Meine kleine Schwester Maria

Johanna Kusters

 

 

Geboren als drittes Kind der Eheleute Johanna und Heinrich Knechten, am 17. April 1951 in Asperden. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf; drei Kinder teilten sich ein kleines Rad. Doch die Umgebung gewährte große Freiheit. Besonders gut konnte man sich unter dem Tabaktrockenschuppen verstecken. Dann nahm der Vater eine neue Gärtnerstelle in Kevelaer an. Die Katze musste auf dem Umzugwagen fest im Arm gehalten werden; sie wollte zurück. Die neue Wohnung hatte runde Wände, wir wohnten im Wasserturm. Viele Treppen und Etagen ging es hoch zum Wasserbassin. Neue Spiele prägten die Kindheit. Dann wurde das Haus in der Römerstraße 27 frei, auch die Kinder zogen das Mobiliar auf einem Wagen mit einer Achse zur neuen Wohnung. In der Küche gab es ein großes Spülbecken mit kaltem Wasser. Maria wohnte mit ihrer Schwester in einem Zimmer im Obergeschoß. Winters war das Waschwasser in der weißen Kanne oft gefroren. Maria besuchte die Volksschule in Kevelaer. Dann überlebte sie die Ausbildung zur Verkäuferin bei einer harten Lehrmeisterin. Und weitere harte Dienststellen. Doch jetzt trat der Engel Josef in ihr Leben. Die große Hochzeit war am 1. Oktober 1971. Große Freude bereiteten ihr Kinder. Dem sprachbegabten Markus folgten das erwünschte Mädchen Severine und der herzgewinnende Christian. Inzwischen war die Familie aus Barnstorf nach Kevelaer, ins Haus der Eltern gezogen. Maria trug nicht nur die Sorge um die drei Kinder, sondern auch die für die demente Mutter.

Vielleicht gerade aus dieser Situation heraus, absolvierte Maria eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Meist übernahm sie Nachtdienste oder arbeitete im ambulanten Bereich. Die Pflege bestimmte ihr Leben. Bis kurz vor ihrem Tod pflegte sie eine Nachbarin/Freundin; es ging bereits weit über ihre Kraft.

Gerne gestaltete Maria auch die Arbeit im Verein „Eisenbahnfreunde Kevelaer“ mit. Es gab offene Tage mit Ausstellungen für Interessierte von nah und fern. Arbeit gab es in der Organisation, im Kassenbereich, und Kuchen musste gebacken werden. Josef und Markus waren die Gestalter im technischen Bereich. So konnte man die Eisenbahn als Familienhobby betrachten.

Maria schulte ihre Sopranstimme im Chor; sie sang gerne. Erst als ihre Kraft zum Stehen nicht mehr ausreichte, gab sie die Chorarbeit auf.

Die aktive Teilnahme an den Kegelabenden wurde nur unterbrochen, wenn ein Krankenhausaufenthalt oder eine Kur anstand. Mit den Kegelfreunden konnte Maria auch gut „lecker essen“.

Mit Familie und ihren Freunden machte Maria zahllose Ausflüge, Freizeiten, Radtouren und Reisen. Trotzdem meinte sie bei ihrem Abschiedsbesuch in Hannover, dass die Romreise mit Heinrich und mir ihre schönste Reise gewesen sei. Sie kletterte sogar in die Turmspitze des Petersdomes und genoss die Aussicht mit uns.

Die Kinder strömten nach Hause und fanden Häuser in Kevelaer.

Und das Allerbeste waren die Enkelkinder. Stundenlang schwärmte Maria von ihren Begegnungen mit Thomas und Sarah. In ihrem Haus standen die Spielzeuge für die beiden Kinder bereit. Sie traten durch die Haustüre und konnten gleich spielen.

Bis zuletzt war die Liebe zu Katzen bei Maria augenfällig. Da fütterte sie eine Nachbarskatze vor ihrer Verandatür. Vorher waren Phasen mit eigenen Katzen und die Sammelleidenschaft für Katzenfiguren aller Art.

Rituale führten Maria durch den Tag und durch das Jahr. Ich konnte kein Geschirr in ihre Spülmaschine räumen, da ich den zugehörigen Platz nicht kannte. Wichtiger waren die Käsefonduefeste zu Weihnachten oder die Geburtstagsabläufe, das Gästebuch und der Platz in ihrem Auto für ihre Reisesachen.

Maria liebte das Kochen und ihre Familie liebte ihre Gerichte. Doch es verdross sie sehr, dass ihr Josef keinen Knoblauch mochte.

Freizeit war für Maria auch Schwimmen. Den ganzen Sommer über traf sie sich mit ihren Schwimmfreunden im Freibad. Und dann las sie gerne; ihre Bibliothek wies viele Neuerscheinungen auf.

