literatur, die vom russischen Volk inspiriert wurde und ihm auch zugänglich war; das Volk seinerseits bekam durch die Vermehrung der Schulen und der gedruckten Bücher einigen Zugang zum westlichen Denken. In den führenden Kreisen und unter den Intellektuellen verbreiteten sich verschiedene Bewegungen eines "Zurück zum Christentum": in der Mitte des Jahrhunderts die Slawophilen und Tolstoj; am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Vladimir Solovjev und seine Schüler, die idealistischen Philosophen und symbolischen Dichter, Mereschkovskij, V. Rosanov und die "religionsphilosophischen Gesellschaften".

Aber Scientismus und Positivismus nahmen auch weiterhin Besitz von der großen Mehrheit der Gebildeten. Und andererseits zeigt allein die obige Aufzählung, in welch geringem Maße dieses "Zurück zum Christentum" ein "Zurück zur Orthodoxie" war; sie zeigt seine Vermischung mit zahlreichen der Volksreligion völlig wesensfremden Elementen. So hat sich die Kluft zwar verengt, doch ist sie bis heute noch nicht geschlossen. Wir kommen somit zu der Folgerung, dass es nicht nur eine Religion des russischen Volkes im allgemeinen gab, sondern eine Religion der nach westlichem Vorbild gebildeten oder aufgeklärten Kreise und eine andere der Kreise, die durch äußere Einflüsse am wenigstens berührt wurden, eine Volksreligion im engeren Sinne. Die erstere könnte den Inhalt einer besonderen Studie bilden, wobei, da es sich um differenziertere Gruppen oder Einzelpersönlichkeiten handelt, es schwierig wäre, zu allgemeinen Urteilen zu kommen. Die zweite kann besser beschrieben werden, weil sie die Religion einer Masse ist, die noch von Traditionen oder gemeinsamen Reaktionen geleitet wird. Und dieser zweiten gilt mein Versuch einer Beschreibung.1) Damit entsteht die Frage nach der für eine solche Untersuchung anzuwendenden Methode. Zuerst wird es sicherheitshalber gut sein, eine zeitliche und räumliche Abgrenzung vorzunehmen. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Grundzüge der Religion des russischen Volkes sich seit der ältesten uns bekannten Epoche sehr gewandelt hätten: die Stabilität ist das Eigentümliche an der bäuerlichen Zivilisation; ich glaube ebensowenig, dass wesentliche Unterschiede zwischen Ukrainern und Großrussen bestehen. Doch werde ich mich auf Großrussland beschränken (dies ist sowohl zahlenmäßig als auch historisch der wichtigste und typischste Teil) und auf den Zeitraum, der uns noch am nächsten ist, im wesentlichen auf die letzten hundert Jahre. Hiermit möchte ich bestimmten Zweifeln oder Einwänden vorbeugen.

Auch muss ich noch sagen, dass ich nicht darüber reden werde, inwieweit das russische Volk gläubig ist: Das ist eine völlig andere Frage. Ich stelle nur fest, dass bei den gläubigen Menschen die Frömmigkeit diesen oder jenen Charakterzug trägt. [S. 71]

Welche Quellen stehen uns zur Verfügung?

Die wichtigste [Quelle] muss selbstverständlich die unmittelbare Kenntnis des russischen Volkes sein. Da aber niemand sich einer Familiarität rühmen kann, die sich über das ganze Volk erstreckt, muss man zwangsläufig andere Mittel zu Hilfe nehmen.

Wir haben Zeugnisse, in denen das russische Volk selbst, ohne es zu wissen, sein religiöses Bewusstsein ausgedrückt hat2): Erzählungen, Sprichwörter, geistliche Gesänge, Legenden, Apokryphen - ferner Werke, in denen es sich bewusst beschrieben hat. Letztere sind selten und sie enthüllen uns vor allem außergewöhnliche Gestalten. Doch werfen sie auch - mutatis mutandis – ein Licht auf die anderen. Die "Erzählungen eines Pilgers" gehören zu dieser Kategorie, selbst wenn ein gebildeter Mönch sie bearbeitet oder durchgesehen hat: Welch ein unschätzbares Dokument! Es handelt sich um einen "strannik", zwar ein gehobener Typ der Volksfrömmigkeit, der aber auf seinen Wanderungen mit sehr gewöhnlichen Menschen zusammentrifft, die für uns außerordentlich aufschlussreich sind.3)

Wir haben weiter die Beobachtungen über das religiöse Leben des Volkes zur Verfügung, die uns von sicheren Zeugen übermittelt wurden: zuerst die ethnographischen Studien, doch legen diese meistens mehr Wert darauf, Aberglauben und heidnische Überreste zu sammeln, als das echte religiöse Gefühl nachzuweisen. So laufen sie Gefahr, die Perspektive zu verfälschen. Aufschlussreicher für uns ist ein Amateur, dessen Wissbegierde sich über einen größeren Raum erstreckt, wie z. B. Maksimov4). Glücklicherweise besitzt Russland eine große Anzahl derartiger Schriftsteller, die mit sehr großem Stolz das Leben und Denken des russischen Volkes beschreiben. Dieses Material muss mit Vorsicht zu Rate gezogen werden, da es nicht frei von subjektiven Elementen ist, aber es ist sehr reichhaltig, und wenn wir darin Gegebenheiten finden, die auch mit unserer persönlichen Erfahrung übereinstimmen, so dürfen wir es ruhig benutzen. Ich denke z.B. an zahlreiche Erzählungen von Korolenko. Er hat sich ganz besonders mit der frommen Volksseele beschäftigt und hat mit Sympathie und Klarsicht zugleich treu die Worte, die er gehört, und die Handlungen, die er beobachtet hat, wiedergegeben. Trotz seiner schriftstellerischen Begabung können wir ihm ein weitgehendes Vertrauen schenken. Auch Gleb Uspenskij wird uns manchmal nützen. Gor'kij kannte sein Volk in bewundernswerter Weise und stand dessen Religionspsychologie keineswegs gleichgültig gegenüber. Man lese dazu seine "Kindheit", sein "Bekenntnis" und andere kürzere Erzählungen! Jedoch muss man ihm gegenüber, [S. 72] da er vor allem Literat und Politiker war, kritischer sein. Dostojevskij, an den man sogleich denkt, ist ein zu mächtiger Schöpfer, als dass man ihn ohne Bedenken heranziehen könnte; doch schließt das nicht aus, dass seine "Aufzeichnungen aus einem Totenhause" uns eine erlebte Wirklichkeit vor Augen führen, dass Makar Ivanovitsch aus dem "Jüngling", ein Vertreter eben dieser Orthodoxie, der wir nachspüren, ist und dass der Starez Zosima aus den "Brüdern Karamasov" nach bekannten Modellen geschaffen wurde.

Außerhalb der Literatur bieten uns Geschichte, Erinnerungen, Reiseberichte, das "Verschiedene" der Zeitungen usw. zahlreiche Einblicke.

In den "Erinnerungen eines Missionars aus Sibirien" besitzen wir ein erstrangiges Dokument, das gleichzeitig Zeugnis eines Menschen aus dem Volk über sich selbst und eine Sammlung von Porträts und Beobachtungen ist5).

Zuletzt wären die schon bestehenden Gesamtstudien über die russische Religion zu erwähnen; sie gehen von anderen Gesichtspunkten als den dargelegten aus und machen nicht die notwendigen Unterscheidungen zwischen Kirchenglauben und wirklich vorhandener Frömmigkeit oder zwischen dem religiösen Verhalten der Gebildeten und dem des einfachen Volkes.

Der religiöse Glaube - "Doppelter Glaube" oder kosmisches Christentum?

Sobald es sich um die Religion des Volkes handelt, stoßen wir uns zuerst an einer kategorischen und traditionellen Behauptung: Diese Religion ist ein "doppelter Glaube" (russisch: dvoeverie)6), eine Mischung aus Christentum und heidnischen Überresten. Zur Vertretung dieser Meinung scheint es zahlreiche beweisführende Tatsachen zu geben. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte hat die Kirche wiederholt Verdammungen gegen Aberglauben, verkehrte Bräuche, teuflische Spiele, jahreszeitliche Riten vorgenommen.

Diese nahmen natürlich in der Zeit der Bekehrung ihren Anfang, wurden im Hundertkapitelkonzil 1551 kodifiziert, wurden im 17. Jahrhundert während der Reformversuche häufiger und bestehen sporadisch noch bis heute.

Tatsächlich gibt es diese Frühlingsfeiern, diese Gesänge und Reigentänze, wo Jarilo, offensichtlich ein Sonnen-, Mond- oder Fruchtbarkeitsgott, angerufen und sogar dargestellt wird und später, zum Ende des Jahres, das symbolische Begräbnis dieses Gottes in Gestalt einer Puppe, Kostroma. Auch bestehen Überreste eines Baumkultes. Dass diese rudimentär überlieferten Feiern nun mit Ostern, dem Fest des Heiligen Petrus oder mit Pfingsten verknüpft werden, ändert nach allgemeiner Ansicht nichts an ihrem heidnischen Ursprung. Es gibt, was noch bezeichnender ist, den Glauben an böse Geister, die den Wald, das Gewässer und das Haus bewohnen. Die Rusalki sind die Geister der Gewässer und des Todes; die zwölf Schwestern Trjasavica sind [S. 73] die Fieberschauer, die den Menschen schütteln. Die unreine Macht findet sich überall in verschiedenen Gestalten und ist immer furchterregend. Die Totenfeiern im Frühling und Herbst, diese Festschmäuse auf den Gräbern, zu denen die Toten geladen werden, setzen eine heidnische Auffassung des Fortlebens voraus. Einige Lebewesen stehen mit diesen Geistern in ständiger Verbindung, die Zauberer und Hexen: Sie kennen bestimmte Worte, Geflüster und Gesten, die eine Wirkung auf diese ausüben. Ihre Macht überträgt sich vom Vater auf den Sohn. Aber bis zu einem gewissen Grade kann jeder Mensch diese Macht erlangen. Mit Hilfe von Formeln und Amuletten kann er ein ungünstiges Geschick herbeilocken oder beschwören, fließendem Blut Einhalt gebieten, auf Tiere und Menschen Krankheiten herabrufen oder sie davon befreien. Durch gewisse Verfahren oder durch die Beobachtung verschiedener Koinzidenzen kann er die Ereignisse, die ihn interessieren, vorhersagen: Hochzeit, Brand, Tod, Erfolg oder Misserfolg einer Unternehmung.

Aber setzen nicht alle diese Praktiken, so wird man fragen, und noch eine ganze Anzahl ähnlicher, die das höchste Interesse der Folkloristen erregen, einen Glauben voraus, der an sich mit dem Christentum gar nichts zu tun hat, sondern der neben ihm im Bewusstsein des russischen Bauern existiert und der ihn beeinflusst? Sind nicht diese magischen Deklamationen in Gebetsform zum Heiligen Tryphon typische Beispiele eines "doppelten Glaubens" (dvoeverie)?

Dazu lässt sich zunächst bemerken, dass das Gebet zum Heiligen Tryphon nicht russischen, sondern griechischen Ursprungs ist. Doch ist der Ursprung kaum von Bedeutung. Was man untersuchen müsste, ist der Platz, den der Aberglaube im Leben des russischen Volkes einnimmt, und zwar nicht vor fünfhundert Jahren, sondern in der Gegenwart und weiter noch Art und Grad dieses Glaubens. Es ist bemerkenswert, dass schon im 17. Jahrhundert ein Erzpriester Avvakum, der aus einem verlassenen Dorf im Distrikt Nižnij-Novgorod stammte - einem Land von frischer Kolonisation - uns in seinen Schriften, seiner Biographie, Briefen und Predigten ein absolut reines Christentum darstellt, ohne die geringste Spur verkehrter Bräuche, ohne den leichtesten heidnischen Widerschein. Sicherlich war dies ein außerordentlicher Mensch, doch wurde er inmitten des Volkes erzogen und lebte in ihm. Hätte er nicht wenigstens einen Schatten des "doppelten Glaubens" bewahrt, wenn es diesen wirklich gegeben hätte? Die Missbräuche, die er bei seinen Gemeindegliedern bekämpft, sind Vergehen gegen Frömmigkeit oder Sitte, es sind die lockeren Possen der Bärenführer oder die Maskeraden beim Karneval. Sie werden als teuflisch und heidnisch bezeichnet, aber das Volk, das sich hieran erfreut, findet seinen Glauben hier keineswegs im Spiel. Ebenso scheint mir in all den Szenen von Wahrsagern, von Girlanden, die man an den Bäumen anbringt, von Puppen, die man ertränkt, wobei man Reigentänze und Gesänge ausführt, das Moment eines heidnischen Glaubens unterzugehen im Gefühl des Vergnügens und des Spiels, das die Menschen beherrscht. Inwiefern zeigen schließlich die jungen Bäuerinnen, die in der Nacht des 31. Dezember aus den bizarren Mustern einer Mischung von Wachs und kochendem Wasser ihr Schicksal für das kommende Jahr ablesen, mehr "doppelten Glauben" als die Französin, die eine Kartenlegerin befragt oder drei gleichzeitig brennende Lichter fürchtet?

[S. 74] Das einzige vorchristliche Element, das lange im russischen Volke lebendig geblieben ist – und noch immer ist es implizit vorhanden – ist der Glaube an die Macht und die Heiligkeit der Erde. Und das ist noch mehr ein natürliches als ein im eigentlichen Sinne heidnisches Gefühl: die Erde als Ernährerin, deren unerschöpfliche Energie sich auf mystische Weise von Jahr zu Jahr verausgabt und wieder erneuert, die Erde, die den Menschen trägt und in der er endlich ruht, wie sollte sie nicht für ein Bauernvolk "unsere feuchte Mutter Erde" sein? Sie wird nicht personifiziert und nicht vergöttlicht, nicht mit Legenden umwoben und nicht in einem Kult verehrt: so würde sich wirkliches Heidentum äußern. Doch hat man das Gefühl, dass sie rein ist und dass nichts Unreines sie beschmutzen darf. Darum bittet die gebildete, strenggläubige Christin Morozova, die geistliche Tochter des Erzpriesters Avvakum, als sie im Gefängnis den Tod nahen fühlt, einen Soldaten, ihr einziges Hemd zu waschen; denn es wäre "ungebührlich, wenn dieser Körper in unreiner Kleidung in den Schoß der Mutter Erde hinabstiege". Aus Ehrfurcht gegenüber der Erde bewahrt jeder Bauer sein Leben lang ein Totenkleid: ein weißes Hemd und Filzschuhe. Sogar die Erde bearbeiten darf man nur im Zustand körperlicher und geistiger Reinheit. Man ruft sie zum Zeugen an bei einem Schwur. Noch mehr: bevor der Bauer zur Beichte seiner Sünden zu einem Priester geht, bittet er seine Nächsten – und auch die Erde – um Verzeihung; und wenn er zu den Schismatikern gehört, die da meinten, seit Nikon sei die Gnade des Priesteramtes dieser Welt entzogen, oder wenn er als Orthodoxer keinen Priester in der Nähe hat, wie in Sibirien oder im Norden, so beichtet er ganz naiv der Erde.

Es ist schwierig zu sagen, bis zu welchem Grad der Glaube an die Heiligkeit der Erde noch heute im Bewusstsein des russischen Volkes gegenwärtig ist. Doch wurden zu Anfang dieses Jahrhunderts zu verschiedenen Punkten Beweise erbracht. Handelt es sich hier um Heidentum und "doppelten Glauben"? Ich meine viel eher, dass wir es hierbei mit bestimmten, echt christlichen Zügen der Volksfrömmigkeit zu tun haben. Der Bauer glaubt mit der Genesis und mit Paulus, dass die ganze Schöpfung, die sich in der Erde darstellt, an der Sünde des Menschen leidet und dazu bestimmt ist, mit ihm erneuert zu werden. Seine Frömmigkeit kennt kaum einen individuellen Sündenfall und ein individuelles Heil: sie ist mehr kollektiv, sie ist kosmisch.

