Die ersten Tempel

Der Ursprung der Religion

Wer ein solches Thema anschneidet, muß sich zunächst gleichsam durch dichtes Gehölz von Assoziationen durchkämpfen: Kirche, Bibel, Gott, Sünde, Hölle, Teufel, Machtmißbrauch, Gewalt, Reichtum, Ablaßhandel, Heuchelei, Täuschung, Betrug…

Allerdings geht es bei der Frage nach dem Ursprung der Religion nicht um die letzten zweitausend Jahre, nicht einmal um die letzten fünftausend Jahre, aus denen wir schriftliche Aufzeichnungen besitzen. Nein, es geht um eine viel ältere Zeit, in der die oben genannten „Reizworte“ keine Rolle spielen konnten, weil es institutionelle Religion noch nicht gab.

Woran läßt sich der Ursprung der Religion erkennen? An der Bestattung Verstorbener. Zunächst wurden Verstorbene aasfressenden Tieren überlassen. Vor 90.000 bis 130.000 Jahren aber sind die ersten Bestattungen nachzuweisen, und zwar bei Nazareth und im Karmelgebirge, zwanzig Kilometer südlich von Haifa. Die Toten wurden in Embryonalhaltung bestattet. Dies ist die Stellung, welche der Mensch im Mutterleib hat. Damit wird eine Wiedergeburt in ein neues Leben, ein Weiterleben nach dem Tod angedeutet.

Der Autor

Klaus Peter Schmidt (1953-2014) war Prähistoriker, Fachmann für Vorgeschichte, die sich nur auf archäologische Funde, aber nicht auf Schriftzeugnisse stützen kann. Er studierte 1974-1983 Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Geologie in Erlangen sowie in Heidelberg. Er dozierte an der Universität Erlangen Ur- und Frühgeschichte. Er war mit der türkischen Archäologin Çiǧdem Köksal verheiratet. Er starb mit sechzig Jahren durch einen Herzinfarkt.

Das Buch

Klaus Schmidt, Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger. Die archäologische Entdeckung am Göbekli Tepe, München 2006; München 22006; München 32007; München 42008; München 52016.

Göbekli Tepe

Dieses türkische Wort bedeutet „bauchiger Hügel“. Er liegt 15 km nordöstlich der südostanatolischen Stadt Urfa (Edessa, Şanlıurfa). Klaus Schmidt führte hier seit 1995 Ausgrabungen durch und entdeckte Großbauten, die neuntausend bis zwölftausend Jahre alt sind. Ihre Errichtung setzte ein gruppenübergreifendes Bündnis voraus.

Am auffälligsten in diesem Heiligtum sind die hohen Pfeiler in T-Form, die göttliche Gestalten symbolisieren. Auf Pfeiler 27 ist ein Löwe mit einer tiefen Zornesfurche abgebildet. Er kriecht auf eine Giftspinne zu. Es geht hier um Schutz vor bösen Mächten. Auf Pfeiler 12 findet sich die Skulptur eines Keilers. Ein Keiler kann gefährlich werden, wenn er angegriffen wird. Auch er soll Unheilvolles abwehren. Bemerkenswert ist die Darstellung einer Geburt, die 11.600 Jahre alt ist. Das Kind liegt leider in Steißlage.

Deutung

Klaus Schmidt definiert Religion als Ergriffensein durch und das Denken über das Heilige, das dann auch in entsprechenden Handlungen, Ritualen, seinen Ausdruck findet (Seite 43).

Es gibt klare Hinweise auf Sekundärbestattungen, wenn die Knochen mit rotem Ocker als Symbol für Vitalität und Leben eingefärbt waren. Dies setzt voraus, daß das umhüllende Fleisch bereits verschwunden war (Seite 56).

Die Anlagen von Göbekli Tepe dienten dem Totenkult (Seite 238). Das Heiligtum war das Zentrum eines Kultverbandes. An diesen abgelegenen Ort pilgerten Menschen von weither, um ihrer Verstorbenen zu gedenken, die gemeinsame Geschichte sowie Kultur lebendig zu erhalten und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken (Seite 248f).

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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