Sein
Leben ist mein Leben
Schiarchimandrit Sofronij (Sacharov)
1. Einleitung
Schiarchimandrit Sofronij wurde im Jahre 1896 im zaristischen Russland von orthodoxen Eltern geboren. Von Kindheit an zeigte er eine seltene Fähigkeit zum Gebet und als Junge grübelte er über schwierige Fragen aus Jahrhunderten theologischer Gespräche.
Ein Gefühl der Fremdheit in dieser Welt sprach von einem Unendlichen, das immer unsere Endlichkeit umarmt. Das Gebet zog die Idee der Ewigkeit mit Gott nach sich. Im Gebet ist die Realität des lebendigen Gottes verbunden mit der konkreten Realität des irdischen Lebens. Wenn wir wissen, was ein Mensch verehrt, wissen wir das Wichtigste über ihn – was es ist, das seinen Charakter und seine Richtung bestimmt. Der Autor von 'Sein Leben ist mein Leben' war früh ergriffen von einer starken Sehnsucht zum Herzen der göttlichen Ewigkeit durch Kontemplation der sichtbaren Welt durchzudringen. Diese Sehnsucht, wie eine Flamme im Herzen, erhellte seine Studienzeit an der Staatlichen Kunstschule in Moskau. Das war die Zeit, als ein paralleles spekulatives Interesse am Buddhismus und am ganzen Gebiet der indischen Kultur den Schlüssel seines inneren Lebens veränderte. Die östliche Mystik schien ihm tiefer als das Christentum, das Konzept eines überpersonalen Absoluten schien ihm überzeugender als das eines persönlichen Gottes. Die östlichen mystischen Begriffe des Seins verliehen dem Transzendentalen überwältigende Majestät. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und der folgenden Revolution in Russland begann er über die Existenz selbst als der causa causans alles Leidens nachzudenken und so bemühte er sich, durch Meditation auf alle optischen und geistigen Vorstellungen zu verzichten.
Sein Atelier war am Ende eines kleinen Hauses in einem ruhigen Moskauer Stadtteil. Hier arbeitete er stundenlang, indem er jeden Nerv anspannte, um seinen Gegenstand ruhig zu malen, um seine gegenwärtige Bedeutung auszudrücken, um es zu dieser Zeit als ein Sprungbrett zur Erkundung des Unendlichen zu nutzen. Er wurde durch widerstreitende Schlussfolgerungen gequält: sein Leben war vom Ewigen erzeugt worden, warum brauchte sein Körper den Atem, das Essen, den Schlaf. Warum reagierte er auf jede Veränderung in der physikalischen Atmosphäre? In einer Anstrengung, aus dem ärmlichen Rahmen der Existenz auszubrechen wandte er sich dem Yoga zu und widmete sich der Meditation. Aber niemals verlor er seine lebhafte Wachsamkeit für die Schönheit der Natur.
Das tägliche Leben floss nun sozusagen an der Oberfläche der äußeren Ereignisse. Das einzig Nützliche war, den Sinn unseres Erscheinen auf diesem Planeten zu entdecken; umzukehren zum Augenblick vor der Schöpfung und mit unserer ursprüngliche Quelle zu verschmelzen. Er machte weiter, blind gegenüber sozialen und politischen Themen – gänzlich besessen von dem Gedanken, dass, wenn der Mensch stirbt ohne die Möglichkeit in die Sphäre des Absoluten Seins zurückzukehren, das Leben dann keinen Sinn hätte. Zufällig brachte ihm die Meditation eine Ruhepause mit einer Illusion irgendeiner unendlichen Ruhe, welche seine Urquelle gewesen war.
Die Unruhe der nachrevolutionären Periode machte es zunehmend schwierig für Künstler, in Russland zu arbeiten. Im Jahre 1921 begann der Autor nach Mitteln und Wegen zu suchen, um nach Europa auszuwandern – nach Frankreich besonders als dem Zentrum der Welt für Maler. Auf dem Wege richtete er es so ein, durch Italien zu reisen, indem er lange die großen Meisterwerke der Renaissance betrachtete. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin erreichte er endlich Paris und stürzte sich mit Kopf, Herz und Seele in die Malerei. Seine Karriere begann mit einem zufriedenstellenden Start: Der Salon d'Automne nahm seine ersten Ölgemälde an und der Salon des Tuileries, die Elite des Salons d'Automne, lud ihn ein, mit ihnen auszustellen. Aber auf einem anderen Gebiet ging es nicht, wie er erwartet hatte. Die Kunst begann, seine Aufmerksamkeit zu verlieren als ein Weg zur Befreiung und zur Unsterblichkeit für den Geist. Die schönste Kunst ist wertlos, wenn sie auf dem Hintergrund der Unendlichkeit betrachtet wird.
Nach und nach dämmerte ihm, dass der reine Intellekt, eine ausschließliche Aktivität des Verstandes, einen auf der Suche nach der Realität nicht weiterbringen konnte. Dann erinnerte er sich plötzlich an Christi Gebot, Gott zu lieben 'mit dem ganzen Herzen und mit all deinem Verstand'. Diese unerwartete Einsicht war so wunderbar wie der frühere Augenblick, als die östliche Vision eines überpersonalen Seins ihn bezaubert hatte, sich das Evangelium als ein Ruf zu den Gefühlen aus den Gedanken zu schlagen.
Nur hatte dieser frühere Augenblick das Dunkel erhellt wie ein Donnerschlag, während nun die Offenbarung leuchtete wie ein Blitz. Verstehen ohne Liebe war nicht genug. Tatsächliche Erkenntnis konnte nur durch Gemeinschaft des Seins kommen, welches Liebe bedeutete. Und so siegte Christus: Seine Lehre appellierte an seine Vernunft mit verschiedenen Untertönen, sie erreichte andere Dimensionen. Das Gebet an den persönlichen Gott wurde seinem Herzen wiedergegeben – direkt, zuerst und vor allem an Christus.
Er musste sich für einen neuen Lebensweg
entscheiden. Er schrieb sich in das damals neu eröffnete Pariser orthodoxe
theologische Institut ein, in der Hoffnung, darin unterrichtet zu werden, wie
er beten könne und um das richtige Verhältnis zu Gott [kennen zu lernen]; wie
er seine Leidenschaften überwinden und die göttliche Ewigkeit erreichen könne.
Aber die äußerliche Theologie brachte keinen Schlüssel zum Himmelreich hervor.
Er verließ Paris und begab sich auf den Weg zum Berg Athos, wo Menschen durch
das Gebet die Vereinigung mit Gott suchen. Er setzte den Fuß auf den Heiligen
Berg, küsste die Erde und flehte Gott an, er möge ihn annehmen und ihn in
seinem neuen Leben unterstützen. Danach hielt er Ausschau nach einem Ratgeber,
der ihm helfen könnte, ihn von einer Reihe von offensichtlich unlösbaren
Problemen zu befreien. Er warf sich mit Eifer in das Gebet wie er es vorher in
Frankreich getan hatte. Es war kristallklar, dass, wenn er Gott wirklich kennen
lernen wollte und mit Ihm vollständig eins sein wollte, er sich dieser Aufgabe
ganz widmen müsste und noch viel mehr als er es in früheren Jahren gegenüber
der Malerei getan hatte. Das Gebet wurde ihm sowohl Gewand als auch Atem, sogar
wenn er schlief, hörte es nicht auf. Verzweiflung verband sich in seiner Seele
mit dem Gefühl der Auferstehung: Verzweiflung über die Menschen auf der Erde,
die Gott verlassen hatte und in ihrer Unwissenheit starben. In manchen Zeiten,
während er für sie betete, wurde er zum Ringen mit Gott als ihrem Schöpfer
getrieben. Diese Schwingung zwischen den beiden Extremen der Hölle auf der
einen Seite und des Göttlichen Lichtes auf der anderen machten es nötig, dass
irgendjemand herausfinden sollte, was ihm widerfuhr. Aber weitere vier Jahre
sollten vor der ersten Begegnung mit Starez Siluan vorübergehen, welchen er
rasch als das kostbarste Geschenk erkannte, das ihm die Vorsehung jemals
gemacht hatte. Er hätte es nicht gewagt, von solch einem Wunder zu träumen,
obwohl er lange nach einem Starez gehungert und gedürstet hatte, der eine
starke Hand ausstrecken und die Gesetze des spirituellen Lebens erklären würde.