Sie vergisst niemals die großen Visionen der Apokalypse, wozu der Westen so sehr neigt; in diesem Bereich lebt sie. Mächtig empfindet sie eine mystische Gemeinschaft zwischen Mensch und Natur, die beide Geschöpfe Gottes sind. Die Natur ist immer rein. Der Mensch wird von ihr durch seine Sünde geschieden und sieht sie nur noch von außen. Aber der reine Mensch bemerkt ihre Schönheit, ihre Verbindung mit Gott und seine eigene Verbindung mit der Natur. Der Pilger, der einmal in das ununterbrochene Gebet eingetreten ist, sieht alles, was ihn umgibt, in einem neuen und wunderbaren Licht: Bäume, Gräser, Vögel, Erde, Luft und Licht, alles verkündet die Liebe Gottes zum Menschen, alles betet und singt zur Ehre Gottes. Auch der Missionar empfängt in seiner kindlichen Reinheit die ersten Aufforderungen zum Gebet von der Natur. Makar Ivanovitsch, der im "Jüngling" von Dostojevskij die Volksfrömmigkeit auf ihrer höheren Stufe symbolisiert, erkennt in jedem Grashalm, im singenden Vogel und in den leuchtenden [S. 75] Sternen das Mysterium Gottes,die unsagbare Schönheit. Sollen wir den russischen Gläubigen, nachdem er schon des heidnischen Treibens schuldig gesprochen wurde, nun des Pantheismus anklagen? Das würde ihn befremden; denn wenn die Natur ihn mit Gott in Kontakt bringt, so nicht durch ihre Verschmelzung mit Ihm, sondern weil sie Seine Schöpfung ist. Der christliche Wert dieser unmittelbaren Einfühlung des Volkes wurde von den Denkern in solchem Maße anerkannt, dass Schriftsteller und Theologen ihn vielleicht über Gebühr ausgewertet, ausgelegt und vertieft haben. Aljoscha in den "Brüdern Karamasov" küsst die Erde, ebenso Raskolnikov, der sie mit Blut befleckt hat, und er fühlt sich danach losgesprochen und mit Gott versöhnt. Dostojevskij geht von einigen Hinweisen, die er in den "Geistlichen Gedichten" gefunden hat (und die nur teilweise Ausdruck der Volksfrömmigkeit sind) aus und stellt mit der Gestalt der Lahmen aus den "Besessenen" eine Analogie zwischen Mutter Erde und Mutter Gottes auf. Später knüpft Vater Sergius Bulgakov an diesen Komplex seine Sophialehre an und erweitert damit noch die Sicht. Das kosmische Gefühl des einfachen Bauern ist nüchterner und weniger problematisch.

An diesem Punkt angelangt, ist es statthaft, die jahreszeitlichen Riten, die uns beunruhigten, auszulegen als nichts mehr denn den Ausdruck eben dieser Gemeinschaft des Bauernvolkes mit der Natur Gottes - und das schon seit sehr langem. Es ist deutlich, dass es sich bei den Altgläubigen von Melnikoff-Petscherski um nichts anderes handelt.

Trotzdem sind der Kult der Erde und die Jahreszeiten-Feste nur überlebende Bräuche. Hat das russische Volk abgesehen davon in seiner Gesamtheit und in seinem täglichen Leben eine eigene Theologie? Beherbergt es in der Dreieinigkeit auf Grund irgendeiner Divinität beide Prinzipien: das männliche und das weibliche, Christus und die Muttergottes? Sieht es in Christus, dem König und Richter, auch Christus, den Retter? Dies sind Züge, die man in den "Geistlichen Gedichten" heraushebt, die man jedoch an anderer Stelle widerlegt. Sehr häufig kennt der Russe die Dogmen nicht: "Zwei Drittel (der Landbevölkerung)" sagt uns 1857 ein pessimistischer Priester – "haben nicht den mindesten Begriff vom Glauben" - und von hundert können knapp zehn das Credo aufsagen. Woher bezieht also der Russe seine Kenntnis auf dem Gebiet der Religion? Zum geringen Teil aus dem in der Schule erhaltenen Unterricht. In größerem Maße aus der von der Familie empfangenen Tradition, den einzeln oder in Gruppen gelesenen Büchern (Sprüche in den alten ABC-Büchern, Bibel, und da vor allem Psalter und Evangelien, Lebensgeschichten der Wüstenväter und der Heiligen, modernes Schrifttum); weiter aus der Liturgie (mit ihren Gebeten, Schriftlesungen und Hymnen), der Predigt, den Erzählungen der Pilger und der religiösen Malerei. Derart verschiedene und wenig kontinuierliche Quellen können keine scharf umrissene Kenntnis der christlichen Wahrheiten vermittelte. Doch genügen sie, der sehr großen intellektuellen Neugier dieses Volkes Nahrung zu geben. Wenn es sich auch - wie übrigens die Masse der Gläubigen in jedem anderen Land – mit einem stillschweigendem und ganz allgemeinen Glauben begnügt, gibt es dann nicht doch vielleicht bestimmte Mysterien, von denen es tiefer berührt wird? Und das sind meiner Ansicht nach die letzten Dinge. Es ist bekannt, wie [S. 76] schnell das russische Volk in allen wirren Epochen seiner Geschichte das Ende der Welt herannahen glaubte: während des großen Schismas im Jahre 1666, während der Reformen Peters des Großen und in unseren Tagen. Die Texte, die hierauf Beziehung haben, sind seinem Gedächtnis immer gegenwärtig. Es erkennt die Zeichen und Spuren des Antichristen. Man hat erlebt, dass Gläubige geflüchtet sind, alles im Stich gelassen haben, gestorben sind oder sich darauf vorbereitet haben, zitternd und rein vor dem Richter zu erscheinen. Szenen des Gerichtes und der Apokalypse sind auf den Pforten von Kirchen und Klöstern zu sehen. Vor und nach den Gottesdiensten scharen sich die Menschen hierum. Der Pilger erzählt uns von einem fluchenden und betrunkenen Arbeiter, der bekehrt wird, als er eine Geschichte vom jüngsten Gericht hört. In diesem Dogma der letzten Vergeltung findet der Russe auch eine Lösung des Problems des Bösen und des Leidens, das ihn bewegt. In der Auferstehung erblickt er die Niederlage des Todes, und Tod und Auferstehung sind dabei universal zu verstehen: auch die Tiere haben eine Art ungetaufter Seele, die aber in der anderen Welt erscheinen wird. Doch findet das Denken des Volkes im selben Dogma sein Skandalon, die ewigen Höllenqualen: von neuem Böses und Leiden, und das in Unendlichkeit. So ergreift es mit Erleichterung jeden Kompromiss: Die Heilige Jungfrau hat durch ihre inständigen Bitten erwirkt, dass die Verdammten in jedem Jahr vom Gründonnerstag bis Pfingsten Ferien von ihren Qualen haben; Mariä Verkündigung ist ein so hohes Fest, dass an diesem Tage die Bewohner der Hölle nicht gequält werden; die Glocke, die man für die Seele eines Selbstmörders läuten lässt, ruft ihn für die Dauer des Läutens aus dem Infernum heraus... Diese weit verbreiteten Glaubenserscheinungen entsprechen so sehr einem Bedürfnis der russischen Seele, dass selbst die Theologen in dieser Hinsicht die barmherzigen Lehren von Origenes und Gregor von Nyssa gern wieder aufnehmen. Ein weiterer Punkt, mit dem das russische Denken sich befasst, ist die Allgegenwart Gottes und seiner Vorsehung. In allen Geschehnissen des Lebens entdeckt es das Wirken dieser Vorsehung. Es handelt sich hier keineswegs um Fatalismus, wie manchmal gesagt wird, denn der russische Bauer hat auch sein Sprichwort: "Hilf dir selbst, und der Himmel wird dir helfen!", und er geht ebenso mutig an seine Aufgabe wie jeder Bauer auf der Welt. Er ist sich seiner Freiheit bewusst. Aber er fühlt sich in einem höheren Milieu geborgen, wo der Teufel ihm zwar auflauert, wo aber Gott über ihn wacht. Andere Sprichwörter zeugen davon: "Wenn nicht Gott, wer sollte uns dann helfen?" "Hoffe auf Gott und klage die anderen nicht an!" "Gegen Gott kein Knüppel!" "Unser Wollen vermag nichts ohne das Wollen Gottes." "Wie kannst du auch nur die Schwelle deiner Tür ohne Gott überschreiten?" In der Autobiographie von Avvakum, im "Pilger" und im "Missionar" wird diese Atmosphäre der Vorsehung sehr hervorgehoben: aber der geringste Mužik fühlt sich bis zu einem gewissen Grade immer in ihr geborgen.

In der Sorge um Himmel, Hölle und zukünftiges Leben, im unmittelbaren Gefühl der göttlichen Lenkung der Dinge, haben wir noch einmal die Züge einer universalen Religion. Kann man nun behaupten, dass sie sich in ihrem Gottesdienst auf einen leeren Ritualismus reduziert? [S. 77]

Der Kult - Götzendienst oder Symbolismus?

Im Laufe der Jahrhunderte haben ausländische Reisende, intellektuelle Russen – und heute noch verfahren die offiziellen Verkünder des Atheismus in gleicher Weise - die Volksfrömmigkeit als einen jeder echten Frömmigkeit baren Formalismus, als eine Art Götzendienst verdammt.

Sie führen zuerst den Bilderkult an. Die Ikone spielt eine ungeheuer wichtige Rolle. Sie ist in vielfacher Ausführung in der Kirche auf der lkonostase vorhanden, in drei übereinander befindlichen Reihen, an den Wänden, den Säulen und den Lesepulten. Man findet sie an den Wegen, Kreuzungen und am Eingang der Dörfer. Sie ist an den Türen zu sehen, auch im Inneren der Häuser, in jedem Zimmer am Ehrenplatz gegenüber dem Eingang, damit der Eintretende sie zuerst grüßt. Diese Ikonenecke, wo es manchmal zehn bis zwanzig auf Täfelchen gibt, ist beinahe eine kleine Hauskapelle. Hier stellt man die Dinge hin, die einem am teuersten sind; ein kleines Licht brennt dort, mindestens an Festtagen; davor betet man. Die Ikone begleitet den Menschen während seines ganzen Lebens: Er empfängt sie bei der Taufe, sie geht ihm vorauf bei seinem Begräbnis. Mit ihr segnen die Eltern die scheidenden Kinder oder die jungen Ehepaare.

Um die Ikone bildet sich ein ganzer Kult. Man küsst sie in frommer Ehrfurcht. Eine alte Moskauer Dame küsste so am Ende eines jeden Gottesdienstes alle Bilder, an die sie herankommen konnte, darauf warf sie von der Mitte der Kirche aus den anderen Kusshände zu7). Hierin war sie ganz Frau aus dem Volk, selbst in übertriebener Form.

Manche Ikonen haben eine Geschichte oder eine Legende und empfangen öffentliche Huldigungen. Man trägt sie in Prozessionen mit herum oder sie werden - ebenfalls bei Prozessionen - von den Gemeinden, die ihre Kirchenfahnen vorantragen (auch lkonen), verehrt. Dies sind dann die großen Manifestationen der Volksfrömmigkeit. Die Reise der Ikone dauert Tage-, ja wochenlang; Träger und Pilger lösen sich von Ort zu Ort ab. Gesänge werden angestimmt, Schwärmer werfen sich nieder, küssen die Erde und bitten um die Gnade, das Bild möge über ihren Körper hinweggetragen werden. Besessene rasen, Frauen werden von Weinkrämpfen geschüttelt. Korolenko hat einige dieser Szenen beschrieben8). Derartige Massendemonstrationen können leicht für politische Zwecke ausgenutzt werden. Sie gingen manchmal einer Judenhetze voran und dienten den dunklen Absichten eines Mönches: Heliodor.

Die Ikone ist mächtig. Um sein Haus während des Dorfbrandes zu schützen, trägt man die Ikone der "Jungfrau vom brennenden Dornbusch" herum. Man hält sie in den Händen und betrachtet dabei das Feuer. Arbeiter, die mit ihrem Chef unzufrieden sind und die vergeblich alle irdischen Instanzen angerufen haben, verfassen eine neue Klage und bringen sie vor ein verehrtes Bild der Jungfrau9). Die Ikone ist heilig; man entfernt sie nicht ohne Notwendigkeit [S. 78] von ihrem Platz; an ihrer Seite streckt man seine Füße nicht aus; wird sie unbrauchbar, so darf man sie nur den Elementen anheim geben: sie in die Erde vergraben, dem Wasserlauf oder dem Feuer ausliefern. Bei ihrem Anblick darf nichts Unreines stattfinden, zumindest muss man sie mit einem Tuch bedecken. (Von daher der Ausspruch: "Es ist, um die Ikonen herumzudrehen!")

Haben wir hier vielleicht alle Wesenszüge einer Abgötterei? Oberflächliche Betrachter haben sich hiervon täuschen lassen. Die Gefahr eines Formalismus ist - zugegeben - vorhanden. Im alten Byzanz, woher dieser Bilderkult stammt, waren sich Heilige dessen bewusst: So kam es zur bilderstürmerischen Bewegung. Aber der Mensch ist nicht reiner Geist. Er hat wahrnehmbare Gestalten nötig, die ihm die seinen Sinnen unzugänglichen Wirklichkeiten eingeben. Die griechische Kirche ließ also die Bilder zu, betont aber ihren symbolischen Wert.

Der russische Bauer ist kein Theologe, um Gottesverehrung, Marienkult und Heiligenverehrung zu unterscheiden. Doch gebraucht er selbst, wenn er von den "Göttern" seiner Hauskapelle spricht, dieses Wort nicht ohne Ironie. Es ist in der Tat bemalt, um ein ideales Wesen, fern vom täglichen und fleischlichen Leben, zu suggerieren. Die Eigenschaft der Ikone ist der des Porträts entgegengesetzt. Das, was der Gläubige durch sie hindurch sieht, was er küsst, was er anfleht oder wem er seinen Dank entgegenbringt, ist die Person des Erlösers, der Jungfrau oder des Heiligen. Er sagt nicht: "Das Bild der Jungfrau geht auf seinem Krankenbett voran", sondern: "Die Heilige Jungfrau geht voran." Wenn eine Ikone ein Wunder vollbracht hat, eine Heilung der Seele oder des Körpers, eine materielle Gunst, so denkt er nicht, dass diese Ikone die Urheberin ist, sondern nur Anlass oder Vermittlerin: durch sie hindurch handelt die Gnade Gottes. Dies ist die Doktrin und dies ist auch die Überzeugung der einfachen Menschen, wenn sie sich einmal darüber Gedanken machen, und die Meinung, die Seraphim von Sarov, der dem Volk so nahestand, ausdrückt10). Sie vergöttlichen nicht die Materie, aber sie gebrauchen sie, um mit der übersinnlichen Welt in Beziehung zu treten.

So braucht der Philosoph die menschlichen Begriffe, um mit Hilfe der Analogie die Göttlichkeit denken zu können. Es ist selbstverständlich, dass persönlicher Missbrauch in diesen Kult Eingang finden kann, aber diese Tatsache darf in unseren Augen nicht die richtige Anschauung des Volkes trüben. Wer in Kiev oder anderswo die Pilger lange, wie in Ekstase, vor den Ikonen hat beten sehen, kann sich hierin nicht täuschen lassen. Andererseits war, als die Machthaber die Bauern zwangen, ihre Ikonen zu den riesigen Scheiterhaufen zu bringen, um sie dort verbrennen zu lassrn, der Schmerz grausam; aber jeder begriff, dass dies nicht den Glauben betraf10a).