 

 

Mit ihrem Glauben hielt Maria es wie die Madagassen. Der Mensch wendet sich mit seinem Gebet nicht direkt an Gott. Das ist Aufgabe der Ahnen. Die Ahnen, bevorzugt der Vater, sollten zwischen den Lebenden und Gott vermitteln. So wie ich Maria verstanden habe, erfüllten die Ahnen ihre Rolle gut. Sie gaben Maria Zuversicht in Zeiten von Krankheit und „höherer Gewalt“. Soviel ich weiß, gab es aber keine Zeremonien, um die Ahnengeister zu besänftigen. Sie waren auch ohnehin gegenwärtig. Und genau diese Rolle wird Maria ab jetzt für ihre Familie einnehmen. Aus ihrer neuen Welt wird sie wachen, warnen und schützen. Ihre unglaubliche Hilfsbereitschaft macht sie zum Schutzengel. Das glaube ich.

 

Marias Gedenkbild

 

Ansprache bei der Verabschiedungsfeier am 28. 12. 2017 in Kevelaer

Maria Theresia Gabriele Balzen, geborene Knechten (17. April 1951 Asperden - 15. Dezember 2017 Goch) wurde in der Hervorster Straße 13c, dem Haus mit dem roten Dach, geboren. Es war eine Hausgeburt.

Bald zog die Familie in das Haus gegenüber, die umgebaute Remise (Pferdestall) der Familie Buff. Uns Kindern wurde manchmal das Wort „Flichtlinge“ hinterhergeschrien. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass in Böhmen durchaus ein Ü gesprochen werden konnte, außerdem handelte es sich nicht um eine Flucht, sondern um eine Vertreibung, und schließlich stammt die Hälfte der Familie vom Niederrhein und aus den Niederlanden: Dort ist sie seit 1290 nachweisbar.

Es gab einmal eine Radiosendung, bei der sich Gäste äußern konnten. Maria fuhr dorthin und erzählte von ihrer Situation:

„Mit Kain und Abel fing alles an. – Geschwisterbeziehungen.
Hallo, Ü-Wagen, in Geldern, mit Carmen Thomas am 19. August 1982

Der Hintergrund war wie folgt: Ihr Vater verstand sich gut mit seiner älteren Tochter, ihre Mutter mit ihrem Sohn, – aber wo blieb sie? Hinzu kam, daß ihre beiden Geschwister ein Studium absolvierten und es mit der Promotion abschlossen.

Maria wurde zunächst Verkäuferin. Dass sie ihrer Tochter verbot, diesen Beruf zu ergreifen, sagt einiges aus.

Maria hatte ein sonniges Gemüt. Wenn das Leben Zitronen gibt, dann mache daraus Limonade, hätte ihr Wahlspruch sein können. Wie bei vielen lustigen Menschen, war auch bei ihr die andere Seite stets präsent. Als sie in der Berufsschule war, erschien in der Zeitung eine Todesanzeige mit ihrem Namen. An diesem Tag verspätete sich Maria, und als sie dann schließlich in der Klasse ankam, starrten sie die anderen an wie einen Geist. Noch zweimal erschien ihr Name in den nächsten Jahrzehnten in Todesanzeigen und sie fragte: „Wie oft soll ich denn noch sterben?“

Sie hatte drei Kinder.

Als die Eltern Hilfe brauchten, widmete sie sich dieser Aufgabe. Beruflich arbeitete sie in der Altenpflege und setzte beim Arbeitsamt durch, dass sie eine Zusatzausbildung machen konnte, um therapeutisch besser wirken zu können.

Die Romreise im Jahr 2011 genoss sie sichtlich, auch wenn die Besteigung der Kuppel des Peterdomes ihr einiges abverlangte: Mit hochrotem Gesicht und schwer atmend, kam sie dort oben an.

Am Ende ihrer beruflichen Tätigkeit schenkte sie mir Priesterkleidung und bemerkte dazu: „Solange Du noch eine Schwester hast…“

Sie hatte eine überbordende Liebe zu Katzen und zu Skulpturen sowie Bildern ihrer Lieblinge. Sie war in einem Kegelklub und machte auch im Verein der Kevelaerer Eisenbahnfreunde sowie bei Ballonfahrten mit.

Im Sommer 2017 zitierte sie Tante Hilde: „Der Mensch muss gepeinigt werden; sonst hat er keine Lust zu sterben!“ Bei ihrem letzten Geburtstag sagte: sie „Das Leben beginnt mit sechsundsechzig!“

Ja, das trifft zu, aber bei ihr ist es das Neue Leben.

 

Fürbitten

Severine: Sei mit allen, die Mutti nahestehen, besonders mit Papa. Schenke uns die Kraft, das Unfassbare anzunehmen.

Markus: Wir danken Dir für alles, was wir gemeinsam mit Mutti erleben durften.