Für etwa acht Jahre saß er zu Füßen seines Gamaliel bis zum Tod des Starez, als
er um den Segen des Klostervorstehers und des Rates bat, um in die 'Einsamkeit'
zu gehen. Bald danach brach der Zweite Weltkrieg aus, Gerüchte von denen (keine
aktuellen Neuigkeiten drangen in die Einsamkeit) sein Gebet für die ganze
Menschheit bestärkt wurde. Er verbrachte die Nachtstunden hingestreckt auf dem
Boden seiner Zelle, indem er Gott anflehte, in das grausame Blutbad
einzugreifen. Er betete für diejenigen, die umgebracht wurden, für die, die
mordeten, für alle in Not. Und er betete, dass Gott nicht erlauben möchte, der
böseren Seite zu gewinnen.
Während der Kriegsjahre spürte die Einsamkeit
bemerkenswert mehr Ruhe und Rückzug als gewöhnlich, da die deutsche Besetzung
Griechenlands allen Verkehr auf der See rund um die Athos-Halbinsel untersagt
hatte. Aber des Autors gänzliche Zurückgezogenheit endete, als er sich genötigt
fühlte, Beichtvater und spiritueller Vater für die Brüder des Klosters des hl.
Paulus zu werden. Starez Siluan hatte vorausgesagt, dass er eines Tages ein
Beichtvater würde und hatte ihn ermahnt, nicht vor diesem Kreuzweg des Dienstes
am Menschen zurückzuschaudern – ein Dienst, der es erforderlich macht, sich
selbst dem Bittenden zu geben, ihn in sein eigenes Leben hinein zu nehmen,
indem man mit ihm seine tiefsten Gefühle teilte. Lange zuvor hatte man ihn zu
anderen Klöstern gerufen und Mönche von den kleinen Einsiedeleien des Athos,
Einsiedler und Einsame kamen zu ihm. Es war eine schwierige und harte
verantwortliche Aufgabe, aber er überlegte bei sich selbst, dass es seine
Pflicht war, es zu versuchen und die Hilfe zu vergelten, die er von seinen
Vätern in Gott erhalten hatte, die so liebenswürdig mit ihm das Wissen geteilt
hatten, das ihnen aus der Höhe geschenkt worden war. Er musste umsonst
weitergeben, was er umsonst empfangen hatte. Doch ein spiritueller Beichtvater
zu sein, ist keine leichte Aufgabe: es schließt ein die Übertragung der
Aufmerksamkeit für andere, die man bisher sich selbst zuwandte, das Schauen mit
phantasievoller Sympathie in die Herzen und Meinungen anderer, indem man um die
Probleme des Nachbarn ringt statt um die eigenen.
Nach vier Jahren Aufenthalt in einem entlegenen Flecken, umgeben von Felsspitzen und Bergen, mit wenig Wasser und fast keiner Vegetation, stimmte der Autor einem Vorschlag des Klosters des hl. Paulus zu, in eine Grotte auf ihrem Land zu kommen. Diese neue Zelle hatte viele Vorteile für einen Einsiedler-Priester. Es gab viele Eremiten in der Einsamkeit und sie waren darauf gerichtet, nahe beieinander zu siedeln, obwohl verborgen in der Sicht durch Felsblöcke und Abhänge. Hier außerhalb, ganz isoliert, gab es eine kleine Kapelle, etwa zehn mal sieben Fuß, aus der Felsoberfläche herausgeschlagen. Aber der Winter war eine schwierige Zeit. Der erste Regenfluss überflutete die zuvor trockene Zelle, und an jedem Tag für vielleicht sechs Monate war er gezwungen, mehrere hundert Eimer Wasser aufzuschöpfen und hinauszuschütten. Er stellte einige Eisenplatten auf, um das Wasser daran zu hindern sein Lager zu durchnässen. Nur die kleine Kapelle blieb trocken. Dort konnte er beten und seine Bücher aufbewahren. Überall sonst war es feucht. Unmöglich war es, ein Feuer anzuzünden und sich etwas zum Essen anzuwärmen. Am Ende, nach dem dritten Winter, zwang ihn die nachlassende Gesundheit, die Grotte zu verlassen, welche die seltene Möglichkeit bot, abgesondert von der Welt zu leben.
Nun entstand in ihm die Idee, ein Buch über Starez Siluan zu schreiben, die Unterweisungen aufzuzeichnen, die ihm so geholfen hatten, die Orientierungen in dem weiten Raum des Geistes zu finden, indem er ihn in die Wege des spirituellen Kampfes einwies. Um dieses Projekt auszuführen, musste er zurück in den Westen gehen – nach Frankreich, wo er sich mehr zuhause gefühlt hatte als in irgendeinem anderen Land Europas. Seine erste Absicht war, für ein Jahr zu bleiben, aber dann fand er, dass er mehr Zeit brauchte. Indem er unter schwierigen Bedingungen arbeitete, wurde er lebensgefährlich krank, und eine schwere Operation machte ihn zum Invaliden, was ihn veranlasste, jeden Gedanken an die Rückkehr in eine einsame Zelle auf dem Berg Athos beiseite zu legen.
Die vorläufige Herausgabe seines Buches über den Starez Siluan ließ er selbst vervielfältigen. Eine gedruckte Ausgabe folgte im Jahre 1952. Danach begannen die Übersetzungen: Zuerst ins Englische (Das unzerstörbare Bild), dann ins Deutsche, Griechische, Französische, Serbische mit Auszügen in noch anderen Sprachen. Die Reaktion der Asketen auf dem heiligen Berg war von besonderer Wichtigkeit für den Autor. Sie bestätigten das Buch als eine wahrhaftige Wiedergabe der alten Traditionen des östlichen Mönchtums und erkannten den Starez als spirituellen Erben der großen Väter von Ägypten, Palästina, vom Sinai und anderen historischen Schulen der Asketik, zurückgehend auf den Beginn der christlichen Ära, an.
Schiarchimandrit Sofronij fühlte sich überzeugt davon, dass der Befehl Christi "Halte deinen Geist in der Hölle und verzweifle nicht", durch Starez Siluan in besonderer Weise unserem Jahrhundert zugesprochen wurde, so überschwemmt es auch von Verzweiflung ist. ("Sind nicht die gefährlichen Zeiten gekommen, in denen Menschen sich selbst lieben werden...undankbar, unheilig...Friedensbrecher, falsche Ankläger...Verächter derer, die gut sind...mehr Liebhaber des Vergnügens als Liebhaber Gottes; die eine Form von Frömmigkeit haben, aber deren Macht verneinen...die immer lernen, aber niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können?").
Er glaubte auch, dass, wie der Starez jahrzehntelang mit solch außerordentlicher Liebe für die Menschheit gebetet hatte, indem er Gott ersuchte, der ganzen Menschheit zu gewähren, Ihn im Heiligen Geist zu erkennen, so würden auch die Menschen den Starez wiederlieben. Der russische Dichter Puschkin rief aus, dass kein Denkmal nötig wäre, um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten – seine Landsleute würden die Erinnerung an ihn lange pflegen, weil er in einer grausamen Zeit von Freiheit und Gnade für die Gefallenen gesungen hätte. Hatte der Starez in seiner Demut nicht der Menschheit einen noch edleren Dienst erwiesen? Er lehrte uns, die Verzweiflung zu überwinden, indem er erklärte, was hinter diesem schrecklichen geistigen Zustand liegt. Er enthüllte uns den lebendigen Gott und Seine Liebe für die Kinder Adams. Er lehrte uns, das Evangelium in seinen ewigen Aspekten zu interpretieren. Und für viele machte er das Wort Christi wirklich zu einem Bestandteil des alltäglichen Lebens. Darüber hinaus stellte er in unseren Seelen eine feste Hoffnung auf eine gesegnete Ewigkeit im Göttlichen Licht wieder her.
In diesem ganzen Buch bedenkt Schiarchimandrit Sofronij die Lehre seines geistlichen Vaters. Nicht alles davon wird beim ersten Lesen verständlich sein – tatsächlich ist es nicht leicht zu lesen. Die Form muss dem Inhalt geopfert werden, wenn der Übersetzer im unbequemen Gefängnis zwischen Sprachen gefangen ist; und in einem Werk dieser Art spricht der Autor oft quer über eine semantische Kluft. Wenige von uns haben eine Ahnung von dem Leben, wie es auf diesen Seiten beschrieben wird. Aber näheres Studium wird uns mit der athonitischen asketischen Lebensweise bekannt machen, und dann können wir mit Gewinn versuchen, einiges, was diese Lektionen uns lehren, auf unsere eigene Lage anzuwenden. Die Gnade, die Gottes Geschenk der Heiligkeit ist, hängt von dem Streben des Menschen nach Heiligkeit ab.