[S. 79] Nach der katholischen Terminologie ist die Ikone ein Sakramental. Man muss zugeben, dass die russische Frömmigkeit weitgehend von den Sakramentalien Gebrauch macht. Sie verehrt die Reliquien der Heiligen, die man auch küssen muss. Manchen werden ganz besonders große Ehren zuteil, und sie sind das Ziel für Pilgerfahrten. Man denkt sofort an die zahlreichen Leiber von Einsiedlern, die in den unterirdischen Gängen in der näheren und weiteren Umgebung vom Lavra-Kloster von Kiev aufbewahrt sind. Andere materielle Gegenstände dienen als Zugang zur Gnade: das Öl der Lampen, die vor bestimmten Ikonen oder Reliquien brennen, das Brunnenwasser einiger Klöster, das Taufkreuz, das jeder orthodoxe Russe auf der Brust tragen muss, es ist mehr als ein Sakrament, es ist das Zeichen seines Christentums schlechthin.

Das Zeichen des Kreuzes ist mächtig, und mächtig ist der väterliche und auch mütterliche Segen. In allen ernsten Situationen ist er unentbehrlich. Er ist das Viatikum, das die sterblichen Eltern ihren Kindern zurücklassen. Eine verwaiste Braut sucht am Vorabend ihrer Hochzeit das Grab ihrer Eltern auf, um ihren Segen zu erbitten11). Während des letzten finnischen Krieges, 1939, schließen Eltern ihren Brief an einen Soldaten mit folgendem feierlichen Satz: "Wir senden Dir, lieber Sohn Gregor Leonovitsch, unseren väterlichen und mütterlichen Segen, der Dir dort in der Ferne unverbrüchlich bleiben soll."12)

Die Segensverweigerung ist eine Last für das Gewissen und der Fluch beinahe ein Unterpfand der Verdammnis13).

Der moderne Mensch der westlichen Welt hat die Zeichen seiner Frömmigkeit in seinem täglichen Leben auf ein Minimum reduziert. Der russische Bauer dagegen grüßt die Ikonen beim Aufstehen. Wenn er morgen das Haus verlässt, bekreuzigt er sich und blickt dabei in Richtung der Kirche oder der Kapelle, dann gen Osten und danach in alle vier Himmelsrichtungen, um dem Schöpfer zu danken. Ohne das Zeichen des Kreuzes nimmt er keine Nahrung zu sich. Von Zeit zu Zeit murmelt er das Stoßgebet: "Herr Jesus Christus", "Sohn Gottes, erbarme Dich meiner!" oder auch nur: "Jesus" Er wiederholt die Bekreuzigungen, Kniefälle, Anrufe, all diese äußerlichen Zeichen ohne die geringste Rücksicht auf seine Umgebung und so, dass man denken könnte, es handele sich hier um rein mechanische Übungen ohne innere Beziehung. Und doch hätte man mit diesem Gedanken unrecht. Wenn die Übungen auch nicht notwendigerweise Ausdruck einer momentanen Frömmigkeit sind, so entsprechen sie doch einer gewohnten, dauernden Bereitschaft. - Es gibt eine Art Ritual der Arbeit, in dem die Heiligen eine beachtliche Rolle spielen: Boris und Gleb soll man für die Wintersaat anrufen, die man bis zu dem Fest der beiden beendet haben soll. Wie die anderen Völker kennt auch das russische Heilige mit speziellen Eigenschaften: Basilius ist der Beschützer der Schweine, Kosmas und Damian heilen die Hühner, Zosima ist den Bienen zugetan, Jeremias bewahrt die Werkzeuge, Flor und Laurus sind Hüter der Pferde, Anastasias’ Gunst gehört den Schafen, und so ließen sich noch viele andere aufführen. Diese Einteilungen wurden vorgenommen nach überlieferten [S. 80] heidnischen Gottheiten, Wortspielen oder Volksetymologie oder, am häufigsten, nach Erinnerungen an Episoden aus dem Leben der betreffenden Heiligen.

Wenn Aberglauben hier eine Rolle spielt, so doch nicht in stärkerem Maße, als man ihn auch in anderen Ländern trifft. Liegt hier nicht vielmehr eine Bereicherung des Lebens vor? Jede Handlung mit einer Zeremonie verbunden, zahlreiche Tage aus der Monotonie herausgehoben und religiös; jede Arbeit in Beziehung gesetzt zu einem heiligen Patron, mit einer Bedeutung bereichert.

Doch stellen die Heiligen nicht den Herrn in den Schatten? Keineswegs! Der Bauer vergisst nicht, dass über den Knechten der Meister steht. Die Fischer von Bajkal oder Ob' verlassen nicht eher das Ufer, als bis der Bachlyk (der Chef ihrer Arbeitsgruppe gesagt hat. "Herr, segne uns!"- Bevor man das Fangnetz befestigt, sagt der Bachlyk: "Hört das Gebet!" Alle stehen, nehmen ihre Mützen ab und antworten: "Sprich das Gebet!" Der Bachlyk spricht das Stoßgebet und alle antworten.- "Amen." Darauf der Bachlyk: "Danke." Und danach alle zugleich: "Gott helfe uns!" Erst jetzt beendet man die Arbeit. "Gott helfe dir", so grüßt der Vorübergehende jemanden, den er bei der Arbeit sieht. Die ersten Früchte, die Viehzucht, Boden oder Bäume erbringen, werden dem Schöpfer geweiht: Vor dem Fest der Kreuzesprozession am 1. August [Pervyj Spas] würde man keinen Honig essen und keine Äpfel oder Erbsen, ehe man sie nicht am Fest der Verklärung Christi am Altar dargebracht hat. Nicht die Heiligen, Gott allein ist der Herr über Jahreszeit und Ernte. "Wenn Gott es nicht will, so wird selbst die Erde keine Früchte mehr hervorbringen können. - Gott gibt den Regen, er gibt auch das Korn." Dieses alles aber sind Nebenkulte. Wie steht es mit dem wesentlichen Kult, dem, der seine eigenen Diener und seinen eigenen Ort hat: die Geistlichkeit und die Kirchen?

Da ist zuerst zu sagen, dass das russische Volk zwischen Kirche und profanem Ort nicht den Unterschied macht, an den wir uns in der heutigen Zeit gewöhnt haben. Jede Hütte hat ihre Ikonenecke, ein nahezu heiliger Ehrenplatz, und die Kirche hat auch nur einen geheiligten Platz, das Allerheiligste, mit dem Altartisch, auf dem das Antimension liegt. Ebenso gibt es zwischen dem Priester und dem Laien nicht den Graben des Zölibats; der Küster steht dem Bauern noch näher, dagegen gehört der Diakon schon zur Geistlichkeit. Die Geistlichkeit spielt bei weitem nicht eine so große Rolle wie in der westlichen Welt. Der Hauptgrund dafür ist geographischer Art; die Pfarren auf dem Lande sind nicht zahlreich. Nicht selten umfasst eine einzige 20 bis 30 Flecken von 40 bis 50 Werst im Umkreis. So muss man häufig ohne den Priester auskommen. Im Gebiet von Olonec nimmt man ohne ihn Begräbnisse vor, und wenn es möglich ist, bringt man später das Leichentuch zu ihm, damit er es segnen kann. Die "Liturgie", die Messe, wird dabei durch Zeremonien innerhalb des Hauses ersetzt: Jedes Familienoberhaupt liest die Gebete und die Psalmen und beräuchert die Bilder mit Weihrauch.

So unterscheiden sich die Orthodoxen zwangsläufig nicht viel von den Altgläubigen ohne Priesteramt.

Ein weiterer Grund dafür, dass die Rolle der Geistlichkeit eine geringere ist, ist der Umstand, dass die Hirten zu nahe bei den Schafen sind: Es fehlt der für den Respekt notwendige Abstand. Es fehlt auch die geistige oder [S. 81] moralische Überlegenheit; und hier wäre der Zeitpunkt, um von der Trunksucht und dem Handeln und Feilschen um die Sakramente zu sprechen. Von hier stammen die geflügelten Worte, Erzählungen und beleidigenden Aussprüche, die auf einen tiefen Antiklerikalismus schließen lassen können. Es ist ein schlechtes Vorzeichen, beim Verlassen seines Hauses einem Priester zu begegenen; krumme Finger, lüsterne Augen: das ist der Pope; man muss versuchen, sich auf Erden gut zu verhalten, um nicht in der anderen Welt in der Nähe der Popen sein zu müssen. die Fasten des Petrusfestes wurden von Popen und Frauen erfunden (von den Frauen, um ihre Butter zu sparen,von den Popen, um ihre Kollekte zu bekommen). Man sollte diesen Bemerkungen und bissigen Aussprüchen nicht mehr Bedeutung beimessen, als ihnen der Bauer selbst zugesteht. Er liebt den Scherz, und übrigens fordern alle Völker mit Recht viel von denen, deren gutes Beispiel sie erwarten.

Man muss jedoch zu der Folgerung kommen, dass die russische Volksfrömmigkeit nur in sehr eingeschränktem Maße klerikal ist. Sie ist keineswegs an die Geistlichkeit gebunden. Niemals wird ein Bauer auf den Gedanken kommen, von der Kirche und den Sakramenten fernzubleiben, weil er seinen Priester als unwürdig erachtet. Niemals stellt die Unzulänglichkeit der Geistlichen seinen Glauben in Frage. Ebenso ist diese Frömmigkeit kaum an die Kirche gebunden, sondern zu ihrer Ausübung genügen gegebenenfalls die bescheidenste Betkapelle oder einfach das Wohnhaus. Oft kommt der Geistliche zu einer Segnung, einer Taufe oder zu einem dieser privaten Gebete ("moleben") - Dank-, Bittgebet oder einfach eine "Andacht" - ins Haus. Zu Hause kann das Familienoberhaupt in Ermangelung einer Kirche oder eines Priesters einen vereinfachten Kult zelebrieren. Dieser besondere Zug der Volksfrömmigkeit erklärt sich aus der dem Russen im allgemeinen eigenen Abneigung gegen absolute Ordnungen, Verbote, Vorschriften: Warum sollte es zwischen dem Göttlichen und dem Profanen eine undurchdringliche Scheidewand geben? Und das hat in der Praxis sehr wichtige Folgen gehabt: Da nämlich weder Kirche noch Geistlichkeit als unentbehrlich empfunden wurden, konnte sich die Frömmigkeit während der Verfolgungen, als die Priester verschleppt und die Kirchen zerstört oder in Geschäfte oder Kinos umgewandelt waren, erhalten. Es genügte, dass hin und wieder ein verkleideter Priester vorüberkam, um die Kinder der Gegend zu taufen, die Ehen oder die Stätten der Toten zu segnen.

Hieraus darf man keineswegs schließen, dass der russische Bauer geneigt sei, den öffentlichen Kult und das Priesteramt abzulehnen. Ganz im Gegenteil! Er liebt die "Kirchen des lieben Gottes", wo alles seine Seele und seine Sinne erfreut: die Glocken mit dem "Himbeerklang"14), die lebhaften Farben der Wände und die Harmonie der äußeren Linien, die kolossalen Darstellungen des Heilands und der Apostel unter der Kuppel, die Geschichten des Alten und Neuen Testaments auf den Säulen und der lkonostase, die Wärme der Kerzen, den berauschenden Duft des Weihrauchs, den gestickten Zierat, kurz: [S. 82] die ganze liturgische Pracht. Er liebt all dies und mehr noch den Gesang, wo die verschiedenen Klänge der menschlichen Stimme – ohne jedes Instrument – die höchsten und bewegendsten Gedanken preisen. Der Diakon muss einen tiefen Bass haben, um die Freudengesänge herauszubringen, und der Priester eine weiche und führende Stimme für die Worte des Mysteriums. Man braucht einen gut besetzten und gut eingeübten Chor. Das russische Volk besitzt in zu ausgeprägtem Maße ein Gefühl für das Schöne, um nicht die Liturgie besonders zu schätzen, diese einzige vollkommene Schönheit auf Erden. Liest man die Lebensgeschichte dieses oder jenes Heiligen, so bemerkt man die wichtige Rolle, die die Liturgie bei seiner Bekehrung gespielt hat: Man braucht hierfür nicht einmal bis zu den Gesandten Vladimirs zurückzugehen, die von den Zeremonien in der Hagia Sophia derart gefangen waren, dass sie sich fragten, ob sie noch auf Erden weilten. So sucht und mehrt das russische Volk auch die Gelegenheiten, diese Schönheit genießen zu können. Hier gibt es keine "stillen Messen"; alle Liturgien werden gesungen. Es hat die Feier des Abenddienstes beizubehalten, an Vorabenden von Sonn- und Festtagen; es feiert sehr zahlreiche Feste, Feste des Herrn, der Jungfrau, der Apostel, des Schutzpatrons, die in der Kirche sowie in der Dorfgemeinde feierlich begangen werden. Um ein geschehenes Wunder wieder ins Gedächtnis zu rufen, schafft eine Gemeinde neue Feste mit Gottesdienst, Prozession und Fröhlichkeit.

Aus der in kirchenslawischer Sprache abgehaltenen Liturgie ist dem einfachen Volk nicht alles verständlich, und es gibt keine Bücher, die sie ihm übersetzen. Aber das Slawische ist dem Russischen eng verwandt und hat ihm eine bedeutende Anzahl Formen, Wörter und Ausdrücke geliefert, sodass die wesentlichen Teile der Gottesdienste verstanden werden. So ist die Liturgie eine der wirksamsten Quellen des Glaubens (Credo), der Frömmigkeit (Pater noster), der Moral (Seligpreisungen, die bei der Göttlichen Liturgie gesungen werden), ohne noch die Schriftlesungen, die Hymnen und die besonderen Zeremonien der Heiligen Karwoche und des Osterfestes zu nennen. Und darum darf man keineswegs – es sei hier nochmals gesagt - von einem äußerlichen, leeren und rein ästhetischen Kult sprechen, ein weiterer Vorwurf, der von oberflächlichen Beobachtern oft ausgesprochen wird.

Das russische Volk weiß, dass es hinter den Riten und Gesängen einen Sinn gibt, eine Substanz. Wie sollte man sonst die Ehrfurcht und den Ernst erklären, mit dem man die Sakramente umgibt? Sobald ein Kranker die letzte Ölung empfangen hat, muss er sich – im Fall einer Heilung – als nicht mehr zu dieser Welt gehörig betrachten und als Mönch oder in der Abgeschiedenheit leben15).

Wenn die Beichte auch oft im Übermaß vereinfacht wurde – trotz des Rituals - sicherlich durch die Mängel der Geistlichkeit, so bleibt sie doch für die Teilnahme an der Kommunion verpflichtend. Die Kommunion wird außerdem eine Art Zurückgezogenheit, das "govenie" vorbereitet, die eine Woche hindurch Teilnahme am Kult, Nüchternheit, fromme Lektüre, kurz ein Bemühen um Vervollkommnung umfasst. Unter diesen Bedingungen  [S. 83] findet sie aber nur selten statt, z.B. während einer Fastenzeit, besonders während der Großen Fasten. Diese beginnen mit dem "Sonntag des Verzeihens": Am Vorabend, nach dem Gottesdienst, verneigt sich jedes Familienmitglied der Reihe nach vor dem anderen: "Verzeihe mir um der Liebe Christi willen" – "Gott verzeiht dir, und verzeihe du auch mir!" darauf umarmt man sich. Anschließend wiederholt ein jeder dieselbe Zeremonie bei Nachbarn, Freunden und Feinden.

Was zuerst Götzenverehrung zu sein schien, erscheint jetzt als eine Art Jansenismus. In Wirklichkeit bringt der fromme Russe der göttlichen Wesenheit eine Verehrung im Geist und in der Wahrheit entgegen, und an dieser Verehrung haben Körper, Sinn und Seele ihren Teil.

