Soziale Aufgaben sind auch geistliche Aufgaben
Heinrich Michael Knechten
Berdjaev schreibt 1917 (vor
der Oktoberrevolution):
„Wenn sich im Leben eines Volkes ein großer historischer Umschwung vollzieht,
gibt es in ihm immer eine objektive Linie, welche allgemeinen nationalen und
staatlichen historischen Aufgaben entspricht, eine wahrhaft schöpferische
Linie, in der das ganze Volk von einem Gespür für Entwicklung und von der
verborgenen Stimme seines Schicksals geleitet wird. Wahre Politik geht von
dieser Linie des Volkes aus. Alles jedoch, was sie beiseite lässt, kann nicht
als schöpferisch, sondern muss als zerstörerisch und reaktionär im tiefsten
Sinne dieses Wortes, als unrealistisch und illusorisch bezeichnet werden.“
Er fährt fort: Jene
Massenbewegung, welche bei uns sozial heißt, wird nicht von der Idee eines
sozialen Ganzen bewegt, sondern von persönlichen Zielen und Gruppeninteressen,
welche dem Ganzen schaden. Sie ist zu sehr von Habsucht motiviert. Das
„Irdische Reich Gottes“ riecht immer nach Blut.
Veränderungen in der Gesellschaft hängen von Veränderungen in der menschlichen
Psyche ab. Aufstände und Diktaturen dagegen können nichts im sozialen Leben
verändern. In der sozialistischen Idee ist fast nichts Schöpferisches
enthalten. Es ist leicht, Desorganisation und Chaos im gesellschaftlichen Leben
zu verursachen, den Aufstand der Teile gegen das Ganze zu organisieren. Doch
dies schafft nicht den Übergang vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der
Freiheit. Man kann die Volkswirtschaft in die Anarchie führen, doch dies
verschlimmert nur die Lage der Arbeiter und Bauern. Die Kräfte des Bösen sind
in dieser Welt stärker als die des Guten.
Die russische Demokratie, so
schließt Berdjaev, hat jetzt die Aufgabe, die harte Schule der
Selbstbegrenzung, Selbstkritik und Selbstdisziplin zu durchlaufen. Uns erwartet
kein soziales Paradies, sondern es kommen schwierige Zeiten auf uns zu. Alle
sozialen Aufgaben sind auch geistliche Aufgaben. Jedes Volk ist im spirituellen
Sinne verantwortlich für seine Geschichte.
Vgl. Nikolaj A.Berdjaev, Duchovnye osnovy russkoj
revoljucii, Russkaja svoboda 4, 29.4.1917, in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd.
4, Paris 1990, 8-17.
Eine Revolution schafft
nichts Neues
Berdjaev wendet sich 1918 an
die Vorkämpfer der russischen Revolution: Ihr, meine Gegner, seid Gegner meines
Glaubens; Ihr habt Euch von Christus abgewandt. Ihr meint, das Christentum sei
reaktionär. Das ist es aber nicht, es ist auch nicht revolutionär, sondern ruft
zum Handeln aus dem Geist auf. Jede Situation des Lebens bedeutet für den Geist
des Menschen ja eine schöpferische, geistliche Aufgabe. Zur Bewältigung dieser
Aufgabe ist es notwendig, sich am Evangelium zu orientieren. Das Evangelium ist
jedoch nicht eine Sammlung von Regeln und Geboten. Es gibt nur den Sauerteig,
das Samenkorn des neuen Lebens, aus welchem das Leben des Geistes herauswächst.
Berdjaev wirft den
Revolutionären vor: Ihr hasst die Freiheit, löscht den Geist des Menschen aus,
vertreibt das Göttliche, das Ewige. Ihr setzt auf vergängliche Güter und
zeitliche Interessen. Ihr wollt glauben machen, die Revolution sei etwas
Religiöses, durch sie werde der neue Mensch erschaffen, ein neues Bewusstsein
eröffnet. Doch eine Revolution war nie religiös und sie wird es nie sein. Sie
ist von ihrer Natur her antireligiös. Eine Revolution schafft auch nichts
Neues. Man kann in ihr höchstens eine Strafe für die Sünden der Vergangenheit sehen,
da einer Revolution gewöhnlich eine Zeit des Verfalls vorangeht. In einer
Revolution ist kein Platz für Freiheit, für Persönlichkeit, Individualität; in
ihr wirken unpersönliche Mächte. Nicht der Mensch, welcher nach dem Abbild und
Gleichnis Gottes geschaffen ist (vgl. Gen 1,26), vollführt die Revolution,
sondern diese bricht über ihn herein wie ein Unglück. Es ist unmöglich, eine
Revolution zu lenken. Ihr meint, ihr handelt aus dem Geist der Freiheit. In
Wirklichkeit seid ihr Sklaven dunkler Mächte! Ihr meint, den neuen Menschen zu
erschaffen. Dabei werdet ihr von negativen Gefühlen wie Bosheit, Neid und
Rachsucht gelenkt. Das bedeutet, ihr handelt passiv, nur im Reflex auf
Vergangenes. Ihr könnt nicht von ihm befreien. Im übrigen habt Ihr das Gute und
Schöpferische der Vergangenheit vergessen.