Der Autor glaubt brennend an die Vervollkommnung des Menschen und facht mit lauten und bewegenden Worten das Feuer in uns an. Er erklärt immer und immer wieder, dass das Gebet der sicherste Weg zur wahren Gotteserkenntnis ist. Gott ist für ihn Gegenwart, indem er Sich Selbst in allen Dingen manifestiert. Wir alle besitzen einen göttlichen Funken. Unsere Freiheit steht in direkter Entsprechung zu dem Grad von Bewusstsein, das wir besitzen. Nur das Ewige kann dem Leben Sinn geben. Der Zusammenbruch eines absoluten Wertes führt zum Zusammenbruch der relativen Werte. Wenn Gott zusammenbricht, so brechen auch Ehre, Ehrlichkeit, Treue und Ähnliches zusammen. Eine Kultur, eine Zivilisation kann nur so stark sein wie das innere Leben ihrer Menschen. Die einzige Revolution, über die wir nachdenken sollten, ist eine persönliche, private moralische Revolution.
Treu im Geist gegenüber der Verpflichtung, die ihm von seinem Starez auferlegt war, gründete Schiarchimandrit Sofronij eine kleine Kommunität in Essex, wo er zuerst alle aufnehmen wollte, die ihn um spirituelle Hilfe baten. Dann allerdings haben Alter und abnehmende Kraft ihn gezwungen, viele seiner früheren Aktivitäten seinen Mönchen zu überlassen, weil er sich verpflichtet fühlte, seine Kraft der Liturgie zu widmen. Die Stunden, in denen die Liturgie gefeiert wird, geben dem Tag seinen Sinn und sein Herz. Er lebt die Liturgie nicht in abstrakter Weise, sondern durch Hingabe und Liebe in dem Dickicht des menschlichen Leidens. Er ist bis zum Rand erfüllt mit dem Bewusstsein Gottes. Oft vermittelt er den Eindruck eines Mannes, der in Berührung steht mit unbekannten Formen des Seins, der tief im Schweigen das Licht sieht. Er ist klar, barmherzig und streng in seinen Urteilen, die einen zu neuen Einsichten anregen. Er hat die festen und gütigen Augen eines Asketen. Für ihn ist Schöpfung ein anderes Wort für Hoffnung. Wenn ein Mensch nur das besitzt, was er weggibt, dann ist er wirklich gesegnet.
Anhang
Nach dieser Einleitung von R.Edmonds in das Buch von Schiarchimandrit Sofronij "His Life is Mine" sei noch folgendes zur Biographie des russischen Starez ergänzt: Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte Schiarchimandrit Sofronij der Pariser Gemeinde "Der Kirche der Heiligen Drei Hierarchen" an. Zu den dortigen orthodoxen Priestern zählten auch der spätere Metropolit Antonij von Sourosh (Antonij Bloom) sowie der spätere Bischof Serafim von Zürich.
Schiarchimandrit Sofronij (Sacharov), der 22 Jahre auf dem Berg Athos blieb, davon 8 Jahre als "Schüler" von Starez Siluan (1866-1938), gab als Ergebnis seiner dortigen Kontakte mit dem Starez sein zweibändiges Werk "Starez Siluan-Mönch vom Berg Athos" (Düsseldorf 1980/81) heraus.1)
Nach dem Tode von Starez Siluan, der am 24. September 1988, seinem 50. Todestag, vom Ökumenischen Patriarchat heilig gesprochen wurde, lebte Schiarchimandrit Sofronij noch weitere sieben Jahre auf dem Berg Athos als Eremit. Fünf Jahre lang war er Spiritual mehrerer Athos-Klöster, bis er im Jahre 1947 den Berg Athos verließ. Nach seinem Frankreichaufenthalt gründete er dann in Essex/England das stauropegiale Kloster des hl. Johannes des Täufers. Zur Zeit der Heiligsprechung von Starez Siluan war Schiarchimandrit Sofronij 92 Jahre alt. Unter ihm war die Kirche des heiligen Siluan vom Berge Athos beim dortigen Kloster in Essex errichtet worden. Im Jahre 1985 erschien, herausgegeben vom Kloster Johannes des Täufers das von Schiarchimandrit Sofronij verfasste Buch "Gott schauen, wie er ist".2)
Schiarchimandrit Sofronij verstarb am 11. Juli 1993 im Alter von 97 Jahren.3) Er veröffentlichte Werke in russischer, französischer, griechischer und englischer Sprache. Sein großer literarischer Nachlass befindet sich im Kloster Johannes des Täufers in Essex.
Anmerkungen
1) Vgl. zu den unterschiedlichen Ausgaben dieses Werkes: Fairy von Lilienfeld, Starec Siluan und das Russland seiner Zeit, Ostkirchliche Studien 1999, S. 276. Die Autorin zieht die englischsprachige Übersetzung der deutschen Übersetzung vor, weil die Übersetzerin, R.Edmonds, besonders sorgfältig mit der "Wiedergabe typisch orthodoxer monastischer und hesychastischer Begriffe" umgegangen sei (a.a.O., S. 276, A. 12).
2) Vgl. dazu die Besprechung im Journal des Moskauer Patriarchats 1989, Nr. 7, S. 80.
3) Vgl. dazu den Nachruf in: Journal des Moskauer Patriarchats 1996, Nr. 4f, S. 45f.
2. Das
Rätsel des ICH BIN
Das ursprüngliche Sein wurde uns bekannt in dem
Namen ICH BIN DER ICH BIN [Ex 3,13f]. Wer immer durch eine lebendige Begegnung
mit Ihm gesegnet wurde, ist in gewissem Maße befähigt, die Manifestationen
Gottes zu werten, die das Alte und das Neue Testament beschreiben. Diese
fortschreitenden Offenbarungen der himmlischen Sphären sind von größter
Wichtigkeit, daneben jedes andere Ereignis in der historischen Welt in
Bedeutungslosigkeit verblasst. Nicht nur unsere säkulare Aktivität, sondern all
der Sinn, der den unendlichen Kosmos erfasst, ist eine Vorbereitung für das
unaussprechliche Wunder des Eintritts des Geistes in die lebendige Ewigkeit,
voll von Liebe.
Jahrhunderte gingen vorüber, bevor der wahre
Gehalt dieses erstaunlichen ICH BIN verstanden wurde. Denn alle Glut ihres
Glaubens, weder Moses noch die Propheten, die seine Erben waren, verstanden die
Fülle des Segens, der ihnen gewährt wurde. Sie erfuhren Gott in der Hauptsache
durch historische Ereignisse. Wenn sie sich Ihm im Geist zuwandten, so sannen
sie nach in Dunkelheit. Wenn wir, Kinder des Neuen Testaments, das Alte
Testament lesen, bemerken wir, wie Gott unseren Vorläufern zu vermitteln
suchte, dass dieses ICH BIN EIN WESEN ist und zugleich Drei Personen. Bei
Gelegenheit sprach er sogar von Sich als Wir. 'Und Gott sprach, lasst uns
Menschen nach unserem Bild machen, nach unserer Ähnlichkeit' [Gen
1,26]. 'Und Gott der Herr sagte, siehe, der Mensch ist geworden wie wir'
[Gen 3,22]. Und noch eine bemerkenswerte Angelegenheit widerfährt Abraham: drei
Männer erscheinen ihm, doch er wendet sich an sie, als ob sie einer wären [Gen
18,2ff].
Der Erwerb der Erkenntnis Gottes ist ein langsamer
Prozess, nicht zu erlangen in all seiner Fülle von Anfang an, obwohl Gott immer
ist und Seine jeweilige Manifestation unveränderlich Eine und unteilbare.
Christus benutzte eine einfache verständliche Sprache gegenüber den
Unkundigsten, aber was Er sagte, ging sogar über die Köpfe der weisesten Seiner
Zuhörer. 'Bevor Abraham war, bin ich' [Joh 8,35]. 'Ich und mein Vater sind
eins' [Joh 10,30]. 'Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen
und Wohnung bei ihm nehmen' [Joh 14,23]. 'Ich werde den Vater bitten, und er
wird euch einen anderen Tröster senden, der für immer bei euch wohnen wird'
[Joh 14,16]. (So ist jetzt ein Dritte Person eingeführt). 'Der Geist der
Wahrheit, welcher vom Vater hervorgeht, er wird Zeugnis für mich ablegen' [Joh
15,26].