Die Werte und Tugenden

a) Das Verhältnis zu Gott

Der gläubige Russe ist nicht nur, so wie wir es gezeigt haben, vom Gefühl der Vorsehung durchdrungen. Er glaubt aus einem festen Glauben heraus. Ohne scholastisch festgelegt zu sein, ist dieser Glaube doch vernunftmäßig. Der Russe hat nämlich das Bedürfnis einer moralischen und sogar logischen Rechtfertigung seines Glaubens. Zum Beweis können wir die Sekten anführen, die durch dieses Bedürfnis zu verschiedenen Abweichungen geführt wurden; die religiösen Streitereien, die ein Genuss für das Publikum sind: Ich denke hierbei an das Lanzenstechen, das jedes Jahr am Svojetlojar See stattfand,16), und an die wöchentlichen Zusammenkünfte auf dem Platz der Erlöserkathedrale in Moskau17), verzweifelte theologische Untersuchungen, die wir hier und da in der Geschichte und in den persönlichen Bibliographien finden, und in denen man versucht, die Existenz des Bösen, die Dreieinigkeit, die Auferstehung der Toten und andere Mysterien18) zu verstehen. Dieses Bedürfnis ist völlig rechtmäßig verbunden mit einem tiefen Respekt vor der Natur des Mysteriums, das zu durchdringen dem Menschen nicht gegeben ist. In nicht weniger starkem Maße besitzt der gläubige Russe die anderen Kardinaltugenden, und an erster Stelle setzt er dabei seine Hoffnung nur auf Gott. Er kennt nicht diese Überheblichkeit des Okzidentalen, der Molinist ist, ohne es zu wollen, und der meint, durch seine eigenen Kräfte und seinen Willen zum Heil gelangen zu können. Niemand hat wie er das tiefverwurzelte Gefühl der Schwachheit der Natur, der Gewalt des Dämons, des Hin- und Hergerissenseins des Menschen zwischen dem Guten und dem Bösen und folglich die Notwendigkeit der Gnade. Diese Hilfe Gottes erwartet er mit Vertrauen, und so erwartet er auch die Herrlichkeit des Himmels, vorausgesetzt dass sein Wille sich dem nicht entgegenstellt. Dieses Vertrauen findet seinen Ausdruck in zahlreichen geläufigen Redensarten. Es ist die Erklärung für den tiefen Fall, wenn der Dämon der stärkere ist, und für die großen Bekehrungen, von denen die Literatur so viele Beispiele gibt.

Endlich ist Gott für den Russen. ein sehr nahes Wesen, das er wie seinesgleichen lieben kann, denn er vergisst niemals, dass der Mensch nach Seinem [S. 84] Abbild und zu Seinem Bilde geschaffen wurde. In der Person Christi ist Er - zwar in einem idealen Grade, aber doch sehr spürbar - ein Bewohner, ein Pilger auf dem russischen Boden: Eines Tages kann man ihm begegnen. Dieses Gefühl hat der Dichter Jessenin, ein Bauer aus Rjazan, beispielsweise in naiver Form ausgedrückt. Leskov hat geschrieben: "Christus auf Besuch bei dem Mužik".

Dieser Gott, an den man glaubt, auf den man hofft und den man liebt, wird angebetet. Und worin könnte sich die Anbetung besser zeigen als in einer völligen Übereinstimmung des menschlichen Willens mit dem Seinigen – also die vertrauensvolle Annahme der Weltordnung? Wenn einem ein Leid auferlegt ist, so muss man es, ohne zu jammern, tragen - erscheint es auch ungerecht, übermäßig, unverständlich. Die ersten Heiligen des russischen Volkes waren zwei junge, unschuldige Opfer, Boris und Gleb. Turgenev, ein Ungläubiger, hat recht gut in der Erzählung "Lebendige Reliquien", die später den "Aufzeichnungen eines Jägers" beigefügt wurden, die russische Resignation beschrieben. Das schlimmste Übel auf Erden ist der Tod; aber auch ihn muss man annehmen. "Durch einen Schiedsspruch Gottes hat er zu leben aufgehört" war eine übliche Formel. Tolstoj hat meiner Meinung nach diese Leichtigkeit vor dem Tode dadurch etwas verfälscht, dass er ihr eine naturalistische Färbung gab: Der Bauer starb beinahe ebenso einfach wie der Baum... Der Tod des Bauern ist nicht einfach, sondern sehr bewusst. Gäbe es sonst diese langen Vorbereitungen, das weiße Hemd, die "lapti" (Bastschuhe), ständig den Sarg im Hof und all die Riten? Nur wird der Tod angenommen als zur Ordnung Gottes gehörend. Die Verehrung umfasst auch das Gebet. Es ist reine Devotion, Danksagung und auch Bitte. Nikola Schipov, ein von seinem Herrn verfolgter Leibeigener, flüstert, als er 1844 aus dem Dorf flieht: "Allmächtiger Gott, gib mir Deinen Geist, erhöre meiner Seele Wunsch, wenn nicht für mich, so doch für meinen Sohn! Mein barmherziger Schöpfer, gib mir die Entschlossenheit und die Geduld, alles Unglück zu ertragen! Im übrigen: Dein Wille geschehe!" Er gerät in die Gefangenschaft der Bergbewohner des Kaukasus, entflieht, verirrt sich, hält an, um Atem zu schöpfen und murmelt mit halber Stimme: "Herr, bringe Deinen unwürdigen Diener fort von hier! Erlaube nicht den Feinden oder wilden Tieren, meinen unreinen Körper auf fremder Erde zu zerreißen! Gewähre mir die Gnade, vor Deinem Heiligen Grabe in Jerusalem stehen zu dürfen und dort Tränen der Dankbarkeit zu vergießen!" Und im Jahre 1940 schreiben Eltern ihrem Sohn, der als Soldat hinter der finnischen Frontlinie liegt,: "Möge Gott es gestatten, dass du dort bleibst, wo du bist! Möge Er dir das Glück zuteil werden lassen und Dich bis zu Deiner Rückkehr am Leben erhalten!"20). Dieses sind keine Formeln, sondern lebendige Gebete. Wohl kann man nicht behaupten, dass das Gebot des unaufhörlichen Gebetes vom ganzen gläubigen russischen Volk praktiziert wird, doch ist es eine Tatsache, dass die Formel, durch die es ausgedrückt wird, das Stoßgebet: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner!" nirgendwo anders eine so allgemeine Verbreitung hat. Ein Erbe der Mystiker des Athos, dann in den Einsiedeleien aufgenommen, war es im 17. Jahrhundert "das Gebet" schlechthin. Es hat, eben im Volke, der rationalistischen [S. 85] Welle standgehalten, die die Kirche im 18. Jahrhundert überflutete. Es hat die Anhänger des Nikon und die Altgläubigen vereint, und noch heute ist es beständig auf den Lippen frommer Menschen21).

Schließlich darf man sich nicht an Gott versündigen. Das russische Volk hat ein lebhaftes Empfinden für die Sünde. Dem, der eine unrechte Handlung gegeht, schleudert man entgegen: "Du fürchtest also Gott nicht!" - und dieser Satz bezieht sich weniger auf die in Aussicht stehende Strafe als auf die verletzte Heiligkeit Gottes und des Menschen - Seines Ebenbildes. Das Wort "Sünde" erscheint in zahlreichen Redensarten, wo man es eigentlich nicht erwartet. Da, wo wir sagen: "Das ist nicht recht... das schadet nichts... so recht und schlecht... warum es verbergen?" wird der Begriff der Sünde angeführt. Ein Sprichwort lautet: "Fürchte nicht die Knute, fürchte die Sünde". Hieraus folgt keineswegs, dass die Sünde immer vermieden würde, aber jedenfalls wird sie als solche erkannt und folglich verspürt man die Not der Reue, wodurch die Lehre der Erlösung aktuellen Gehalt bekommt. Das Herz des Volkes, das das menschliche Elend so bewusst empfindet, wurde von den Kapiteln des Neuen Testaments berührt, wo es heißt: Wo es einen Überfluss an Sünden gibt, da gibt es einen noch größeren Überfluss an Gnade, und es gibt mehr Freude im Himmel über einen reuigen Sünder als über neunundneunzig Gerechte, die der Reue nicht bedürfen [Lk 15,7].

Im "Idiot" ist die augenblickliche Reaktion der Bäuerin, die ein Kind zum erstenmal lächeln sieht, sich zu bekreuzigen und zu sagen: "Die gleiche Freude hat Gott jedesmal, wenn ein Sünder sich aus vollem Herzen im Gebet an ihn wendet"22).

Von hier aus lassen sich die bekannten Verkehrungen verstehen, die Korolenko seinem sibirischen Räuber in den Mund legt: "Die wahre Reue ist süß - Gott allein ist ohne Sünde, der Mensch ist von Natur aus sündig und rettet sich durch die Reue... ohne Sünde, keine Reue, und ohne Reue kein Heil." Hier haben wir, nach Meinung ihrer Gegner, die Lehre der Chlysten, die man auch Rasputin zuschreibt. Zweifellos aber Verkehrung, die in einem solchen Grade selten vorkommt, die aber notwendigerweise aus einem deutlichen Wissen um die Schwachheit des Menschen und die Gewalt der Reue, wie es zu wiederholten Malen - auch im Westen - merkbar wurde, entstehen muss. Man darf sündigen, sich dem Teufel überlassen, denn der Wille ist ein Nichts, und man kennt keinen Unterschied zwischen den Sünden: Das russische Volk katalogisiert nicht, es kennt nicht den Abgrund zwischen Tod und lässlichen Sünden, und selbst die Theologen machen diese Unterscheidung nur in der Nachahmung westlicher Handbücher. Im selben Kapitel des "Idiot" verkauft ein Soldat sein Kreuz, wobei er übrigens den Käufer noch betrügt, um zu trinken. Ein Bauer erwürgt kaltblütig seinen Freund, nicht aus Not, sondern aus einem Einfall heraus, weil seine Uhr ihm gefiel; vorher erhob er seine [S. 86] Augen zum Himmel und sagte: "Herr verzeih mir um Christi willen!". Gewiss handelt es sich um einen Roman, aber Dostojevskij erfindet nichts: Dies sind Berichte aus dem "Verschiedenen" der Zeitungen, die er als typische Fälle hat. Danach kommt dann die Reue, die Buße, die so absolut ist wie die Sünde. Bekannt ist der Typ des Kaufmanns, der einst bis zur Unmenschlichkeit auf Gewinn versessen war und der später alles weggibt und sich bis zur Bettelei erniedrigt: Fomas Gordejev von Gor'kij und viele andere in der Wirklichkeit. Die "Erinnerungen eines Missionars" bieten eine ganze Anzahl von Beispielen solcher großer Verbrechen, denen eine erhebende Bekehrung folgte. So spiegelt sich auch in der religiösen Sphäre der absolute Charakter des Russen wider. Der moderne Gläubige des Westens, der sich alle Mühe geben muss, um nicht der Meinung zu verfallen, alles hänge von seinem ordentlich gelenkten Willen ab, kennt diese Extreme des Falles und des Wiederaufrichtens nicht.

Das russische Volk verzichtet nicht auf seine Freiheit, weder in seiner Religion noch anderswo. Es rebelliert gegenüber genauen und scharf umrissenen Befehlen. Dem Verstand gegenüber ist es empfänglicher als [gegenüber] der Regel. Wohl will es Gott die Verehrung erweisen, die ihm zukommt, aber es versteht darunter nicht, dass man eine absolute Verpflichtung aus der Teilnahme an der Messe macht, wie die Römische Kirche es tut. Wenn der Russe auch eines außerordentlichen Asketentums fähig ist, so betrachtet er dennoch die Beachtung der Fastentage und Fastenzeiten als ein privates Gebiet. Um so weniger begreift er, dass eine Autorität die Auslegung eines Dogmas bestimmt oder das Verhalten eines Gläubigen zensiert. Es gibt einen Konflikt zwischen der Gemeinschaft der Gläubigen und der Kirchenhierarchie da, wo diese Anspruch erhebt, derartige Verdammungen, Bestimmungen oder Lehren aufzuerlegen. Als im 17. Jahrhundert rigoristische Pfarrer und Äbte ihnen strenge Gesetze vorschreiben zu müssen glaubten, waren die Gläubigen nahe daran, sie mit Gewalt zu vertreiben. Die im Laufe der Jahrhunderte vorgenommenen Verdammungen gegen apokryphe Bücher, zweifelhafte Zerstreuungen, gegen das mit zwei Fingern geschlagene Zeichen des Kreuzes, gegen die Narren in Christus, die Pilger, die nicht genehmigten Einsiedeleien wurden vom Gewissen des Volkes nicht angenommen.

b) Die Beziehungen zum Nächsten

Alles Voraufgehende lässt erraten, in welch starkem Maße das russische Volk vom Evangelium erfasst worden ist. Das Evangelium ist sein Buch. Es ist ein alter Brauch von Voronesch, den Töchtern als Mitgift ein Evangelium zu geben. Als der spätere Beichtvater Gogols, Vater Matfej, junger Seminarist war, wohnte er in einer Herberge und las jeden Abend den Kutschern aus dem Evangelium vor. Diese derben Männer hörten ihm mit Dankbarkeit und Rührung zu. In Sachalin baten um 1895 die Ex-Zuchthäusler in Haft ihren "politischen" Kameraden L. Sternberg, ihnen den Gottesdienst der Osternacht zu halten. Es sei ein großes Fest in der ganzen Christenheit und sie seien ausgestoßen wie die Tiere! Er wirft ein: "Aber ich bin Jude!" "Das ist gleich, du weißt in diesen Dingen besser Bescheid als irgendein Pfarrer." Er erklärt sich einverstanden und in der heiligen Osternacht liest er ihnen die Evangelien des Leidens und Auferstehens vor, die er selbst übrigens auswendig kann, und die ganze Zuhörerschaft [S. 87] bricht in Schluchzen aus23). Man kennt das Evangelium aus der Schule her, aus Büchern in slawischer oder russischer Sprache, aus der Predigt und aus den Auszügen, die im Gottesdienst gelesen werden. Aber zusammengefasst ist es in den Seligpreisungen enthalten, die der Chor jeden Sonntag in der Liturgie singt: hier ist der Kern des Christentums, hier das göttliche Paradox, hier findet das russische Volk den Gegenpol, der es der Welt und ihrem Elend enthebt. Als Peter I. in seiner Leidenschaft für materielle Größe die alte russische Frömmigkeit vernichten wollte, beauftragt er den ihm ganz und gar ergebenen Feofan Prokopovich, über die Seligpreisungen zu schreiben, mit dem Ziel, sie unschädlich zu machen.

Nach den "Geistlichen Gedichten" sind die Sünden, die in der Hölle am härtesten bestraft werden, Vergehen gegen die Barmherzigkeit (caritas), Diebstahl, Raub und Mord, aber auch Wucher, Verleumdung, üble Nachrede. In seiner Einleitung zu "Mein Leben" erzählt Ch. Salomon, ein Kutscher von Peterhof habe ihm kurz vor der Revolution anvertraut. "Meiner Meinung nach gibt es nur eine einzige Sünde." "Und welche?"' "Seinen Nächsten zu richten."24) Ein Sprichwort sagt: Aus harten Herzen ist die Hölle gebaut. Im täglichen Leben sind Grausamkeit, Habgier, Geiz, Ungerechtigkeit und egoistische Berechnung die härtesten Vorwürfe.

Der Mensch ist nicht allein. Er hat Brüder, und er schämt sich nicht, sie bei diesem Namen zu nennen: bratcy, brat. Diese Brüder sind ebenso achtbar wie er selbst, und alle diese Brüder sind Menschen. Sicherlich wird man in bestimmen Augenblicken diese oder jene Kategorie ausschließen: die Nicht-Orthodoxen, die Nicht-Russen oder die "Feinde". Aber das entspricht keineswegs dem in jeder russischen Seele tief verankerten Gefühl der menschlichen Gemeinschaft.