Berdjaev verdeutlicht seine
Kritik: Ihr wendet euch gegen das Schöpferische, weil es etwas Aristokratisches
ist. Ihr tretet für Gleichheit ein und verhindert damit Schöpferisches, das ja
Ungleichheit erfordert. Der Geist der Revolution hasst das Geniale und die
Heiligkeit, er vergeht im Neid auf Großes und auf die Größe, er duldet keine
Qualität, sondern setzt auf Quantität. Revolution ist der Stillstand innerer
Bewegung. Sie ist äußerlich dynamisch, innerlich aber statisch.
Ein optimistischer Blick auf
die Zukunft genügt nicht, um das Böse im Menschen und in der Welt zu
entwurzeln. Wer den Glauben abgelegt hat, verfällt dem Nihilismus. Von dort aus
ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Anarchie oder zur Diktatur. Das Recht
schützt die Person vor Abhängigkeit und Willkür. Ihr aber habt das überkommene
Recht abgeschafft!
Vgl. Nikolaj A.Berdjaev, Filosofija neravenstva.
Pis'ma k nedrugam po social'noj filosofii, Sommer 1918, veröffentlicht 1923,
in: Ders., Sobranie sočinenij, Bd. 4, Paris 1990, 253-286 (Erster Brief).
Die Freiheit erkämpfen
Berdjaev eröffnet sein Buch
über Knechtschaft und Freiheit des Menschen mit einer Vorbemerkung, in welcher
er auf den Vorwurf eingeht, es gäbe in seinem Denken Widersprüche. Widersprüchliches
gibt es, so antwortet er, in jedem philosophischen Denken und wird es dort
immer geben. Selbst Systeme (denen er misstraut) sind nicht widerspruchslos.
Danach stellt er fest, dass für ihn der Primat der Freiheit über das Sein
(bytie), des Geistes über die Natur, des Subjekts über das Objekt, der
Persönlichkeit über das Universal-Allgemeine, des Schöpferischen über das
Evolutionäre, des Dualismus über den Monimus, der Liebe über das Gesetz von
Anfang an grundlegend war. Darin gibt es in seiner Philosophie keinerlei
Widerspruch.
Persönlichkeit, so fährt er
fort, bedeutet Kampf, Befreiung, Sieg über die Knechtschaft. Gleich bespricht
er einen Einwand. Bedeutet Herausstellung der Persönlichkeit gegenüber dem
Allgemeinen Egoismus? Berdjaev unterscheidet ein tiefes und ein oberflächliches
"Ich". [C.G.Jung würde von Selbst und Ich reden.]
Wendet sich ein Mensch mit seinem oberflächlichen Ich anderen Menschen
zu, ist er fähig zu Mitteilungen (k soobščenijam), nicht aber zu Gemeinschaft
(k obščeniju). Der Egoist versklavt sich selbst, da er weder den Weg zu sich
selbst noch zu anderen findet. Auch ein Tyrann ist ein Sklave (Platon).
Der Mensch ist nach dem Bild
und Gleichnis Gottes geschaffen (vgl. Gen 1,26), doch um das Handeln und Leben
daraus muss er ringen. Freiheit ist schwierig zu erlangen (und zu bewahren),
Knechtschaft hingegen ist leicht. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, zu
geistlicher Freiheit zu gelangen, zum schöpferischen Akt, welcher der Welt der
Objektivation ein Ende setzt. Dabei meinen manche, unter Beibehaltung ihres
gegenwärtigen inneren wie äußeren Zustandes zu diesem Ziel zu gelangen. Nein,
schreibt Berdjaev, Eschatologie bedeutet Änderung, und zwar nicht erst dort,
sondern bereits hier. Ein Sklavenaufstand allerdings würde nur neue Formen der
Sklaverei schaffen. Daher geht es zunächst darum, zur inneren Freiheit zu
kommen.
Vgl. Nikolaj A.Berdjaev, O Rabstve i svobode čeloveka.
Opyt personalističeskoj filosofii, Paris 1939, Paris 21972, in:
Ders., Carstvo Ducha i Carstvo Kesarja, Moskau 1995, 3-42.