Wir bemerken, dass Christus nur allmählich vom
Vater zu sprechen begann, und erst gegen das Ende Seines irdischen Lebens
sprach Er von dem Heiligen Geist. Gerade am Ende konnten die Jünger Ihn nicht
verstehen, und Er machte keine Versuche, ihnen das Bild des Göttlichen Wesens
zu erklären. 'Ich hätte euch noch viele Dinge zu sagen, aber ihr könnt sie
jetzt noch nicht ertragen' [Joh 16,12]. Stattdessen zeigte Er ihnen, wie wir
vollkommene Erkenntnis erlangen: 'Wenn ihr in meinem Worte bleibt...werdet ihr
die Wahrheit erkennen' [Joh 8,31f]. 'Der Heilige Geist...wird euch alle Dinge
lehren und euch alle Dinge in euere Erinnerung bringen, welche auch immer Ich
zu euch geredet habe' [Joh 14,26]. 'Wenn er, der Geist der Wahrheit gekommen
ist, wird er euch in alle Wahrheit leiten' [Joh 16,13]. Und Er kam und
offenbarte uns die Fülle der Göttlichen Liebe, aber das Geschenk war zu groß
für unser Verstehen. Doch er zieht sich nicht zurück, sondern wartet geduldig
auf uns, Ihn, Christus, zu lieben, 'die Kraft Gottes und die Weisheit Gottes'
[1 Kor 1,24], so wie Er uns liebt.
'Die Worte, die Ich zu euch spreche, sie sind
Geist und sie sind Leben' [Joh 6,63]. Es ist gerade dieses Leben, das wir nun
anschauen – Leben, erzeugt durch das Gebet, inspiriert aus der Höhe, durch
Liebe, die zu uns herab kommt, und vernünftige Erkenntnis des Ursprünglichen
Wesens.
Wie kann man den Zustand des Geistes beschreiben,
dem sich Gott als ICH BIN offenbart hat? Seine Nähe zum Herzen eines Menschen
ist so spürbar, dass Freude in Ihm ist wie Licht. Er ist freundlich und sanft,
und ich kann zu Ihm freundschaftlich sprechen, von Angesicht zu Angesicht, Ihn
ansprechen – 'Der Du bist'. Und zugleich realisiere ich, dass dieses ICH BIN
und dieses DU DER DU BIST das ganze Sein ist. Er ist ungeschaffen; aus sich
selbst existierend; unabhängig. Er ist Person im absoluten Sinn. Sein Bewusstsein
durchdringt alles, was existiert. 'Da ist nichts bedeckt, das nicht enthüllt
werden wird; und verborgen, das nicht bekannt werden
wird... Werden nicht zwei Sperlinge verkauft für einen Pfennig? Und nicht einer
von ihnen fällt zu Boden ohne den Willen meines Vaters. Aber die Haare deines
Hauptes sind alle gezählt' [Mt 10,26.29f]. 'Noch gibt es irgendeine Kreatur,
die nicht in seinem Blick ist, sondern alle Dinge sind nackt und offen vor
seinen Augen, mit denen wir es zu tun haben' [Hebr 4,13]. Jeder Moment unseres
Lebens, jeder Herzschlag ist in Seinen Händen. Er ist in Wahrheit das 'Licht,
in dem überhaupt keine Dunkelheit ist' [1 Joh 1,5]. Und es gibt niemanden und
nichts, das Seinem allessehenden Auge entkommen kann.
ICH BIN DER ICH BIN. Ja, wirklich, Er ist Der, Der Sein ist. Er allein lebt wahrhaftig. Alles gerufen aus
dem Abgrund des Nicht-Seins existiert allein durch seinen Willen. Mein
individuelles Leben, herunter bis zur kleinsten Kleinigkeit, kommt einzig von
ihm. Er füllt die Seele, indem Er sie immer enger an Sich bindet. Bewusste
Verbindung mit Ihm prägt einen Menschen für immer. Solch ein Mensch will jetzt
nicht mehr vom Gott der Liebe, den er kennen gelernt hat, weichen. Sein Geist
ist neu geboren. Bis jetzt war er geneigt, überall determinierte Prozesse zu
erkennen; nun beginnt er, alle Dinge im Licht der Person zu begreifen. Die
Erkenntnis des Persönlichen Gottes trägt einen wahren persönlichen Charakter.
[...]. Es gibt ein Ende für die tödliche Langeweile des Unpersönlichen. Die
Erde, das ganze Universum verkündigt ihn: 'Himmel und Erde lobet ihn, das Meer,
und alles, was darin ist' [Ps 69,34]. Und siehe, Er Selbst sucht mit uns zu
sein, uns den Überfluss Seines Lebens zu gewähren [vgl. Joh 10,10]. Und wir für
unser Teil dürsten nach diesem Geschenk.
Die Seele kennt ihn, aber kann ihn nicht umfassen,
und darin liegt ihre Qual. Unsere Tage sind erfüllt mit der Sehnsucht, mit
jeder Faser unseres Seins in die Göttliche Sphäre einzudringen. Unser Gebet
muss brennend sein, und vielseitig ist die Erfahrung, die gegeben wird. In
unseren Herzen scheint es subjektiv – zu urteilen durch die Liebe, deren
Berührung wir fühlen – dass die Erfahrung dem Zweifel nicht offen stehen kann.
Aber trotz der alles-umarmenden Woge seiner Liebe, trotz des Lichtes, worin sie
erscheint, wäre es nicht falsch, sondern gefährlich, sich ausschließlich darauf
zu verlassen. Aus der Heiligen Schrift wissen wir, dass die allerreinste
Jungfrau Maria zu ihrer Base Elisabeth eilte, um von ihren Lippen zu vernehmen,
ob die Offenbarung wahr sei, dass sie empfangen habe – dass ihr ein Sohn
geboren würde, der groß sei und der Sohn des Höchsten Gottes genannt würde; und
dessen Reich kein Ende habe [vgl. Lk 1,32f]. Der hl. Paulus 'wurde ins Paradies
geführt und hörte unsagbare Worte' [vgl. 2 Kor 12,4], bietet ein anderes
Beispiel. 'Es hat Gott gefallen...Seinen Sohn in mir zu offenbaren' [Gal 1,16];
trotzdem ging er zweimal nach Jerusalem, um sich Petrus und den anderen zu
unterwerfen 'die einen guten Ruf hatten' [ Gal 2,1f],
das Evangelium, das er predigte 'ob meine Arbeit vergeblich wäre oder gewesen
wäre' [Gal 2,1f]. Die Geschichte der Kirche bietet unzählbare solcher
Beispiele, und so lernen wir diejenigen mit mehr Erfahrung zu fragen, um zu
urteilen, ob unser Fall nicht bloß Einbildung ist, sondern Gnade, die aus der
Höhe kommt. Wir halten Ausschau nach zuverlässigen Zeugen, die nur in der
Kirche gefunden werden können, deren jahrhundertelange Erfahrung unendlich
reicher und tiefer ist als unsere individuelle. Solche in weiter Entfernung
waren die Apostel, die uns im Evangelium und in ihren Briefen die Erkenntnis
hinterließen, die sie direkt von Gott empfangen hatten. Ihnen folgten durch
eine Sukzession der Väter (Gelehrte und Asketen), die vor allem durch
Jahrhunderte den Geist des Lebens selbst, indem sie häufig ihr Zeugnis
unterstützend schriftlich weitergaben. Wir glauben, dass es zu jedem gegebenen
historischen Augenblick möglich ist, lebendige Zeugen zu finden; am Ende der
Zeit wird die Menschheit niemals der genuinen Erkenntnis, Gott betreffend,
beraubt sein. Nur nach autoritativer Bestätigung können wir unserer
persönlichen Erfahrung trauen und sogar dann nicht bis zum Höchstmaß. Unser
Geist sollte nicht in seinem Impuls gegenüber Gott erschlaffen. Und bei jedem
Schritt ist es wesentlich sich zu erinnern, dass selbstbewusste Isolation mit
der Möglichkeit des Überschreitens gegen die Wahrheit beladen ist. So werden
wir nicht aufhören, sorgfältig zum Heiligen Geist zu beten, dass Er unseren Fuß
vor dem Pfad der Unwahrheit bewahrt.