Hieraus ergibt sich ein Interesse für alle Menschen, für ihr Leben, ein Mitgefühl für ihr Unglück, einen Verständnis für ihre Meinungen, selbst auf religiösem Gebiet. Der Händler von Tver', Afanasij Nikitin, hegte, als er im 15. Jahrhundert nach Indien reiste, nicht die geringste Feindseligkeit gegen Tartaren und Muselmanen. Der aufgeklärte Publizist Pryjov befand sich 1861 in einem Dorf in der Provinz Moskau, und zwar während der Passionszeit, am Ostersonnabend, wo es üblich ist, strengste Fasten zu halten; er verlangte Eier, weißen Käse und Sahne, und man bediente ihn ohne den geringsten Vorwurf oder die mindeste Anspielung25). Orthodoxe und Altgläubige kommen gut miteinander aus; Verfolgungen werden allein von den Autoritäten angestrengt. Unser Archimandrit Spyridon, der Missionar von Sibirien, hütet sich bei seinem Besuch der Hagia Sophia sehr wohl, sein Bedauern darüber auszusprechen, dass es heute eine Moschee ist. "Eine Moschee ist auch ein Tempel Gottes". All dies ist keineswegs diese gemeine und verlogene Toleranz, die das Jahrhundert Voltaires erfand und die auf Verachtung oder Skeptizismus beruht, sondern ein echter Respekt vor dem Nächsten einerseits und andrerseits auch ein Respekt vor Gott, der allein die Herzen ergründet und die Seinen kennt.

[S. 88] Die kostbarste Tugend in den Augen des Volkes ist das Mitleid, das man "žalost'" nennt. Es ist nicht ausgesprochen russisch, denn der heilige Isaak der Syrer definiert es: "Ein Entflammen des Herzens für die ganze Schöpfung, für die Menschen, die Vögel, die Tiere, die Dämonen und alle Kreatur. Bei der Erinnerung an sie und bei ihrem Anblick vergießen die Augen Tränen. Das Herz wird weich von dem großen und lebhaften Mitleid (žalost'), das es ergreift. Den geringsten Schaden oder Kummer, den eine Kreatur erleidet, kann es weder ertragen, noch hören und sehen" [syr. h. 74; griech. h. 81; russ. h. 48].

Aber diese universale und bewegte Barmherzigkeit wurde gerade vom russischen Volk so gut verstanden! Der junge Spyridon hat "Mitleid mit den Toten und den Lebendigen, Mitleid mit allen Menschen ohne Unterschied der Nationalität, der Religion, des Alters oder des Geschlechts". Tschechov hat seinen Bauern (mužik) nicht geschmeichelt, und doch war er gezwungen, das bei ihnen anwesende Zartgefühl des Herzens zu bemerken: Als sie im Matthäus-Evangelium die Geschichte von Herodes hören, der das neugeborene Kind sucht, um es zu töten, brechen Olga und Maria, die Schwester Ivan Markaritschs, in Tränen aus, und alle Nachbarn sind ergriffen und zufrieden. Er ironisiert zweifellos und findet dies lächerlich. Die Feststellung jedoch hat dadurch nur um so mehr Gültigkeit.

Wenn es sich nicht mehr um ferner stehende Brüder, sondern um der konkreten Nächsten handelt, findet die "žalost'" ihren Ausdruck in der Aufnahme, die man einem jeden, der sie begehrt, bereitet: eine vertrauensvolle und weite Gastfreundschaft; ferner in dem Verständnis für das, was nottut; in der Teilnahme an den Schmerzen; in den Almosen, die man den Bettlern gibt, nicht hochmütig und hart, sondern mitfühlend, nach der Weise des Evangeliums. Alle Gleichnisse sind im Gedächtnis gegenwärtig, Lazarus und der hartherzige Reiche, das "Selig sind die Armen" und das jüngste Gericht.

"Selig sind die Barmherzigen!" [Mt 5,7] Im "Toten Hause" berichtet Dostojevskij, dass an den Festtagen (d. h. an den religiösen Feiertagen) die Strafgefangenen, die gewöhnlich hart und brutal sind, ihre Streitigkeiten und Beleidigungen beenden und ohne Zankerei die von draußen kommenden Almosen teilen und freundlich und zuvorkommend gegeneinander werden: "Eine Art Freundschaft schien unter ihnen zu herrschen." Und sogar mit ihren Wärtern wechselten sie Festtagswünsche.

Man hat das Fehlen dessen, was man Ehrgefühl nennt, in Russland bemerkt und oft bedauert. Das Duell existierte nicht: Es kam erst mit den westlichen Moden nach dort. Man fand, dass die Menschenwürde wenig beachtet wurde, selbst in den höheren Klassen: körperliche Züchtigung trafen lange Zeit Adlige wie Bürgerliche; niemand schämte sich, sich betrunken zu zeigen oder ein Schmarotzerleben zu führen...

Aber die Grenze zwischen Würde und Hochmut ist unscharf; nicht die Würde als solche und noch weniger die Ehre sind Tugenden, die das Evangelium lehrt; nicht von diesem Gesichtspunkt aus kann man Trunkenheit oder Schmarotzertum verwerfen. Das russische Volk hat nicht vergessen, dass ein Elender mit demütigem Herzen in Christi Augen mehr wert hat als ein gerechter Hochmütiger oder Ehrgeiziger. Dies Volk versteht die Selbstsucht schlecht. Es gelingt ihm nicht, mit seinem Verständnis des Christentums den Wunsch, der Erste zu sein, zu verbinden: es begreift diese geschickte und [S. 89] trügerische Verdrehung der Dinge, nach der man seinesgleichen befehlen will, um ihnen zu dienen, nicht gut. Dagegen hat es eine Vorliebe für die Demut. Das ist die Eigenschaft, die es bei seiner Geistlichkeit finden möchte und die es bei seinen Heiligen bewundert. Vasilij Rosanov, ein Autor, der trotz seiner Sonderlichkeiten sein Volk gut gekannt hat, sagt, eine jede Nation habe ihren Ideal-Heiligen, der ihre beste und höchste Tugend verkörpert. Für Russen heißt diese Tugend Demut. Sie verbirgt eine höhere Schönheit: "Sie scheint ein wesentlicher Bestandteil unserer Heiligkeit zu sein"26).

Die Demut ist ein so charakteristischer, ihm so oft zur Last gelegter und so beständiger Zug des russischen Christen, und kein anderes Volk hat so wenig an seiner Regierung teilgenommen wie dieses. Die Slawophilen zogen daraus vielleicht zu weitgehende Konsequenzen, aber die Tatsache bleibt darum doch bestehen. Sowohl unter dem alten Regime als auch seit der Revolution war der Anteil der Nicht-Russen an den führenden Stellen immer beachtlich; nicht weil den Russen die geistigen Fähigkeiten gefehlt hätten, diese Posten auszufüllen, sondern weil sie es moralisch gar nicht wollten.

Dagegen zeichnen sich die Russen dort aus, wo die Gleichheit bewahrt bleibt: in der Gemeinde, in der Zusammenarbeit und in Versammlungen aller Art. Man muss dies unbedingt als eine Folge ihrer Auffassung sehen.

Die Demut soll sich in der äußeren Einfachheit ausdrücken. Das russische Volk liebt den Anblick liturgischer Pracht, aber an seinen Pfarrern verehrt es die Einfachheit im Äußeren, in den Manieren, im Sprechen und im Denken. Dies Volk hat den Predigtstuhl nicht erfunden; es hört nicht so gerne zu. Seine glanzvollsten Zeremonien scheinen uns gerade an dem Fehlen des Zeremoniellen zu kranken. Mit noch mehr Nachdruck fordert der Russe das Natürliche in den menschlichen Beziehungen, die "friedliche Einfachheit", wie es Leskov irgendwo nennt.

Demut, Ablehnung des Urteilens, Achtung vor dem anderen, Mitleid – das alles, so könnte man sagen, sind passive Tugenden. Und einige Philosophen folgern hieraus, der russische Charakter sei weiblich.

Jedoch gibt es einen Begriff, auf den das russische Volk ganz besonderen Wert legt: den der Überwindertat (podvig). Es gibt überall da podvig, wo man den schwierigsten Weg wählt, wo man über sich selbst triumphiert, in welchem Maße und auf welcher Stufe das auch geschehe. Podvig ist das christliche Heldentum, das bei der aufmerksamen Ausübung der einfachsten Pflichten beginnt, weiterführt zum Asketentum und beim vollkommenen Opfer endet. "Es gibt keine größere Liebe als sein Leben zu geben für seine Brüder" [Joh 15,13], danach wird in Russland auch gehandelt. Eine 70jährige Njanja (Kinderfrau), die das ihr anvertraute Kind vor einem in höchster Geschwindigkeit herankommenden Gespann retten will, springt herbei, bringt es zu Fall und wirft sich auf es: Sie wird überfahren und von den Pferden tot getreten 27). Aber nicht das ist typisch russisch. Vielmehr ist es das Bewusstsein, dass das Evangelium da ist, um in die Tat umgesetzt zu werden, sowohl im privaten Leben als auch im gesellschaftlichen. Der Russe mehr als jeder andere ärgert sich an dem Widerspruch zwischen Lehre und Handeln. Er erkennt den Unterschied zwischen Vorschriften und Ratschlägen kaum an: wäre das nicht eine Sophisterei?

[S. 90] Eine Kaufmannsfamilie, die dem beschriebenen Typ ziemlich entspricht, die moralisch unbeständig ist, der besten und der schlimmsten Handlungen fähig, hat einen Jungen, dem man die Moral der Bergpredigt beigebracht hat. Lange widersetzt er sich, und im besonderen ist er hart gegen die Armen; dann wird er bekehrt. Als eines Tages ein sehr armer seiner Kameraden mangels eines korrekten Anzugs vom Gymnasium verwiesen wird, gibt er ihm seine Uniform. Seine Kameraden bewundern ihn. Aber zuhause bekommt er Peitschenhiebe. Seine Njanja, die ihn versteht, verteidigt ihn: Man wirft sie hinaus. Das bestürzte Kind geht in seiner Erregung zum Anstaltsgeistlichen: "Christus hat gesagt...". Der Geistliche weist ihn hart ab: "Gehorche deinen Eltern, bitte sie um Verzeihung und tue es nicht wieder!". Von dem Tage an wird er nachdenklich, arbeitet nicht mehr, irrt wie ein Narr umher und stellt allen die gleiche Frage: "Ich habe das getan, was sie mich gelehrt haben, und sie haben mich geschlagen. Warum?" Eines Morgens geht er fort zum Baden und kehrt nicht zurück; man kam zu dem Schluss, er sei die jähe Uferböschung hinabgefallen. Aber beim Begräbnis beugte sich die Njanja bis zur Erde zu dem Leichnam und sagte: "Die Sünde liegt auf seinen Eltern. Er hat sich absichtlich ertränkt. Er konnte den Widerspruch nicht ertragen. Man lehrte ihn dies und man tat jenes. Man spricht wie Gott, aber man handelt wie Satan. Das hat seinen Kopf verdreht und seine Seele krank gemacht"28).

Dieses Kind mit seiner Njanja ist das russische Volk gegenüber dem Staat und seinen Institutionen. Die Bibel hat gesagt: "Du sollst nicht töten..." und der Staat tötet und schickt in den Krieg. Das Evangelium lehrt: "Richtet nicht. Liebt euch untereinander. Haltet die andere Wange hin. Unglück über die Reichen!" Und der Staat unterhält Gerichte, wirft Menschen in Gefängnisse, verteidigt die Reichen gegen die Armen. Andere Völker unter einem anderen Himmel nehmen diese Widersprüche leichten Herzens hin. Aber das russische Volk hat die christliche Lehre ernst genommen. Es weiß, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist. Aber es weiß auch, dass es schon auf dieser Erde ein bestimmtes Königreich aufzurichten, nach einer Gerechtigkeit und einer Wahrheit zu streben gilt, und nach dieser "pravda" dürstet es. Handelt es sich um seine eigene Person, so ist der Russe mild, demütig und unterwürfig. Aber wenn es sich um seine Brüder, d.h. um die soziale Gemeinschaft handelt, so wird er zur Revolte fähig, kann das Recht gewaltsam fordern, kann leugnen, verachten und eines Tages das, was sich der Verwirklichung seines religiösen Ideals entgegenstellt, niederwerfen. Aus diesem Grunde gibt es in diesem Volk die zahlreichen Wahrheitssuchenden (pravdoiskateli), die den modernen Westen in Erstaunen versetzen; jene, die sich einfach ihrer Aufgabe widmen, solche, die Ungerechtigkeit kränkt, solche, die diese Welt des Antichristen verlassen und umherirren; jene, die einer vollkommenen Kirche auf der Spur sind, bis zum geheimnisvollen und unauffindbaren Land der Weißen Gewässer hin; solche, die Gesetzen und Polizei Trotz bieten, um der Menschheit zu dienen; die, die aus der Revolution ein modernes Christentum gemacht haben, die Millionen, die 1917 glaubten, eine Welt ohne Krieg und Unterdrückte zu begründen... Dieser Aspekt der russischen Religion, den manch einer als antisozial, anarchisch, revolutionär bezeichnet und der sich doch ganz natürlich vom Evangelium und von der Bibel herleitet, wenn man die Botschaft [S. 91] mit einem aufrichtigen Herzen vernimmt, ist charakteristisch und bemerkenswert.

In gutartiger Form äußert sich dieser Zug in der Haltung des Volkes gegenüber den Verurteilten. Für den Positivisten oder den, der dem Namen nach ein Christ ist, ist der Verurteilte ein Verbrecher, und der Verbrecher ist kein Mensch mehr; für das russische Volk, das christlich und ohne allzu großen Respekt vor den sozialen Einrichtungen ist, bedeutet "verurteilt" nicht notwendigerweise "schuldig", und das Verbrechen ist nicht das Böse im absoluten und definitiven Sinn, sondern eine Sünde, die nach Verzeihung verlangt,sei sie auch noch so schwer. "Auch der Mörder verbringt nicht seine ganze Zeit mit Töten, er lebt und er fühlt, was auch die anderen Menschen fühlen", erklärt Korolenko auf Grund seiner Erfahrungen in Gefängnissen und Etappenorten29). Diese Sympathie der Einfachen für die "Unglücklichen" d.h. für die Verurteilten, ist keine Legende, sondern eine hundertfach bezeugte Wirklichkeit. In Sibirien, wo die Menschen hart sind, "gibt es keine Geschäftsfrau oder keine Bürgerin der Stadt, die nicht den Sträflingen irgend etwas zu Weihnachten geschickt hätte", erklärt Dostojevskij. Auf das Fensterbrett stellt man Töpfe mit Grütze und sogar Filzstiefel für entfliehende Zuchthäusler. In Moskau gehen Kaufleute zu Fuß von ihrem Hauptviertel jenseits der Moskva ganz bis nach Rogoza, um den Häftlingen, die deportiert werden, ihre Almosen zu geben. 1866 wurde der Sergeant Schibunin arretiert, weil er seinen Kapitän geschlagen hatte. Die Bauern brachten ihm unermüdlich abwechselnd einen Topf mit Milch, Roggenkuchen, Eier, ein Stück Leinwand. Bei seiner Erschießung fällt die Menge auf die Knie und singt Bittgesänge. Auf sein Grab wirft man Kerzen, Groschen und man hält Totengedenken bis zu dem Tag, an dem der Polizeikommissar jede Annäherung untersagt30). 1915 begegnet M. Paléologue in Petersburg vier Soldaten, die einen zerlumpten und sich in sein Schicksal ergebenden armen Teufel ins Gefängnis führen; plötzlich nähert sich eine Frau aus dem Volke und reicht dem Gefangenen ein kleines Münzstück, wobei sie sich bekreuzigt. Die Soldaten "verlangsamen ihren Schritt und treten beiseite, um sie gewähren zu lassen".31) Während des Krieges 1914 brachten die Bauern den deutschen und österreichischen Gefangenen zu trinken und zu essen an die haltenden Züge. Für das gläubige Volk ist der Staat mit seinen Gerichten, Züchtigungen und Grausamkeiten eine sehr relative Macht im Vergleich zu den Lehren des Evangeliums. Es tadelt ihn nicht, da er die von Gott geduldete Ordnung ist; aber ohne sich weiter um ihn zu kümmern, tut der Russe, was er als Christ tun muss.