Christian: Wir danken Dir für die Zeit, die wir mit Mutti hatten und werden diese immer in Erinnerung behalten.

Severine: Lass uns nie vergessen, wie schön es war, mit Mutti zu lachen und sie in unseren Herzen weiterhin mitlachen zu lassen.

 

Marias letzte Tage

In der Nacht auf den 1. Dezember 2017 hatte Maria starke Schmerzen im Magen und konnte nicht mehr laufen. Sie kam auf die Intensivstation des Wilhelm-Anton-Hospitals in Goch (Katholisches Karl-Leisner-Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Voßheider Str. 214).

Es wurde festgestellt, dass sie Krampfadern in der Speiseröhre hatte. Die Blutungen wurden gestillt, das Blut aus dem Magen entfernt, und es ging Maria besser.

Am 14.12.2017 fiel sie ins Leber-Koma. Ich fuhr Hals über Kopf nach Goch, Josef holte mich am Bahnhof ab und ich spendete Maria die Krankensalbung.

Am nächsten Morgen starb Maria um 8.00 Uhr morgens. Josef und Severine waren bei ihr.

Naturbegräbnisplatz Maasveen

 

Maasveen

Maria wollte, dass ihre Asche im Wald verstreut werde. So machten wir uns am Freitag, 5.Januar 2018, auf und fuhren nach Venlo-Maasveen, Grote Blerickse Bergenweg 28, zum Natuurbegraafplats. (Maasveen bedeutet: Moor an der Maas.) Am vorherigen Tag hatte es noch geregnet und der Wind wehte böig, doch an diesem Tag versuchte die Sonne, die Wolkendecke zu durchdringen. Wir gingen mit einem Friedhofsangestellten, der nach seiner eigenen Aussage „versuchte, Deutsch zu sprechen“, es aber sehr gut sprach, 550 Meter in den Wald hinein, wählten einen Baum, der unten bemoost war und an dem erst ein einziges Begräbnis stattgefunden hatte und das vor langer Zeit. Diddi steckte einen braunen, dreieckigen Stein in die Erde, den Maria auf der Fensterbank liegen hatte und als sehr angenehm zum Anfassen empfand, weil er so glatt war. Severine schrieb auf eine kleine Baumscheibe, die der Angestellte ihr reichte, mit dickem, schwarzen Filzstift: „OMARIA“, wie Sarah es statt „Oma Maria“ gesagt hatte, und Severine las:

So geh Du nun, wir lassen Dich los. Mögest Du den Weg nicht aus den Augen verlieren. / So geh Du nun, wir blicken Dir nach. Mögest Du stets das Licht am Horizont sehen. / So geh Du nun, wir sind bei Dir. Mögest Du hören, wenn jemand Dich ruft. / So geh Du nun; unsere Liebe verlässt Dich nicht. Mögest Du spüren, dass Du nicht alleine bist. / So geh Du nun, unsere Wünsche begleiten Dich. Mögest Du wissen, dass Dich jemand empfängt. / So geh Du nun, unsere Hoffnung umgibt Dich. Mögest Du erkennen, das neue Land ist ewige Heimat. / So geh Du nun, wir lassen Dich los.

Währenddessen streute ich die Asche aus der schwarzen Urne, die aus Mais gefertigt war, rund um den Baum. Ich sagte Worte aus der Heiligen Schrift und wir alle beteten das „Vaterunser“ und das „Gegrüßet seist du, Maria“. Dann steckten wir Tulpen in das Moos: Josef eine rote, Markus, Severine und Christian weiße, Claudia, Stephanie, Sarah, Diddi, Thomas und ich gelbe. Ich las das Gedicht aus dem Jahre 1944 von Ah Long (Shen Shumei, 1907-1967, im Gefängnis gestorben):

„Tritt nicht auf den Tau, weil einer in der Nacht geweint hat. / Meine Liebe, nur zu deutlich erinnere ich mich, wie ich dir im Kerzenlicht aus traditionellen Büchern vorlas. / Bete aber nicht auf diese Weise für mich; ich gehe mit dem Leib, der dir gehört, zu Gott. / Berechne nicht den Raum zwischen den Sternen, rechne nicht nach Lichtjahren, rechne nach der universalen Schwerkraft, nach Lichtern, die sich gegenseitig beleuchten. / Blicke auf zu einer weißen Blume: Wir verwelken und fallen.“

Markus nahm die Koordinaten des Baumes in sein Smartphone auf. Nachher gab es bei Josef Kaffee und Kuchen. Während die Kinder „Kakerlaken“ spielten, wurde Marias Schmuck verteilt.

 

Für die Enkelin war es zu schwierig zu sagen: „Oma Maria“,
so verkürzte sie die Worte zu: „Omaria“.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025

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