Von der Zeit der Apostel lebten die Gläubigen in
ihrem Gebet die einzigartige Wirklichkeit des Einen Gottes in dem Vater, dem
Sohn und dem Heiligen Geist. Menschliche Sprache hat niemals eine befriedigende
logische Terminologie für den Ausdruck spiritueller Erfahrung und Erkenntnis
Gottes als von Gott Selbst verkündigt gefunden. Alle Worte, die neue Erkenntnis
und neues Leben von Generation zu Generation übertragen haben, haben im einem oder anderen Maß die genuine Kontemplation Gottes
verdunkelt. Betrachte zum Beispiel zwei der Formulierungen zur Definition der
Einheit. Die eine, die wir allgemeiner antreffen, betont die Einheit der
Substanz. Gott wird verstanden als Eine absolute Objektivität in Drei absoluten
Subjekten. Um die Betonung von Substanz auf Person zu übertragen – welches mit
der Offenbarung des ICH BIN beständiger ist – interpretiert die zweite Theorie
ICH BIN als ein einziges absolutes Subjekt, das in sich Selbst ICH, DU und Wir
verbindet. (Dies ist die Annahme, die Professor Bulgakov in seinen Schriften
entwickelt). Die erste Formulierung, die bezweckt, die Fülle der Göttlichkeit
in jeder Hypostase zu zeigen, tendiert sozusagen dahin, die Drei zu teilen. Die
zweite, in der das personale Prinzip fundamental ist, führt zur Vermischung der
Personen.
Die Kirche überwand die Inadäquatheit der Sprache
durch die Benutzung negativer Aussageweisen – indem sie uns lehrte, dass die
Personen der Trinität 'weder die Personen vermischten noch die Substanz
trennten'. Und wo es eine Frage der Inkarnation des Logos gibt, wird die
Definition komplizierter durch die Hinzufügungen: 'nicht durch Verwandlung'
('der Gottheit ins Fleisch') 'ohne Trennung' (Eines zusammen...durch Einheit
der Person') [vgl. Athanasianisches Glaubensbekenntnis]. So wird unser rational
arbeitender Geist in einem Fehler ergriffen, unfähig, sich zur einen oder
anderen Seite zu neigen wie eine auf ein Kreuz genagelte Gestalt.
Kontemplation ist ein Gegenstand nicht von
wörtlichen Darlegungen, sondern der lebendigen Erfahrung. Im reinen Gebet
werden der Vater, der Sohn und der Geist in ihrer konsubstantialen Einheit
geschaut.
Das Evangelium sagt: 'So sehr hat Gott die Welt
geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben,
nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben' [Joh 3,16]. Der Heilige
Geist führt uns ein in das Reich Göttlicher Liebe, und wir leben nicht nur
diese Liebe, sondern beginnen zu verstehen, dass, wenn Gott, der Erste und der
Letzte, mono-hypostatisch (das heißt: eine Person) wäre, Er dann nicht Liebe
wäre. Moses, der die Offenbarung ICH BIN im Sinne einer einzelnen Hypostase
interpretierte, gab seinem Volk das Gesetz. Aber 'Gnade und Wahrheit wurden
durch Jesus Christus' [Joh 1,17]. Die Trinität ist der Gott der Liebe: 'Die
Liebe des Vaters, die kreuzigt; die Liebe des Sohnes, die gekreuzigt wird; die
Liebe des Heiligen Geistes, die siegreich ist' (Metropolit Filaret von Moskau).
Jesus, der wusste ' dass seine Stunde gekommen war, dass er aus dieser Welt zum
Vater gehen sollte, bewies den Seinen, die in der Welt waren, die Liebe, die er
zu ihnen gehegt hatte, bis zum letzten Augenblick [Joh 13,1]. Dies ist unser
Gott. Und es gibt keinen anderen, der ihn rettet. Der Mensch, der durch die
Gabe des Heiligen Geistes den Atem Seiner Liebe erfahren hat, weiß mit seinem
ganzen Wesen, dass solche Liebe kostbar ist gegenüber der dreieinigen Gottheit,
die uns offenbart ist als die vollkommene Gestalt des Absoluten Seins.
Zu lieben heißt zu leben für und in dem Geliebten,
dessen Leben unser Leben wird. Liebe führt zur Einzigartigkeit des Seins. So
ist es innerhalb der Trinität. 'Der Vater liebt den Sohn' [Joh 3,35]. Er lebt
in dem Sohn und in dem Heiligen Geist. Der Sohn 'bleibt in der Liebe des
Vaters' [Joh 15,10] und in dem Heiligen Geist. Und den heiligen Geist kennen
wir als vollkommene Liebe. Der heilige Geist geht ewig von dem Vater aus und
lebt in Ihm und lebt im Sohn. Diese Liebe macht die ganze Summe des Göttlichen
Seins zu einem einzigen ewigen Akt. Nach dem Muster dieser Einheit muss die
Menschheit auch ein Mensch werden. ('Ich und mein Vater sind eins') [Joh
10,30]. 'Dass sie alle eins seien; wie Du, Vater, in mir bist und ich in Dir,
dass sie auch in uns eins sein mögen' [Joh 17,21].
Christi Gebot ist die Projektion himmlischer Liebe
auf die irdische Ebene. Verwirklicht in ihrem wahren Umfang, macht sie das
Leben der Menschheit dem Leben des dreieinigen Gottes gleich. Der Beginn eines
Verstehens dieses Mysteriums kommt mit dem Gebet für die ganze Welt wie für
einen selbst. In diesem Gebet lebt man die Konsubstantialität der menschlichen
Gattung. Es ist wesentlich herauszugehen von abstrakten Bezeichnungen zu
existentiellen – das heißt, zu ontologischen Kategorien.
Innerhalb des Lebens der Trinität ist jede
Hypostase der Träger der ganzen Fülle des Göttlichen Seins und deshalb
dynamisch der Trinität als ganzer gleich. Die Fülle des Gott-Menschen zu
erlangen heißt, dynamisch der Menschheit als ganzer gleich zu werden. Darin
liegt der wahre Sinn des zweiten Gebots, welches wirklich ist, 'wie das erste'
[Mt 22,39].
Die Vollkommenheit der uns gegebenen Offenbarung
ist unausschöpflich. Als geschaffene Wesen sind wir nicht fähig, endgültig,
vollkommen das unerschaffene Erste Sein auf die Weise zu erkennen, wie Gott
Sich Selbst kennt. Der hl. Paulus jedoch sieht nach vorne in Hoffnung. 'Denn
jetzt sehen wir durch einen Spiegel, dunkel...nun erkenne ich nur stückweise;
aber dann werde ich erkennen wie ich erkannt bin' [1 Kor 13,12].
In der Geschichte der christlichen Welt beobachten
wir zwei theologische Richtungen; eine, Jahrhunderte lang andauernd passte die
Offenbarung betreffend den dreieinigen Gott unserer Denkweise an; die andere
ruft uns zur Reue, zu einer radikalen Umwandlung unseres ganzen Seins durch das
gemäß dem Evangelium gelebte Leben. Das erste ist lobenswert, sogar historisch
wesentlich, aber wenn es vom Leben getrennt ist, ist es zum Scheitern
verurteilt. 'Jesus sagte: Wenn ein Mensch mich liebt, wird er meine Worte
halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und
Wohnung bei ihm nehmen' [Joh 14,23]. Dies ist unser christlicher Weg zur
vollkommenen Erkenntnis. Das Wohnen in uns von Vater und Sohn und untrennbar
von Ihnen der Heilige Geist, wird uns wahre Gotteserkenntnis geben.
Der hl. Symeon der Neue Theologe (949-1022)
erwähnt im Hymnos 17 die Blinden und Ungläubigen, die nicht die Lehre der
Kirche annehmen, dass der Unsichtbare, Unzerstörbare Schöpfer auf die Erde kam
und in Sich Selbst die zwei Naturen vereinigte (die Göttliche und die eine
geschaffene des Menschen), indem er erklärte, dass niemand aus seiner eigenen
Erfahrung dies erkannt, gelebt hat oder es klar geschaut hat. Aber in anderen
Hymnen wiederholt der hl. Symeon mit der äußersten Überzeugung, dass solche
Erfahrung ihm immer und immer wieder geschenkt worden sei. Wenn das
unzerstörbare göttliche Licht dem Menschen mitgeteilt wird, wird der Mensch
wirklich sozusagen Licht. Die Verbindung von beiden – von Gott und Mensch –
wird durch den Willen des Schöpfers vollbracht und im Bewusstsein von beiden.
Wenn dies unerkannt vorüberginge, dann wäre – wie der hl. Symeon sagt – die
Verbindung die von Toten, nicht von Lebenden. Aber wie könnte ewiges Leben,
unbemerkt von ihm, in den Menschen eintreten? Wie könnte es für das Göttliche
Licht möglich sein, fährt er fort, wie Licht in der Nacht oder eine große
Sonne, in das Herz und in den Geist des Menschen zu scheinen und für den
Menschen nicht als solch sublimes Ereignis bewusst sein? In der Vereinigung mit
Seiner Ähnlichkeit gewährt Gott wahre Erkenntnis von Sich Selbst wie Er ist.