Ist es wohl die von Gott gewollte Ordnung? In Wirklichkeit ist das gar nicht so sicher. Der Widerspruch zwischen Staat und Evangelium ist zu groß. Die Kirche ist an den Staat gebunden, nur zu oft bemerkt man dies. Sowohl von moralischer als auch von dogmatischer Seite entstehen jetzt Ärgernis, Zweifel, Nachforschungen, Sekten. Von daher erklärt sich z. B. der Erfolg der Duchoborzen ("Geisteskämpfer"), der Anhänger Tolstojs, der [S. 92] Evangeliumschristen, der Stranniki, der Abstinenzler und vieler anderer, die Pässe, Steuern und Militärdienst ablehnten.

Man darf nicht vergessen, dass die Revollution von 1917 von seiten der Soldaten und Bauern, die sie gemacht haben, eine Bewegung christlicher Entrüstung gegen den Staat war. Eine Revolution gegen den Krieg, den absurden und nicht zu rechtfertigenden, im Namen der Devise, die vom ersten Tag an auf den Fahnen der Revolutionäre stand und die eine liturgische Formel ist: "Friede der Welt (miru mir)!" Eine Revolution gegen die soziale Ungerechtigkeit im Namen der Devise, die die erste Verfassung bestätigt hat und die von Paulus stammt: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" [2 Thess 3,10]. Eine Revolte gegen die künstlich geschaffenen Ungleichheiten, die Unterscheidungen von Klassen, die inhaltsleeren Titel im Namen der christlichen Devise der Bruderschaft. Weil die Revolution aus christlicher Inspiration geboren war, war sie auch universell.32) Die Priester gehörten ihr an. Die Besitzenden beugten sich vor ihr, da sie nicht so sehr von der Rechtfertigung ihres Besitztums überzeugt waren. Wer stellte sich ihr also entgegen? - Die Kreise, die von westlichen Ideen durchdrungen waren, Anbeter des Staates, der Nation oder des Gesetzes, die sich wenig um das Christentum kümmerten, kurz: die Intellektuellen und ihre Partei, die KDN (Abkürzung der Konstitutionell-Demokratischen Partei) und die berufsmäßigen Diener des Regimes, hohe Würdenträger, Offiziere, Polizeibeamte. Die Einstimmigkeit des Volkes wurde erst gebrochen, als die christliche Inspiration der Revolution in steigendem Maße durch den wachsenden Einfluss der Parteien, die sich auf völlig andere Doktrinen beriefen und völlig andere Ziele im Auge hatten, verdrängt wurde.33)

So findet das evangelische Christentum des russischen Volkes auf sozialer und politischer Ebene seine Fortsetzung und ist in der Lage, im gegebenen Augenblick nicht mehr passive, sondern schlechthin explosive Formen anzunehmen. 1917 hat sich der alte kosmische und apokalyptische Hintergrund der russischen Religion gezeigt: eine neue Welt schaffen! Später haben ihre anderen Aspekte, Unterwürfigkeit und Duldung, wieder die Oberhand gewonnen. Wie hat dieses fromme Volk seine Kirchen schließen und zerstören, seine Ikonen und Reliquien schänden und seine Priester verhaften und hinrichten lassen können? Manchmal hat es sich widersetzt, aber meistens ist es vor der Gewalt gewichen. "Lasst den Zorn Gottes walten" [Röm 12,19], hat Paulus gesagt. Das russische Volk hat alles zugelassen, alles ausgeliefert. Es schien, als hätte es seinen Glauben verleugnet34). Aber in der Stille und äußerlichen Unterwerfung hat es sich so manch einfallsreiches Verfahren bewahrt: als Reisende verkleidete Priester, geheime Mönchsgelübde, kollektive Taufen, aufgeschobene Lossprechungen, die auf der von Gräbern herbeigetragenen Erde stattfanden. [S. 93] Wenn es sein musste, so nahm man das Martyrium an, man widersetzte sich nicht. So wechseln aktive und passive Tugenden miteinander ab und verknüpfen sich. Die Religion des russischen Volkes ist keineswegs einfach, auch nicht arm und nicht dumm.

Höhere Typen der Frömmigkeit

Bis hierher haben wir die allgemeine und alltägliche Frömmigkeit betrachtet. Es gibt aber bestimmte Erscheinungen, die, obwohl weniger banal, doch nicht weniger charakteristisch für die Volksreligion sind.

Hierher gehören die Pilgerfahrten. Es handelt sich nicht um bequeme und schnelle Reisen mit der Eisenbahn, die von Reisebüros zu Pauschalpreisen organisiert werden. Ein Bauer oder eine Bäuerin, gleich welchen Alters, empfinden eines Tages das Bedürfnis, sich von ihren weltlichen Banden, Lasten, Interessen, Sorgen, Zuneigungen zu lösen, um die Seele zu befreien. Der Bauer bricht auf, mit seinem Stock und seinem Brotbeutel, natürlich zu Fuß und begibt sich zu den ihm bekannten heiligen Stätten. Vielleicht ist dies eine benachbarte Einsiedelei, wo ein verehrter Asket wohnt, der in den Herzen liest, Trost und Rat spendet: ein Starez, wie man ihn nennt. Unser Pilger hält sich eine Weile dort auf und kehrt dann, geistig erneuert, zurück; oder er setzt auch seine Wanderung fort und macht eine Rundreise zu den Einsiedeleien der Gegend. Manchmal ziehen sich diese Pilgerfahrten zur Befreiung der Seele über Monate hin: man geht nach Suzdal', zur "großen Stadt" Rostov, zum Kloster des hl. Sergij, nach Sarov, Valaam und auf die Insel Solovki im Weißen Meer; man pilgert zu den Heiligen Stätten von Novgorod, von Moskau oder von Voronež; man begibt sich gen Süden zur Lavra von Kiev (Höhlenkloster), wo in den langen Höhlengängen des Felsens Hunderte von Heiligen-Leibern ruhen. Hier kann man in den Kirchen, im Refektorium, von den Anlagen und Terrassen oberhalb des Dnepr aus diese Tausende von jungen und alten Männern und Frauen sehen, die unaufhörlich aus allen Ecken Russlands herbeiströmen, von ihren täglichen Pflichten befreit, in ihren langen Kaftanen und den bestickten Hosen. Die einen sind vertieft ins Gebet, die anderen genießen die göttliche Schönheit der Landschaft, oder sie singen "Lazarus", "Aleksej, der Mann Gottes" und die anderen "geistlichen Gesänge", um ihren Unterhalt zu verdienen. Eine solche Konzentration der russischen Volksfrömmigkeit ist ungeheuer ergreifend. Nichts zeigt uns auch besser, was die großen Pilgerfahrten des Westens eigentlich hätten sein sollen!

Aber für den Pilger gibt es noch ein ferneres und schwieriger zu erreichendes Ideal: die heiligen Stätten von Konstantinopel, den Berg Athos und Palästina, alle die recht eigentlich heiligen Orte, von denen im Evangelium und in den Leben der Heiligen beständig die Rede ist. Zu diesem Ziel muss man sich in Gruppen zusammenfinden, das Schiff nehmen, eine rauhe Überfahrt ertragen, die Gefahren möglicher Krankheiten auf sich nehmen und das immer in absoluter Armut. Vogüé hat mit Bewunderung diese russischen Pilger gesehen, die "eine Flamme echten und grenzenlosen Glaubens beseelt". "Und", so fügt er hinzu: "viele halten ihre Pilgerfahrt in Jerusalem noch nicht für beendet und gehen weiter bis zum Berg Sinai. Sie bieten Ermüdung [S. 94] und Elend von monatelangen Märschen in den arabischen Wüsten Trotz, um die Felsen, die Mose berührt hat, zu küssen"35)

Und das ist dann eine Überwindertat (podvig), nach der man sich ein Leben lang sehnt und nach deren Ausführung man sterben kann. Nun waren diese "podvižniki", diese Helden, nicht nach Gruppen zu zehnt, sondern zu Tausenden jedes Jahr zu zählen. manchmal gibt es eine richtige Aufbruchsepidemie. Von Staryj-Oskol (Provinz Kursk) konnte man zweimal, gegen 1830 und 1850, Söhne von Kaufleuten in Gruppen von 15 oder 16 zum Berg Athos aufbrechen sehen; mehrere von ihnen blieben dort.

Die "Erinnerungen" des Missionars sowie die "Erzählungen eines Pilgers" bezeugen den bedeutenden Platz, den die Pilgerfahrten in der russischen Frömmigkeit einnehmen. Man kann sogar sagen, dass diese Art der Devotion bis zu den höheren Klassen hinauf gebilligt und geübt wurde. Zu Beginn des 19 Jahrhunderts verbrachten viele Grundherrn den Sommer damit, sich von einem Kloster zum anderen zu begeben.36) Und der gelehrte Philologe Nevostruev ging jedes Jahr zu Fuß mit dem Bettelsack und dem Stock von Moskau zum Dreifaltigkeitskloster des hl. Sergij.37) Aber nicht jeder hat die Möglichkeit und den Willen, seine Familie, seine Güter und seine Bequemlichkeit zu verlassen, um die Pfade des Heiligen Russland zu durchmessen. Doch mindestens empfindet man für den, der diesen Mut aufbrachte, Bewunderung und Achtung. Als Gogol und Maximovitsch in der Richtung der berühmten Einsiedelei Optina-Pustyn' wanderten, wollten sie einer jungen Bäuerin einen Korb Erdbeeren abkaufen, den sie auf dem Markt loswerden wollte. Aber sie gab ihnen die Früchte und sagte: "Wie würde ich von Pilgersleuten Geld nehmen?"

Wenn das befristete Verlassen seines Hauses ein erster Schritt auf dem Wege der spirituellen Vervollkommnung ist, wäre es dann nicht noch besser, sich auf dauernde Pilgerreise zu begeben? So gibt es einen höheren Typ der Frömmigkeit, den Stand des Wanderasketen oder Strannik. Wir haben davon eine sehr anschauliche Darstellung in den "Erzählungen eines Pilgers". Der Wanderasket wurde oft durch besondere Umstände zu dieser Lebensform geführt. Ein angeborenes oder erworbenes Gebrechen hat ihn für schwere Arbeiten untauglich gemacht; ein Ereignis, wie der Tod seiner Frau, eine Feuersbrunst oder eine Vision, die ihm den Auftrag gab, haben ihn von seinem Besitz getrennt. Mehr bedarf es nicht, und sein meditativer Geist, seine fromme Seele reißen ihn mit. Als seinen einzigen Besitz nimmt er ein langes Gewand, eine Kappe, einen Bettelsack mit Brotrinden mit sich und geht fort. Er wandert, wie die Pilger, von denen wir schon gesprochen haben, von Kloster zu Kloster, aber unbestimmt und ohne den Gedanken an eine Rückkehr. Überall trifft er auf Gastfreundschaft. Als Gegendienst verrichtet er kleine Arbeiten oder er spricht auch nur. Er berichtet erbauliche Erinnerungen, beschreibt die Wunder der heiligen Stätten, das Tun der Asketen, er [S. 95] bringt die Menschen zum Nachdenken und reißt seine Gastgeber aus ihrem täglichen, irdischen Leben. Wenn er lesen kann und sie nicht, liest er ihnen das Evangelium, die Wüstenväter oder die Heiligenleben vor. Sein Besuch ist ein Fest, ein Wunder und später eine belebende Erinnerung. Russland wurde von Nord nach Süd und von Ost nach West von Tausenden dieser Pilger durchstreift.

In Ržev empfing Vater Matfej jeden Tag einige von ihnen, manchmal bis zu vierzig. Tolstoj hat sie gekannt und geliebt. Bunin hat sie beschrieben, Schaljapin hat sie häufig besucht. Der Bauerndichter Jessenin berichet, dass das Haus seiner Großmutter immer voll von diesen Pilgern, Pilgerinnen und Krüppeln gewesen sei, die in den Ortschaften Legenden und Klagelieder gesungen hätten38).

Eine solch ungeheuer wichtige und fromme Rolle spielten also die Wanderasketen. Die Großzügigkeit des Volkes im Hinblick auf sie begünstigte – natürlich – Missbräuche: Es fehlten nicht die falschen Pilger, deren einzige "Berufung" Faulheit und Bettelsucht waren. Das aber gehört nicht zu unserem Thema. Sie waren jedoch für Positivisten und Behörden ein guter Vorwand, diese Form der Frömmigkeit schlechthin zu verfolgen.

Ein Leben ohne Haus und Herd befriedigt aber nicht jedes Verlangen nach Vollkommenheit. Es kann schließlich sogar noch seine Reize haben. Eine wollen diese durch besondere Bußübungen ausschalten. Sie wanderrn mit Gewichten beladen, Steine in ihrem Brotsack oder mit Ketten um den ganzen Körper. Das christliche Altertum hat, besonders in Syrien, die Eisenträger (Siderophoren) gekannt. Die russische Frömmigkeit versäumte nicht, einem deratigen Beispiel zu folgen. E.M.Vogüé hat in Jerusalem "ein enormes Kreuz aus Roheisen, das mindestens 18 oder 20 Pfund wog" gesehen, "das man an dem Hals einer alten Frau fand, die im russischen Krankenhaus dieser Stadt gestorben war. Die Unglückliche war zu Fuß von Jaffa mit diesem merkwürdigen Büßerkleid gekommen, das sie seit Jahren trug." Die Eisen wurden "verigi" genannt.

Der "podvig" geht jedoch noch weiter. In Syrien, der Heimat aller religiösen Exzesse, hatten die Christen der ersten Jahrhunderte die Worte des Apostels: "Die Torheit Gottes ist weiser als die Weisheit der Menschen... [1 Kor 1,25] Wir sind töricht um Christi willen... [1 Kor 4,10]" wörtlich genommen, und es kam zur Erscheinung der "Saloi". Welch’ eine Tat könnte verdienstvoller sein als die, auf das, was das Besondere und Eigene des Menschen und seines Hochmutes ist, nämlich den Verstand, zu verzichten und als Narr zu gelten, um den höchsten Schimpf zu ernten, in die abgrundtiefste Erniedrigung zu fallen, freiwillig, um Christi willen? Sobald sie bekehrt sind, ergreift das Verlangen der Nachfolge die Russen: In Kiev gab es freiwillige Narren, die "Jurodivye", und dieses Phänomen verschwand nie mehr; die Narren verbreiteten sich darauf in Moskau, sie hielten den Verfolgungen der Zivilbehörden, den Verdammungen der aufgeklärten Prälaten des 18. Jahrhunderts, der entrüsteten Verachtung der intellektuellen Gesellschaft und der "Kulturpropaganda" der Sowjets stand. Sie sind noch heute vorhanden. Sie irren, ebenfalls mit "verigi'" und Eisenmützen, in lächerliche Lumpen gekleidet oder beinahe nackt, umher, betteln, wälzen sich im Schlamm, erregen Spott und bekommen [S. 96] verletzende Worte zu hören, reizen zu grotesken und gehässigen Handlungen. Sie haben Empfindlichkeit und Eigenliebe in sich getötet. Sie erregen Skandal und haben vor nichts Respekt. Sie scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Man verachtet und bewundert sie, und man erkennt ihnen außergewöhnliche Fähigkeiten zu: sie lesen in den Herzen, sie sehen in die Zukunft. Ihre unbedeutendsten Äußerungen versucht man auszulegen. Einst spielten sie auf diese Weise eine Rolle in der Politik: sie geißelten die Mächtigen. Iwan der Schreckliche ließ einen Metropoliten hinrichten, aber er nahm die Schmähung eines Jurodivyj hin.39). Heute sind sie die Beichtväter des Volkes. Der Jurodivyj befindet sich überall. Ein Jurodivyj von Kursk bildete den späteren Serafim von Sarov aus. Ein Jurodivyj, ein ehemaliger Pilger aus Palästina, der Mönch geworden war, gründete neben dem Sergij-Kloster die Einsiedelei Gethsemane. Ein Priester aus Uglič namens Peter, den man für einen Jurodivyj hielt (man behandelte ihn als Narren, man schnitt ihn, man legte ihn in seinem Hause an die Kette), wurde 40 Jahre lang, bis zu seinem Tode im Jahre 1866, von Scharen aufgesucht, die begierig nach seinen Ratschlägen waren, und er wurde von den Weisen und Philosophen als geistlicher Lehrer hochgeschätzt: so z.B. von dem Archimandriten und Lehrer Fedor (Bucharev). Die Schriftsteller haben es nicht versäumt, den Jurodivyj mit mehr oder weniger Verständnis und Sympathie zu beschreiben: Tolstoj in seiner "Kindheit" und Dostoievskij in den "Besessenen", ebenso der Satiriker Saltykov-Schtschedrin und die populären Schriftsteller Gleb Uspenskij und Naumov; Pryjov und Korolenko haben ihm auch Studien gewidmet. Auf jeden Fall bestreitet niemand, dass er ein hervorstehend repräsentativer Typ der russischen Volksfrömmigkeit auf ihrer heroischen Stufe ist40).

Im Russland von einst befand sich eine große Anzahl Einsiedeleien oder "pustyni", die wohl klösterliche Einrichtungen waren, aber die nur sehr entfernte Ähnlichkeit mit den großen Köstern aufwiesen, die über eine zahlreiche, vollendet hierarchische Geistlichkeit und über eine Bibliothek verfügten, die Verbindungen zur Außenwelt hatten und von bürgerlichen und geistlichen Würdenträgern besucht wurden. Die Einsiedeleien gehörten dem Volk. Hier ließ man die Bearbeitung des Bodens, das Holzfällen und die Fischerei mit Gottesdiensten abwechseln, und letztere konnten nicht einmal sehr glanzvoll sein, denn man hatte kaum den unentbehrlichen Priester und Diakon. Hier konnte sich der Bauer zurückziehen und sich doch heimisch fühlen, um aus den Lehren und aus dem Frieden zu schöpfen, deren seine Seele bedurfte. Hier konnten seine Kinder Unterweiser und Lehrer finden, die ein sicheres Wissen hatten und die zugleich vertraut waren; schließlich konnten dort Jung und Alt, wenn man nur den guten Willen mitbrachte, beichten.

Befand sich in der Gemeinschaft ein besonders bemerkenswerter Mönch, der [S. 97] das Glück hatte, auf dem Berg Athos gewesen oder von einem großen geistlichen Vater ausgebildet worden zu sein, wurde die Einsiedelei für die ganze Gegend ein Ort der Heiligung, eine Schule der Mystik. Solch ein bemerkenswerter Mönch wurde Starez genannt. Er war nicht notwendigerweise ein Priester und schon gar nicht unbedingt ein Gelehrter, ein großer Theologe. Er war auch nicht der Vorsteher der Einsiedelei. Aber er war erhaben auf Grund seiner Tugenden, er hatte gerade jene zärtliche Liebe, die dem Herzen des Volkes so teuer ist, jenes Mitgefühl, das zu einer wunderbaren Hellsichtigkeit befähigt, jene Erfahrung in den Beziehungen zwischen Seele und täglichem Leben, die für jeden Fall die beste Lösung eingibt, jene Einfachheit des Geistes, des Auftretens und der Sprache, die es dem Niedrigen ermöglicht, sich heimisch zu fühlen, und zugleich diese Autorität, die Vertrauen einflößt und Gehorsam veranlasst. Seine Brüder im Glauben kamen zu ihm, um ihm nach der antiken Lehre des "Öffnens des Herzens" ihre geheimsten Gedanken zu offenbaren. Die Bauern der Nachbarschaft, die Handwerker und Krämer der Stadt kamen, um ihm in ganz naiver Weise selbst ihre materiellen Nöte, ihre Gewissensbisse, ihre Zweifel anzuvertrauen und seinen Segen und seinen Rat in Empfang zu nehmen. So war der Starez ein Mann aus dem Volke, der zur höchsten Weisheit gelangt war, mit göttlicher Gnade überhäuft, der aber aufgrund seiner ganzen Natur und Tätigkeit im Volke blieb. Die offiziellen Stellen, die Äbte und Bischöfe haben sich immer vor den Starzen gehütet: Der Starez gehört der Volksfrömmigkeit an. Er ist eine ihrer höheren Erscheinungsformen, eine ihrer Quellen, ihrer Aufschlüsse41).

Nach diesen so charakteristischen Typen wie den Pilgern, den Narren in Christo und den unscheinbaren Starzen erwähnen wir nun die Schweigemönche oder molčal'niki, die Eremiten oder pustynniki, die Klausner oder zatvorniki, die Bettelmönche oder prosaki. Letztere weihen ihr Leben der Aufgabe, Russland zu durchstreifen, um die für den Bau einer Kirche benötigte Geldsumme zusammenzutragen. Manchmal sühnen sie auf diese Weise irgendeine große Sünde, wie der Vlas oder Blasius des Dichters Nekrassov. Sie müssen ein vom Bischof ausgehändigtes Buch mit sich führen, worin die Gaben eingetragen werden, und müssen ordnungsgemäß von ihrer Gemeinde beauftragt sein. Trotzdem haben sie oft Schwierigkeiten mit der öffentlichen Gewalt, und Schmähungen und Gefängnis sind ihnen nicht unbekannt. Doch ist die Überwindertat des Bettelns noch nichts im Vergleich zu den anderen, die wir aufgezählt haben.

Auch sind diese Taten oft nur vorübergehend. Jemand, der in seiner Erwartung betrogen wurde und fürchtet, seinen Groll nicht bezähmen zu können, legt das Gelübde absoluten Schweigens ab und lebt in der Tat sieben Jahre lang, ohne ein Wort zu sprechen. Danach beginnt er wieder zu reden.

Oft geht ein und derselbe Mensch von einer dieser Lebensformen zu einer anderen über. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts verließ ein kleiner Bürger aus Kursk alles, tauschte seine Kleider gegen die eines Bettlers, dem er begegenete, und wurde Pilger, strannik. Eines Tages beendete er seine Wanderungen in Kozel'sk und begann, ohne seinen Mund aufzutun, den Dienst eines [S. 98] Knechtes: er trug Wasser, schlug Holz, fegte den Hof und antwortete nur mit Zeichen auf Fragen, die man ihm stellte. Er war also molčal'nik. In der Kirche gab man ihm Almosen in Geld und Naturalien; er verteilte alles an die Armen und begnügte sich mit trockenem Brot; die Stadt dankte der Vorsehung, dass sie ihr einen solchen Heiligen gesandt hatte. Erst an seinem Todestage sprach er wieder, um seine Beichte abzulegen42). Oder ein Gläubiger, der des weltlichen Treibens müde geworden war, ließ sich im Wald nieder, baute eine Hütte aus Klafterholz und lebte dort als Eremit; manchmal geschah das nicht weit von einem Kloster, aber er war auch unabhängig davon und folgte seiner eigenen Regel, seiner Phantasie: Das ist auch der Vorwurf, den die offiziellen Stellen den Einsiedlern machen. Bald ist der Eremit in der Nachbarschaft bekannt. Wenn es ein neuer Heiliger wäre! Man besucht ihn; er lehnt es entweder ab, Besuche zu empfangen, oder er empfängt und wird ein geistlicher Führer. Nach einiger Zeit verschwindet er und wird Pilger. Selbst bei den ordentlichen Mönchen betrachtet man die Sesshaftigkeit nicht als eine Tugend: Erst am Ende des Lebens zeigt sie sich. Die verehrtesten Mönche, deren Biographien veröffentlicht sind, wanderten jahrzehntelang umher; zwei Jahre in dieser Einsiedelei, fünf Jahre in jener.

Serafim von Sarov ist ein kanonisierter Heiliger (1903), und sein Leben fasst in bewundernswerter Weise die Volksfrömmigkeit zusammen. Er stammt aus einer Kaufmannsfamilie aus Kursk, und als ganz junger Mensch liebt er die Liturgie, liest die Heilige Schrift und die Heiligengeschichten. Mit 18 Jahren bricht er zu einer Pilgerreise nach Kiev auf, wo er den Klausner Dosifej, einen berühmten Starzen, besucht. Dieser empfiehlt ihm, ununterbrochen zu beten: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner!" und verweist ihn zur Einsiedelei von Sarov in der Provinz Tambov. Er begibt sich sogleich dorthin und empfängt nach einigen Jahren die Mönchsweihe. Im Laufe des Winters 1794 wird er zum Priester geweiht, verlässt das Kloster und zieht sich in eine zwei Wegstunden entfernte Hütte zurück, versehen mit einem Evangelium und den unentbehrlichen Altargeräten; dort lebt er in Einsamkeit, mit einem Hemd und weißen Hosen bekleidet, an den Füßen "lapti" (geflochtene Bastschuhe), wie ein Bauer. Auf der Brust trägt er ein zwanzigpfündiges Eisenkreuz und acht weitere Pfund auf den Rücken, ebenfalls einen Eisengürtel. Wenn er seine Behausung verlässt, so nur beladen mit einem Sack voll Steine. Er singt Psalmen, liest die Asketenväter, betet und fastet. Als er von drei Räubern angefallen wird, hütet er sich, den geringsten Widerstand zu leisten. Von 1802-1805 lebt unser pustynnik als molčal'nik: keine Besuche, absolutes Stillschweigen. Danach kehrt er ins Kloster und zum normal geregelten Leben zurück. Am 9. Mai 1810 schließt er sich in seine Zelle ein, öffnet niemandem mehr, nicht einmal dem Bischof der Diözese, schläft in seinem Sarg und empfängt an Sonn- und Festtagen die Kommunion durch das Fenster: er ist Klausner, zatvornik. Am 25. November 1825 beendet er seine Abgeschlossenheit und sucht wieder seine entlegene Hütte auf. Aber jetzt hat er die höchste Weisheit erlangt und bis zu seinem Tode im Jahre 1833 wirkt er als Starez. Er heilt seelische und körperliche Leiden. Unter seinem Einfluss befreien Adelige ihre Sklaven, werden Klöster begründet, und der Heilige Geist waltet.

[S. 99] Das, was er durch Wort und Beispiel lehrt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Frömmigkeit, die wir zu beschreiben versucht haben: Milde, Demut, Mitleid und Liebe, oder allgemein: die Freiheit der Seele gegenüber den Leidenschaften, den irdischen Interessen, den weltlichen Gewalten. Er tut Wunder, sagt die Zukunft voraus und errät die Absichten. Mit anderen, ihm ähnlichen Starzen, unterhält er geheimnisvolle Beziehungen: Timon von Krivoozero, Daniil von Ačinsk in Sibirien, Georg von Zadonsk. Um ihn herum ist der Heilige Geist lebendig, und noch bis zum heutigen Tage; denn in Serafim von Sarov hat das russische Volk die höchste Vollkommenheit seiner Religion erkannt. In ihm vereinten sich der Priester – aber ohne diese Seminaristentheologie, die zwischen einer entlehnten dekadenten Scholastik und dem zersetzenden Philosophismus der protestantischen Schulen schwankt -, der Mönch – aber ohne die Formalitäten und Schranken einer Regel-, der Mystiker - aber ohne die Buchgelehrsamkeit der hesychiastischen Autoren und ohne Unkenntnis dieser Welt -, der Laie, der einfache Mensch, wie man im Russischen sagt: prostoljudin – aber ohne seine fatalen Herabsetzungen. Diese Verschmelzung, dies Überschreiten der beruflichen Scheidewand, diese Freiheit – das ist es, was das russische Volk auch in seiner Religion liebt43).

Schluss

a) Die "Heiligen" und das Volk

Sind die höheren Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit, die besonderen Typen, die wir beschrieben haben, äußerlicher Natur, ohne den inneren Kern zu treffen, wie es doch der Fall sein könnte? Nach dem, was wir gelesen haben, lässt es sich schon erraten, dass dies nicht so ist. Erstens sind diese Starzen, Klausner, Einsiedler und Pilger als Ausnahmen doch sehr zahlreich. Sie leben überall, sie tauchen zu allen Zeiten auf, sie sind noch heute, nach der Revolution, der Vermassung, der Verfolgung, in großer Zahl vorhanden. Jeder ist ihnen schon begegnet, jeder kann sie in seiner Nachbarschaft finden. Weiterhin betrachtet das russische Volk, das keinen so großen Unterschied zwischen einem Laien und einem Priester, einem Weltgeistlichen und einem Mönch, einem Sünder und einem Heiligen macht, sie nicht als Wesen, die abseits stehen und die man aus der Ferne bewundert. Im Gegenteil: Sie sind für das Volk da, es nimmt sie auf, es verlangt nach ihnen, es hat es gern, Umgang mit ihnen zu pflegen, von ihrem Lichte erleuchtet, von ihrer Wärme durchflutet zu werden und sich an der Unterhaltung mit ihnen zu laben. Die Behausungen der niedrigsten, aber besonders frommen Menschen sind immer voll von Besuchern, während man dem gewöhnlichen Mönch gegenüber eine gewisse Skepsis empfindet. Es gibt keinen Kranken oder Gebrechlichen, von dem bekannt ist, dass seine Geduld das normale Maß überschreitet, der nicht ein Pilgerziel, ein Beispiel, ein Orakel oder der Wegweiser zu einer Berufung ist.

[S. 100] Vater Fedor kam als ganz kleines Kind so zu Fall, dass beide Beine gelähmt wurden. Seine Mutter brachte ihn sofort zu einer seit vierzig Jahren bettlägerigen Frau, die an Armen und Beinen gelähmt war, und zu der die ganze Gegend ging, um sich bei ihr Rat zu holen. Sie riet ihr, am folgenden Sonntag eine Handvoll Kerzen zu kaufen, sie nacheinander vor allen Bildern zu entzünden und an den Heiligen, der die letzte empfinge, ein Bittgebet (moleben) zu richten. Der Knabe wurde geheilt. Als er siebzehn Jahre alt war, zwang ihn eines Abends ein Gewitter, an das Fenster einer Hütte zu klopfen: "Tritt ein, tritt ein, lange erwartete ich dich schon", hörte er. Er war, ohne es zu ahnen, an dieselbe Frau geraten. Sechs Jahre blieb er bei ihr, pflegte sie und diente ihr. Sie legte ihm Bibel und Evangelium aus. Danach schickte sie ihn zum Kloster von Valaam und sagte ihm vorher, dass man ihn davonjagen, aber dass er dorthin zurückkehren werde. Dies alles traf ein. 1938 lebte Vater Fedor noch44). So erfährt die Volksfrömmigkeit durch diese höheren Typen, die aber niemals ihre Zugehörigkeit zu ihr verloren haben, eine ständige Läuterung, Veredelung und Vergeistigung.

Diese Sehnsucht nach Heiligen bleibt aber nicht ohne unerfreuliche Folgen. Von all den höheren Typen gibt es Verfälschüngen: falsche Jurodivyje, falsche Pilger, falsche Einsiedler, die eine Zeitlang die Großzügigkeit des Volkes missbrauchen können. Auch können durch eben diese Großzügigkeit anfangs echte Anwärter auf Heiligkeit verdorben werden. Was war in Wirklichkeit diese Horde von 300 Narren in Christo, Pilgern und Pilgerinnen, Hinkenden und Bettlern, die 1862 unter der Leitung und auf Kosten der Mutter Matrjona bettelnd und ein ausschweifendes Leben führend, singend, schreiend und schlemmend, aber auch betend und der Heiligen Schrift lauschend durch Städte und Klöster zog, um sich nach Kiev zu begeben? Der atheistische Publizist Pryjov, gehörte, als Pilger verkleidet, zu der Bande und schrieb nach dieser Erfahrung ein sehr ungerechtes Buch über die "Sechsundzwanzig Jurodivyje".