Durch den Heiligen Geist wird auch der Sohn bekannt mit dem Vater. Und der
Mensch erschaut sie, insoweit er fähig ist.
Für uns Christen ist Jesus Christus das Maß aller
Dinge, der göttlichen und der menschlichen. 'In Ihm wohnte die Fülle der
Gottheit' [Kol 2,9] und der Menschheit. Er ist unser vollkommenstes Ideal. In
Ihm finden wir die Antwort auf all unsere Probleme, die ohne Ihn unlösbar
wären. Er ist in Wahrheit die mystische Achse des Universums. Wenn Christus
nicht der Sohn Gottes wäre, dann wäre die Rettung durch die Annahme des
Menschen durch Gott den Vater ganz unbegreiflich. Mit Christus geht der Mensch
voran in die göttliche Ewigkeit.
3. Das Wagnis in der
Schöpfung
Etwas Neues hervorzubringen ist immer ein Spiel,
und Gottes Schöpfung des Menschen nach Seinem Bild und nach Seiner Ähnlichkeit
schloss einen gewissen Grad von Wagnis ein. Es war nicht dies, dass er gewagt
hatte, ein Element von Instabilität oder Erschütterung in Sein Ewiges Sein
einzuführen, sondern dem Menschen eine gott-ähnliche Freiheit zu geben, die
Türe gegen Prädestination in jeder Form abschloss. Der Mensch ist in völliger
Freiheit, sich selbst negativ in Beziehung zu Gott zu bestimmen – sogar in
Streit mit Ihm einzutreten. Als unendliche Liebe kann der himmlische Vater den Menschen
nicht verlassen, den Er für die Ewigkeit geschaffen hat, um ihm Seine göttliche
Fülle mitzuteilen. Er lebt mit uns unsere menschliche Tragödie.(1) Wir schätzen dieses Wagnis, in seiner Majestät so
atemberaubend, wenn wir das Leben Christi auf Erden betrachten.
Nach langem Studium von Michelangelos Jüngstem
Gericht in der Sixtinischen Kapelle entdeckte ich eine teilweise Analogie
in dem Fresko mit meiner Vorstellung der Erschaffung der Welt. Sieh auf
Christus auf dem Fresko bei der Geste, die Er macht. Wie irgendein Preissieger
schleudert Er alle in den Abgrund, die gewagt haben, sich ihm zu widersetzen.
Die ganze unermessliche Oberfläche wimmelt von Menschen und Engeln, erschrocken
vor Furcht. Schwebend in irgendeinem weiten Raum sind alle weniger in ihre
eigene Not versunken, sondern in den Zorn Christi. Er ist das Zentrum und Sein
Zorn ist schrecklich. Dies – ich bin sicher – entspricht nicht dem, wie ich
Christus sehe. Michelangelo besaß großes Genie, aber nicht für liturgische
Inhalte.
Wir wollen das Fresko anders gestalten. Christus
muss natürlich im Zentrum sein, aber ein unterschiedlicher Christus, mehr in
Beziehung zur Offenbarung, die wir von Ihm haben: Christus unermesslich mächtig
mit der Macht der anspruchslosen Liebe. Sein ist nicht die siegerhafte Geste.
Indem Er uns als freie Wesen geschaffen hat, nahm er die Wahrscheinlichkeit
vorweg, vielleicht die Unvermeidbarkeit der Tragödie des menschlichen Falls.
Indem Er uns aus dem Dunkel des Nicht-Seins ruft, schleudert uns seine
schicksalshafte Geste in das geheime Reich des kosmischen Lebens. 'An allen
Orten und alle Dinge erfüllend', bleibt Er uns für immer nahe. Er liebt uns
trotz unseres gefühllosen Verhaltens. Er redet zu uns, ist immer bereit, auf
unsere Rufe nach Hilfe und Führung unserer zerbrechlichen Schritte durch alle
die Widerstände, die auf unserem Weg liegen, zu antworten. Er respektiert uns
als ebenbürtig. Seine endgültige Idee für uns ist, uns in Ewigkeit wahrlich als
Seine Gleichgestellten, Seine Freunde und Brüder, die Söhne des Vaters zu
sehen. Dafür kämpft Er, danach sehnt Er sich. Dies ist unser Christus, und als
Mensch sitzt Er zur rechten Hand des Vaters.
Zu Beginn erschafft Gott unseren Geist als reine
Möglichkeit. Was folgt, hängt nicht gänzlich von Ihm ab. Der Mensch ist frei,
nicht zuzustimmen, sogar Ihm Widerstand zu leisten. Es entsteht eine Situation,
in der wir selbst unsere ewige Zukunft bestimmen – immer natürlich in Beziehung
zu Ihm; ohne Ihn könnten wir nicht existieren. Und wenn wir eine geheiligte
Ewigkeit suchen, die wesentlich ihm allein zugehört, dann muss alle unsere
Handlung, alle unsere schöpferische Aktivität sehr gewiss nicht getrennt von
Ihm, sondern zusammen mit Ihm und in Ihm voranschreiten.
Geboren als reine Möglichkeit, muss unser Geist
weiterschreiten, unser Wesen (Sein) als Hypostase zu aktualisieren. Wir müssen
wachsen, und dieses Wachstum ist verbunden mit Qual und Leiden. Wie fremd auch
immer es erscheinen mag, Leiden ist unumgänglich für die Bewahrung des Lebens,
geschaffen aus dem Nichts. Wenn Lebewesen nicht Hunger fühlen würden, so würden
sie niemals irgendeine Anstrengung machen, Nahrung zu finden, sondern würden
einfach da liegen und sterben. In gleicher Weise zwingt akutes Unbehagen den
primitiven Menschen, Nahrung zu suchen. Dann, wenn er zu rationaler Erkenntnis
fortschreitet, entdeckt Leiden seinem kontemplativen Geist sowohl seine eigene
Unvollkommenheit als auch die der umgebenden Welt. Dies zwingt ihn, die
Notwendigkeit nach einer neuen Gestalt schöpferischer Anstrengung zu erkennen,
um das Leben in all seinen Manifestationen zu vervollkommnen. Später wird er
bei einer bestimmten Auffassung des Obersten Seins ankommen, die seine Seele
inspirieren wird, um nach besserer Erkenntnis von Ihm zu suchen. Und so fort,
bis er realisiert, dass dieses Ursprüngliche Sein, Dessen Verständnis ihn
zuerst veranlasste, es zu schätzen, nicht die Zusammenkunft mit ihm
zurückweist; und im Licht dieser Beziehung wird der Tod als eine Absurdität
betrachtet, die eigentliche Möglichkeit, gegen die schonungslos gekämpft werden
muss. Und die Geschichte hat gezeigt, dass viele von denen, die diesen Krieg
mit unermüdlicher Energie führten, sogar während sie noch hier auf der Erde
waren, im Geist das ewige Königreich des lebendigen Gottes schauten und
übergingen vom Tod zum unendlichen Leben in dem Licht des Göttlichen Seins.
Lasst uns noch einmal die dramatische Geste
'unseres' Christus betrachten, der den Menschen, den Er frei geschaffen hat,
wie ein wundervolles Saatkorn in die Welt wirft, die für ihn bereitet ist. Die
Bewegung ist die eines Sämanns, der Saat auf die Erde wirft, die gepflügt und
vorbereitet wurde.
Der Grundstein für unsere christliche Theologie
ist die Offenbarung: 'Im Anfang war das Wort...und das Wort war Gott...Alle
Dinge sind durch ihn geworden; und ohne ihn ist nichts geworden, was geworden
ist: In ihm war das Leben' [Joh 1,1.3f]. Aber die gegenwärtige Wissenschaft
fordert, dass im Beginn das Hydrogen war, und von diesem Atom durch einen
evolutionären Prozess über Milliarden von Jahren sich alles andere entwickelte.
Das wissenschaftliche Prinzip – die Objektivierung des Kosmos zusammen mit
objektiver Erkenntnis – ist nur anwendbar, wo die Gesetze der Natur absolut
vorherrschen. Es ist nicht deutlich, auf welcher Basis viele Wissenschaftler
die Möglichkeit anderer Formen des Seins zurückweisen – des freien,
nicht-determinierten Seins. Wir wissen, dass Ursprüngliches Sein außerhalb der
Gehege der Wissenschaft liegt, die uns sogar nichts vom Sinn unserer Existenz
sagen kann.