Oder noch etwas: Wenn ein solcher Heiliger sich irgendwo zeigt, nimmt man ohne weiteres damit Genüge. Bewundert man ihn, so wird man keinerlei Garantie für Rechtgläubigkeit von ihm verlangen. Auf diese Weise entstehen die Sekten oder Halbsekten, denn bei der schlaffen Disziplin der russischen Kirche ist die Unterscheidung manchmal unscharf. Tante Kuzminischna in Rakovki, Provinz Samara, bildet um sich einen Kreis vor Gläubigen, die in der Bibel lesen und Kanons singen: Missionare verdächtigen sie der Zugehörigkeit zu den Chlysten, der Bischof Gurij bringt den Nachweis. Ständig bildeten sich kurz vor der Revolution hier und dort kleine Kirchen von Betenden (černički), Fastenden (postniki), Wohltätern oder Stephaniern, Abstinenzlern, Brüdern in Christo, Akafist-Sängern (Akathistos: Hymnus, stehend gesungen), Betenden, die sich alle unter der Führung eines bewunderten Eiferers irgendeinem frommen Werk zuwandten, aber deshalb nicht weniger Neigung hatten, sich von der großen Kirche und ihrer Geistlichkeit zu trennen und sich als solche bekannten und verurteilten Sekten zu nähern.46)

Das russische Volk beachtet den Kirchenbann kaum. Zwei Rumänen gingen eines Tages, es war im Jahre 1872, in einem russischen Dorf auf der Krim an [S. 101] Land. Sofort verließ ein jeder seine Arbeit, um sie anzuhören, und nach Wochen zählte der Kanton etwa 100 Skopzen47). Das war eine schreckliche, von der Kirche verurteilte Sekte, die für ihre Mitglieder die Verbannung nach Sibirien bedeutete, aber was tat das? Glaubte man doch, einem Spruch des Evangeliums zu gehorchen!

Diese Tatsachen können für das, was wir über das Wesen der Volksfrömmigkeit gesagt haben, als eine Bestätigung durch das Absurde diene.

b) Die "Heiligen" und die höheren Schichten

Die höheren Typen der Volksfrömmigkeit sind es oft, die die Religion der westlich gebildeten Gesellschaft näherbringen. Ein adliger Grundherr, Lehrer am Gymnasium von Orel, der selbstverständlich über die bäuerliche Gläubigkeit spottete, wurde von einem Jurodivyj, den er bei seiner Schwester traf, bekehrt. Was haben die Stranniki, die man in der Gemeindestube untergebracht hatte, nicht getan, um die christliche Empfänglichkeit bei den Kindern der Landedelleute zu nähren, zu entwickeln oder zu veranschaulichen? Dieser Grundherr, jener General oder jener Student, der an dem Empfang der Gläubigen, die sich auf der Pilgerfahrt zum Sergij-Kloster oder zu den Höhlen von Kiev befanden, durch einen Starzen teilnahm, begann darüber nachzudenken, dass in dem naiven Glauben und Vertrauen der einfachen Menschen doch vielleicht anderes stecke als Unwissenheit und Aberglauben. Die Lebensgeschichten der großen Starzen enthalten sehr viele derartiger Episoden, und wir haben hier einen der Berührungspunkte zwisdien der Religion des Volkes, die wir gesondert zu behandeln versuchten, und der russischen Religion im allgemeinen vor uns.

Aber es gibt noch bessere Beispiele anzuführen. Die Reform Peters des Großen hatte in Russland eine führende Klasse geschaffen, die europäisch gebildet und absolut ohne Beziehung zum nationalen Glauben wie zu den Volkssitten, die man für barbarisch erklärt hatte, war. Europa nun bedeutete damals "Aufklärungsphilosophie". Ein hochmütiges Vertrauen auf die menschliche Vernunft und auf den unbegrenzten Fortschritt, die Ableugnung nicht rationellen Wertes, Herabschauen auf die Kirchen, Hass gegen die Geistlichkeit. Voltaire hatte in Russland in den gebildeten Kreisen zahlreiche Schüler. Kurz, die intellektuelle Welt verleugnete die Orthodoxie von Grund auf; die offizielle Welt sah darin nur noch ein Dekor und ein Spielzeug für das Volk; die "Allerchristlichsten", die Mitglieder der hohen Geistlichkeit z.B. waren fast nur noch für die Moral empfänglich. Gegen Ende des 18. Jh. war die Entfremdung vom Christentum vollständig, und als der Ekel am Rationalismus die Menschen überkam, wandte man sich dem Freimaurertum und dem Martinismus, nicht aber der Orthodoxie zu. Doch lebte die Orthodoxie im Volke fort, und das Volk war es, das indirekt ihre Erneuerung bei den Intellektuellen bewirkte. Ganz allein hätte aber die Volksfrömmigkeit, selbst in ihren erhabensten Formen, dieses Ergebnis nicht erzielen können. Der Graben war zu breit. Doch sie war der Baum, der gehörig gepropft, eine unerhoffte Frucht brachte. Der Propfen kam vom Berge Athos, wo man die hesychiastische Übung wieder [S. 102] entdeckt hatte und der von neuem eine Stätte mystischen Lebens geworden war. Ein Mönch aus Poltava namens Paisij Veličkovskij brachte diese Lehre ins Moldaugebiet und kultivierte sie. Später führten seine Schüler sie in Russland ein. Die althergebrachte Figur des Starzen nahm ihre Erhabenheit wieder an, das „Jesusgebet“ erhielt seine mystische Rechtfertigung. Kurz, in vielen Einsiedeleien, wohin die Schüler von Paisij als einfache oder höhere Mönche nach der russischen Gewohnheit kamen und von wo sie wieder fortzogen, ehe sie sich fest niederließen, wurde die Volksmystik belebt, gereinigt und wieder erhoben. Ohne sie wäre diese Erneuerung unmöglich gewesen, aber ohne diese gelehrte Aufpropfung hätte sie der gebildeten Welt keine Appetit anregende Speise bieten könne.

Eine diese Einsiedeleien beherbergte besonders bemerkenswerte Starzen: Optina Pustyn’. Und von hier aus nahm die Bewegung, die der orthodoxen Kirche im Laufe des 19. Jhs. einen Teil der hochmütigen „Intelligencia“ zurückeroberte, ihren Anfang. Kirejevskij, Dostojevskij, Vladimir Solovjev, Konstantin Leontjev waren auf verschiedenen Stufen die Schüler der Starzen, die nacheinander in Optina wirkten, und selbst Tolstoj hat Optina vor seinem Tode einen letzten und ergreifenden Besuch gemacht.

Über diese indirekte, aber wesentliche Rolle der Volksfrömmigkeit in der orthodoxen Erneuerung des 19. und 20. Jahrhunderts wäre eine ganze Geschichte zu schreiben. Hier soll es genügen, darauf hinzuweisen, um dem Leser ein Gesamturteil über die russische Volksfrömmigkeit zu erlauben.

Anmerkungen

* Aus: Kyrios 1962, S. 69-102. Ergänzende Bemerkungen in [...] von K. Bambauer.

[Bio-bibliographische Notiz zu Pierre Pascal aus: P. Pascal, Strömungen russischen Denkens 1850-1950, Wien 1981: „Geboren 1890 in Issoire (Auvergne/Frankreich). 1913 Agrégé de lettres, 1938 Doktor phil. mit einer Habilitation über Avvakum et les débuts du Raskol : la crise religieuse au XVIIe siècle en Russie und einer zweiten Arbeit über La vie de l’Archiprêtre Avvakum écrite par lui-même, traduite du vieux russes en francais avec commentaire. Lebte 1916 bis 1933 in Russland, vorerst als ein der französischen Mission in St. Petersburg zugeteilter Offizier, in der Folge als Mitarbeiter im Außenministerium, zuletzt als Übersetzer und Bibliothekar. 1936 Lehrbeauftragter für russische Sprache an der Universität Lille, 1937 Professor für Russisch an der Ecole des langues orientales in Paris, 1950 Professor für Slawistik an der Sorbonne. Autor zahlreicher Bücher und anderer Veröffentlichungen über Russland und seine Kultur wie u. a.:

En Russie rouge (Paris 1921), Histoire de la Russie des origines á 1917 (Paris 1946), Civilisation paysanne en Russie (Lausanne 1969), Dostoievski. Sa vie, son oeuvre, (Lausanne 1970), Les grands courants de la pensée russe contemporaine (Lausanne 1971/Wien 1981), La religion du peuple russe (Lausanne 1973), Mon journal de Russie 1916-1918 (Lausanne 1975), (En communisme. Mon journal de Russie 1918-1921 (Lausanne 1977). Vgl. auch: Pierre Pascal, « Souvenir sur Berdiaev – Berdiaev l’homme », in: Colloque Berdiaev, Paris 1978, S. 11-19, Serie: Bibliothèque russe de l’Institut d’études slaves Bd. XLVI].

1) Der Autor will damit nicht sagen, dass die religiöse Haltung des Volkes und die der Gebildeten sich absolut fremd seien. Man findet im Gegenteil bei den letzteren gewisse Züge der Volksfrömmigkeit, aber in einem sehr vielseitigen Ganzen. Um zu wissen, was bei ihnen russisch ist, muss man es zuerst beim Volk gefunden haben.

2) Diese Werke hat man übrigens kritisch zu betrachten. So stehen die geistlichen Gesänge großenteils unter dem Einfluss literarischer Quellen, geistlichen Kreisen, wo Bettler und Pilger verkehrten, die sie sangen; außerdem bleiben die Versform und verschiedene Konventionen dieser Kunstart nicht ohne Einfluss. Die Legenden haben das Leben der Heiligen zum Hintergrund und die Apokryphen basieren gewöhnlich auf griechischen Texten. Man hat also die populär-russischen Elemente herauszuarbeiten.

3) „Erzählung eines Pilgers an seinen geistlichen Vater“. Deutsche Übersetzung von Lydia S. Meli-Bagdasarowa, Luzern 1944.

4) Autor zahlreicher Werke in russischer Sprache: „Pilgerndes Russland“; „Unreine Macht“ usw, veröffentlicht um 1860-1880.

5) Archimandrit Spyridon, Mes missions en Siberie. Souvenirs d’une Moine Orthodoxe Russe. Ed. du Cerf. Paris 1950.

6) Wir sprechen hier nicht von Dualismus, um eine Verwechslung mit dem manichäischen Dualismus zu vermeiden, dessen Spur man auch in der Religion des russischen Volkes meint nachweisen zu können.

7) Russisches Archiv, 1881, S. 310-311.

8) In der Erzählung: Die Ikonen.

9) Lerner: Berichte über Puschkin, Kazan’ 1937.

10) Das Leben Seraphim v. Sarovs, Murom 1893.

10a) Der Abt A. Gratieux hat in der „Revue du Clergé francais“ vom 15.8.1911, eine tiefgehende Studie über „Die Ikonen bei den Russen“ veröffentlicht. Der russische Priester Tschetverikov schrieb (Optina Pustyn’, Paris, p. 88): „Ich kann versichern, dass der Ikonenkult des russ. Volkes wirklich geistig und orthodox ist“. Ein Kapitel über: Die Ikonen und ihre Verehrung findet man bei S. Bulgakov, „Orthodoxie“, Paris 1923, S. 192-202 (franz.).

11) Erbauliche Lektüre (russ.), Nov. 1861, S. 306.

12) Zenzinov: Begegnungen mit Russland, New York 1945, S. 373. „Der Segen beim Sterben“, siehe z. B. Autobiographie des Malers Maksimov, S. 149.

13) Ethnographische Rundschau III (1889), S. 44-45.

14) Diese Bezeichnung des Glockenspiels ist eine Parallele zum „toten“ (freudigen, festlichen) Osterglockenspiel. Das „dunkelrote“ (malinovyj) von malina = (Himbeere) beruht aber auf einem sprachlichen Missverständnis, denn ursprünglich bedeutete es die Glocken von Maligne (Mecheln in Belgien) und ihre berühmte Spielart (Anm. des Übersetzers).

15) Der Roman: „Virineja“ der sowjet. Autorin Sujfullina hat diesen Brauch zum Thema.

16) Beschrieben von Mereškovskij und Prišvin.

17) Erwähnt von Haxthausen; auch war ich selbst noch Zeuge.

18) So auch die Debatten zwischen Avvakum und dem Diakon Fedor.

19) Nik. Schipov, Meine Lebensgeschichte, Moskau 1933, S. 448-49 und 493.

20) Zenzinov, Begegnung mit Russland, S. 242.

21) Man lese zu dem „Jesusgebet“ den Artikel von Frau Behr-Siegel in „Dieu vivant“ Nr. 8, S. 69-94, das Buch „La prière de Jesus“ – par un moin d’Orient. 3 ed. Ed. de Chevetogne (Belgien), 1959, und selbstverständlich auch die „Erzählungen eines Pilgers“. Vgl. auch Kyrios I,4, S. 212ff. den Aufsatz von B. Bobrinskoy über das Gebet, bes. 224ff.

22) Dostojevskij, Idiot, 2. Teil, Kap. 4.

23) Korolenko, Petrograd 1922, S. 64-65.

24) „Mein Leben“, Erzählung einer russischen Bäuerin von L. Tolstoj, frz. Bearbeitung von Ch. Salomon.

25) Pryjov, Skizzen, Artikel, Briefe, Moskau, 1934, S. 226.

26) Rosanov, Der sibirische Pilger, in: „Eine apokalyptische Sekte“, 1914, S. 204.

27) Karpov, Erinnerungen, 1933, S. 32.

28) Karpov, Erinnerungen, 1933, S. 25-31.

29) Korolenko, Petrograd 1922, S. 63.

30) Birukoff, Leo Tolstoj, Biographie II, S. 104.

31) Paléologue, La Russie des Tsars pendant la grande guerre (3 Bde.) I, S. 283.

32) Eine große Anzahl von Revolutionären, sogar Terroristen, waren Christen: Der Mörder des Ministers Plehve (1904), Sazonov, war ein Altgläubiger, inspiriert von der Liebe zu den Menschen. „Alles ist einfach für den, der mit Gott lebt“, schrieb er und sein Leben ist das Leben eines Heiligen.

33) Wir erlauben uns, die Leser darauf hinzuweisen, dass P. Pascal Zeuge der Ereignisse der Revolution von 1917 war (Anm. des Übersetzers).

34) Gor’kij wunderte sich über das Fehlen jeder Reaktion und frohlockte darüber. (Über den russischen Bauern, Berlin 1922, S. 29-30).

35) P. Vogüé, Syrien, Palästina, Berg Athos. Paris 1876, S. 212-214. Der Byzantinist A. Vasilijev hat auch sein Zusammentreffen mit einer Gruppe von elf Pilgern auf dem Sinai beschrieben (Eine Reise zum Sinai), 1904, S. 54-56.

36) Pimène, Erinnerungen.

37) Christliche Lektüre, November 1914.

38) In seiner Autobiographie.

39) Näheres über ihre ungeheure Rolle im 17. Jhdt. findet man in meinem „Avvakum und die Anfänge des Raskol“, Paris 1939, S. 318-320, und an verschiedenen anderen Stellen.

40) Der Jurodivyj hat im Westen Material für mehrere Studien geliefert: Lev Gillet in „Irénikon“, 1927, Nr. 1, S. 14-19. Hilpisch in „Zeitschrift für Aszese und Mystik“, 1931, S. 121-131. [Ernst] Benz in „Kyrios“, 1938, S. 1-55 und besonders Gamayoun in „Russland und die Christenheit“ 1938/39, Nr. 1, S. 57-77. Der letzte Artikel ist bei weitem der beste.

41) Der Typ des Starzen ist im Westen von I. Smolitsch in „Leben und Lehre der Starzen“, Wien 1936, beschrieben worden; ebenfalls in mehreren Artikeln der Zeitschrift „Kyrios“. Ich behandele hier nur den populären Aspekt.

42) „Häusliches Gespräch“, 1861, S. 698-700.

43) Man findet aufschlussreiche Gedanken über die besprochenen Typen in dem Artikel des R. P. Tyskiewicz: „Russ. Orth. Spiritualität und Heiligkeit“, Gregorianum (t. XV) 1934, S. 349-376.

44) Janson, Die Starzen von Valaam 1938, S. 66-67 und S. 73-75.

45) Bontsch-Brujewitsch, „Die Welt der Sekten“, S. 130-132, und „Die Abstinenzler von Moskau“ in: „Der Zeitgenosse“, 1913, Nr. 2, S. 299-315.

46) Ibidem S. 206.

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