Auf alle Fälle bemerken wir mit beiden Richtungen
des Denkens, die sich so radikal voneinander unterscheiden, zwei
entgegengesetzte Tendenzen in der menschlichen Seele. Diejenigen auf der einen
Seite, die das, für sie sinnlose, Leiden verabscheuen, verbunden mit dem Leben
auf der Erde und, durch Verlängerung die Existenz im allgemeinen nicht lieben,
fühlen sich seltsam hingezogen zur geheimnisvollen alles-durchdringenden Ruhe
des Nichts. Andere versuchen, Christus zu folgen; unsere irdische Schwachheit
zu beherrschen und göttliche Ewigkeit zu erlangen, indem sie in ihren
Anstrengungen bemüht sind, tiefer in die Geheimnisse der ungeschaffenen
Methoden des Seins einzudringen, die als unerträglich absurd angesehen werden
können. 'Weil wir lieber nicht erst entkleidet, sondern überkleidet werden
möchten, damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde' [2 Kor 5,4] – das
Gegenteil der Philosophie und asketischen Theorie der Entblößung des Seins.
Wir Christen akzeptieren das wunderbare Geschenk
des Lebens mit Danksagung. Von Christus gerufen, kämpfen wir für die
vollkommenst mögliche Erkenntnis der Ursprünglichen Quelle von allem, was
existiert. Von unserer Geburt an wachsen wir allmählich und treten in den
Besitz des Seins ein. Christus ist für uns 'der Weg, die Wahrheit und das
Leben' [Joh 14,6]. Mit ihm führt unser Weg durch eine große und komplizierte
spirituelle Kultur: wir überqueren kosmische Abgründe, öfter mit viel Leiden,
aber nicht selten in Begeisterung, wie das Verstehen anwächst. Für eine Weile
ist der wachsende Prozess mit unserem physischen Körper verbunden; aber die
Zeit kommt bald, wenn, befreit von irdischen Ketten, Vernunft und Geist ihren
Weg zum Himmlischen Vater fortsetzen können. Wir wissen, dass Er uns liebt und
aufgrund dieser Liebe offenbart er Sich uns ohne Begrenzung. Es kann nur
teilweise sein, aber wir wissen, dass in Ihm unsere Unsterblichkeit liegt; in
Ihm werden wir bei der ewigen Wahrheit ankommen. Er wird uns die
unbeschreibliche Freude der Teilnahme in jeder Handlung der Göttlichen
Schöpfung der Welt gewähren. Wir hungern nach völliger Einheit mit Ihm. Er ist
Licht, Schönheit, Weisheit, Liebe. Er schenkt unserem Leben den edelsten Sinn
und die Freude unendlicher Erkenntnis.
Die Art des persönlichen Seins, die wir bei
unserer Geburt empfingen – Sein als Potentialität, die wir teilweise schon
verwirklicht haben – konnte sich niemals aus einem hydrogenen Atom entwickeln,
jedoch in vielen Myriaden von Jahren und aus welchen auch immer wunderbaren und
unvorhersehbaren 'Zufällen' konnte es geschehen. Die ontologische Distanz ist
zu weit zwischen dem atomaren Zustand des materiellen Seins und diesem Zustand
des Seins, den wir schon besitzen, und den wir gewiss sind, vollendet und
erfüllt zu haben.
Es ist natürlich, dass wir als Christen gemeinsam
die Perspektive der Betonung des Evangeliums über unsere persönliche Beziehung
zu Gott erforschen sollten. Wenn der Heilige Geist, indem er Seine Wohnung in
uns nimmt, uns gewährt, die Liebe zu leben, die uns von Christus befohlen ist,
haben wir eine Ahnung, dass dies der einzig normale Zustand für unseren
unsterblichen Geist ist; dass wir in diesem Zustand die göttliche Universalität
Christi und Seiner Gebote erfassen. Dies ist die Wahrheit, die gleiche, die
keinen Raum für den Zweifel in Herz oder Sinn läßt. Es ist die Rettung, die uns
durch die Kirche gelehrt wird. (Ich spreche jetzt nicht vom ethischen, sondern
vom ontologischen Inhalt des Evangeliums). Diese Liebe ist wesentlich ein
göttlicher Akt, die Macht, die sich niemals verringert, sondern ewig in ihrer
Fülle beharrt.
Als Er unsere Natur in ihrem gefallenen Zustand
annahm, erneuerte Christus, der Logos des Vaters, Ihn, wie Er war und für immer
in dem schöpferischen Willen des Vaters ist. Die Inkarnation des eingeborenen
Sohnes ist die Manifestation des Göttlichen in unserer Gestalt des Seins. Nun
ist das Geheimnis des Weges der Rettung geoffenbart.
O Gott der Vater,
der du ewig gesegnet bist;
Der uns gerufen hat zur ewigen Ehre in Jesus Christus,
Christus ohne Sünde, Der die Sünden der Welt getragen hat,
und Sein Leben auf das Kreuz legte, damit wir für immer leben sollten;
Der in der Schwäche des menschlichen Fleisches
das Bild Deiner Vollendung manifest machte –
Wir flehen Dich, Allerheiligster Vater an,
erfülle uns aus der Höhe mit Deiner Kraft,
damit wir in Seinen Spuren folgen können.
Mache uns gleich in der Gottheit Deinem Sohn
in dieser stolzen, unbeständigen Zeit,
damit der Weg Deiner Wahrheit keine Gotteslästerung erleide
aufgrund unserer Unwahrheit,
noch entweiht werde durch die Söhne des Widersachers.
Anmerkung:
(1) Dies ist ein wichtiger Gedanke in der
Religionsphilosophie N.Berdjaevs (1874-1948).
4.
Die Tragödie des Menschen
Die Tragödie unserer Zeit liegt in unserer beinahe vollkommenen Unkenntnis oder Rücksichtslosigkeit hinsichtlich dessen, dass es zwei Reiche gibt, das zeitliche und das ewige. Wir möchten das Himmelreich auf Erden bauen, indem wir jede Vorstellung von Auferstehung oder Ewigkeit zurückweisen. Auferstehung ist ein Mythos.
Wir wollen zur biblischen Offenbarung zurückkehren, zur Erschaffung von Adam und Eva und dem Problem der Ursünde. 'Gott ist Licht und in ihm ist überhaupt keine Finsternis' [1 Joh 1,5]. Die Weisung, die dem Erstgenannten [Adam] im Paradies gegeben wurde, zeigt dies an, und zugleich übermittelt er folgendes: Obwohl Adam absolute Wahlfreiheit besaß, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, sollte dies doch den Bruch mit Gott als der einzigen Quelle des Lebens mit sich bringen. Durch die Wahl der Erkenntnis des Bösen – mit anderen Worten, durch existentielle Verbindung mit dem Bösen, durch den Genuss des Bösen – brach Adam unvermeidlich mit Gott, Der in keiner Weise mit dem Bösen verbunden werden kann [vgl. 2 Kor 6,14f]. Im Bruch mit Gott stirbt Adam. 'An dem Tag, da du davon isst', obwohl du Gemeinschaft mit mir hast, indem du meine Liebe, mein Wort, meinen Willen zurückweist, 'wirst du mit Sicherheit sterben' [Gen 2,17]. Wie genau Adam die Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen versuchte, ist nicht wichtig. Seine Sünde war, an Gott zu zweifeln, zu versuchen, sein eigenes Leben unabhängig von Gott zu bestimmen, sogar abgesehen von Ihm, nach dem Muster Luzifers. Hierin liegt das Wesen von Adams Sünde – es war eine Bewegung zur Selbst-Vergöttlichung. Adam konnte natürlich die Vergöttlichung wünschen – er war geschaffen worden nach dem Bilde Gottes – aber er sündigte, indem er diese Vergöttlichung nicht durch die Einheit mit Gott, sondern durch Raub suchte. Die Schlange betrog Eva, die Gehilfin, die Gott für Adam gemacht hatte, indem sie einflüsterte, dass Gott ein Verbot eingeführt hätte, das ihre Freiheit behindern würde, um die göttliche Fülle der Erkenntnis zu suchen – dass Gott unwillig ihnen gegenüber war, Götter zu werden, die Gutes und Böses erkannten' [Gen 3,5].
Ich begegnete zuerst dem Begriff der Tragödie, aber nicht im Leben, sondern in der Literatur. Die Saat der Tragödie, so schien es mir in meiner Jugend, wird gesät, wenn ein Mensch sich selbst gänzlich von irgendeinem Ideal bezaubert findet. Um dieses Ideal zu erreichen, ist er bereit, jedes Opfer zu bringen, jedes Leiden, sogar das Leben selbst. Aber wenn es ihm gelingt, den Gegenstand seines Kampfes zu erreichen, scheint es eine unverschämte Chimäre zu sein: die Wirklichkeit enstspricht nicht dem, was er im Sinn hatte. Diese böse Entdeckung führt zu tiefer Verzweiflung, einem verwundeten Geist, einem furchtbaren Tod.
Verschiedene Menschen haben verschiedene Ideale. Da gibt es den Ehrgeiz nach Macht wie bei Boris Godunov. Bei der Verfolgung seines Zieles endete er nicht beim Blutvergießen. Er empfand, dass er nicht erreicht hatte, was er erwartet hatte. 'Ich habe die Höhe der Macht erreicht, doch meine Seele kennt kein Glück'. Obwohl die Interessen des Geistes eine vornehmere Frage veranlassen, realisiert der Genius des Reiches der Wissenschaft oder der Kunst früher oder später seine Unfähigkeit, seine anfängliche Vision zu vollziehen. Wiederum ist die logische Lösung der Tod.
Das Schicksal der Welt beunruhigte mich tief. Das menschliche Leben, auf welcher Stufe auch immer, war unvermeidlich verbunden mit Leiden. Sogar die Liebe war erfüllt von Widersprüchen und bitteren Krisen. Das Siegel der Zerstörung lag überall.
Ich war noch ein junger Mensch, als die Tragödie der historischen Ereignisse alles übertraf, was ich in Büchern gelesen hatte. (Ich beziehe mich auf den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, bald gefolgt von der Revolution in Russland). Meine jugendlichen Hoffnungen und Träume brachen zusammen. Aber zur gleichen Zeit eröffnete sich mir eine neue Vision der Welt und ihres Sinnes. Seite an Seite mit der Verwüstung schaute ich eine Wiedergeburt. Ich sah, dass es keine Tragödie in Gott gab. Die Tragödie wird allein in den Schicksalen des Menschen gefunden, dessen Blick nicht jenseits der Grenzen dieser Erde gegangen ist. Christus Selbst ist keineswegs ein Beispiel für eine Tragödie. Noch sind Seine allkosmischen Leiden von tragischer Natur. Und der Christ, der die Gabe der Liebe Christi empfangen hat, all sein Bewusstsein ist noch nicht vollkommen, entgeht dem Gespenst des allesverzehrenden Todes. Christi Liebe war während der ganzen Zeit, da Er bei uns wohnte, akutes Leiden. 'O glaubensloses und böses Geschlecht', rief Er, 'Wie lange soll ich euch noch ertragen?' [Mt 17,17]. Er weinte um Lazarus und seine Schwestern [vgl. Joh 11,35]. Er trauerte über die Hartherzigkeit der Menschen, welche die Propheten töteten [vgl. Mt 23,37]. In Gethsemane war seine Seele 'äußerst betrübt, sogar bis zum Tod' und 'sein Schweiß war wie große Blutstropfen, die zur Erde fielen' [Mt 26,38; Lk 22,44]. Er lebte die Tragödie der ganzen Menschheit; aber in Ihm selbst gab es keine Tragödie. Dies ist offensichtlich aus den Worten, die Er zu Seinen Schülern sprach, vielleicht nur eine kurze Zeit vor Seinem Erlösungsgebet für die ganze Menschheit im Garten: 'Meinen Frieden gebe ich euch' [Joh 14,27]. Und wenig später: 'Ich bin nicht allein, weil der Vater bei mir ist. Diese Dinge habe ich zu euch gesprochen, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst: aber seid getrost; Ich habe die Welt überwunden [Joh 16,32f]. So ist es auch mit dem Christen: für all sein tiefes Leiden, seine Tränen und Gebete für die Welt gibt es keine Verzweiflung, die zerstört. Bewusst des Atems des Heiligen Geistes, wird er des unvermeidlichen Sieges des Lichtes versichert. Die Liebe Christi, sogar in der akutesten Qual des Leidens (was ich die 'Hölle der Liebe' nennen möchte), weil sie ewig ist, ist frei von Leiden. Bis wir höchste Freiheit vom Leiden auf dieser Erde erreichen, können Leiden und Erbarmen den Körper erschöpfen, aber es ist nur der Körper, der stirbt. 'Fürchtet nicht die, die den Körper töten, aber nicht in der Lage sind, die Seele zu töten' [Mt 10,28].
Wir können sagen, dass auch heute die Menschheit als ganze nicht zum Christentum erwachsen ist und fortfährt, eine meist rohe Existenz zu führen. In der Zurückweisung Christi als Ewigen Menschen und, noch wichtiger, als Wahren Gott und unseren Retter – welche Gestalt auch immer die Zurückweisung annimmt, und welche auch immer die Ausflucht – wir verlieren das Licht des ewigen Lebens. 'Vater, ich will, dass auch sie, die du mir gegeben hast, dort sind, wo ich bin; dass sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir verliehen hast: denn du liebtest mich vor der Grundlegung der Welt' [Joh 17,24]. Dort, im Reich des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes muss unser Geist wohnen. Wir müssen danach hungern und dürsten, in dieses wunderbare Königreich einzutreten. Dann werden wir in uns die Sünde der Ablehnung der väterlichen Liebe als uns durch den Sohn offenbart überwinden [Vgl. Joh 8,24]. Wenn wir Christus wählen, werden wir jenseits von Zeit und Raum getragen, jenseits des Bereichs, der 'Tragödie' genannt wird.
In dem Augenblick, in dem uns der Heilige Geist gewährt, die hypostatische Gestalt des Gebets zu kennen, können wir beginnen, die Fesseln zu zerbrechen, die uns beengen. Ausbrechend aus der Gefängniszelle des selbstsüchtigen Individualismus in den weiten Raum des Lebens in dem Bilde Christi, erfassen wir die Natur des Personalismus des Evangeliums. Lasst uns für einen Augenblick einhalten, um den Unterschied zwischen diesen beiden theologischen Vorstellungen zu prüfen: dem Individuum und der Persona. Es ist eine anerkannte Tatsache, dass das Ego die Waffe in dem Kampf um die Existenz des Individuums ist, das Christi Ruf zurückweist, unsere Herzen der ganzen, universalen Liebe zu öffnen. Die Persona demgegenüber ist unbegreiflich ohne allumfassende Liebe weder im Göttlichen Sein noch im menschlichen Sein. Anhaltend und weit entfernt von leichter asketischer Anstrengung kann sie unsere Augen der Liebe öffnen, die Christus lehrte, und wir können die ganze Welt durch uns selbst begreifen, durch unsere eigenen Leiden und Forschungen. Wir werden wie ein Weltempfänger und können uns selbst mit dem tragischen Element identifizieren, nicht nur im Leben der individuellen Menschen, sondern mit der Welt als ganzer, und wir beten für die Welt wie für uns selbst. In dieser Art des Gebetes schaut der Geist die Tiefen des Bösen, das düstere Ergebnis vom 'Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen' gegessen zu haben. Aber es ist nicht nur das Böse, das wir sehen – wir kommen auch in Kontakt mit dem Absoluten Guten, mit Gott, Der unser Gebet in eine Vision des Unerschaffenen Lichts überführt. Die Seele kann dann die Welt vergessen, für die sie betete und hört auf, sich des Körpers bewusst zu sein. Das Gebet der göttlichen Liebe wird unser Sein, unser Körper.
Die Seele kann in diese Welt zurückkehren. Aber der Geist des Menschen, nachdem er seine Auferstehung erfahren hat und existentiell nahe an die Ewigkeit gekommen ist, ist auch weiter davon durchdrungen, dass Tragödie und Tod die Konsequenz der Sünde sind, und dass es keinen anderen Weg zur Rettung als durch Christus gibt.
Aus dem Russischen übersetzt von Rosemary Edmonds, New York 1977, aus dem Englischen von Klaus Bambauer.
Anmerkungen
(1) Vgl. dazu die parallelen Gedanken bei Starez Siluan, Mönch vom Berg Athos, Bd. 1, Düsseldorf 1980, bes. S. 229-240. Zit. Starez Siluan, Mönch vom Berg Athos. "Wer Gott liebt, der entfernt sich von der Welt, und während er gewissermaßen in geistliche 'Selbstsucht' versinkt und gleichgültig wird allen Dingen der Welt gegenüber, rettet er seine Seele" (S. 234).
(2) Vgl. dazu auch: "Das Gebet für die Feinde und für die ganze Welt empfand der Starez als ewiges Leben, als göttliches Wirken in der Seele des Menschen, als ungeschaffene Gnade und Gabe des Heiligen Geistes" (Starez Siluan, Mönch vom Berg Athos, S. 231).