Das Buch
Sidrach
Die romanistische Forschung beschäftigte sich in der Vergangenheit hauptsächlich mit der belletristischen Literatur des Mittelalters. Im Mittelpunkt stand dabei Chrétien de Troyes (um 1140 bis um 1190).
Dabei wurde die große Neuerung des 13. Jahrhunderts übersehen, nämlich die enzyklopädistische Bewegung. Es waren verschiedene Summen (summæ) erschienen, welche das gesamte Wissen der Zeit zusammenfaßten.
Eine davon ist das Buch Sidrach, das anonym erschien. Der Name wurde nach dem biblischen Buch Jesus Sirach gebildet und lautet im französischen Sprachbereich Sydrac / Sidrac.
Sidrach wurde als Philosoph, Astronom und Prophet vorgestellt, der in Indien lebte und König Boctus bekehrte. Formell gehört das Buch zur Gattung der Eratapokriseis, „Fragen und Antworten“: Die Lehre wird in Dialogform dargestellt.
Der erste Teil des Buches Sidrach ist eine Übersetzung des Elucidariums, wobei die bunte Reihenfolge beibehalten wurde; der zweite Teil legt den Stoff systematisch dar. Das Elucidarium (Erleuchtung) ist eine Schrift, die im Jahre 1198 von Honorius Augustodunensis (um 1080 bis 1150) in Canterbury vollendet wurde. Sie bietet das naturwissenschaftliche und theologische Wissen ihrer Zeit dar. Als Quellen benutzt sie die Werke von Anselm von Canterbury und Duns Scotus. Hier eine Handschriftseite aus seinem Werk De imagine mundi (Über das Bild der Welt).
Zurück zum Buch Sidrach! Es wandte sich zunächst an Regierende, war also ein Fürstenspiegel. Da es die drängenden Fragen der Zeit in verständlicher Form beantwortete, war es weit verbreitet, zunächst in Frankreich, dann aber auch in zahlreichen Übersetzungen.
Der König [Boctus] fragt: Wenn ein Mensch versonnen und melancholisch ist wegen einer Sache, an der er zweifelt, wie kann er da herauskommen?
Sidrach antwortet: Wenn du Zweifel über irgendeine beliebige Sache hast und darüber nachsinnst, denke bei dir selbst, wie es sich mit dieser Sache verhalten könnte; es wäre möglich, daß die Säfte deinen Gedanken in eine Sorge verwandelt haben, sodaß du darüber versonnen geworden bist. Könnte es sich nicht so verhalten, daß du auf diese Weise melancholisch geworden bist?
[Es handelt sich um die Humoralpathologie, die Lehre von den vier Säften, die erstmals bei Hippokrates um 400 vor Christus begegnet: gelbe Galle – cholerisch, schwarze Galle – melancholisch, rotes Blut – sanguinisch und weißer Schleim – phlegmatisch.]
Wenn du dem entkommen möchtest, sage dir: Diese Sache geht mich nichts an, ich habe nichts Böses getan, ich wäre närrisch, wenn ich weiter daran denken würde. Dann hat das Herz Ruhe vor diesem Gedanken. Wenn du aber etwas Böses getan hast und du sicher bist, daß dein Gemütszustand deswegen in Erregung ist, wenn du es weder selbst noch durch die Deinen oder deine Freunde wieder gutmachen (amender) kannst, dann bete zu Gott, daß er dir helfe und dich stütze (tʼapoie), und er wird dir helfen, wenn du würdig bist. (Sydrac le philosophe, Nr. 828, herausgegeben von Ernstpeter Ruhe und Martina Bär, Wiesbaden 2000, 280f).
Der König fragt: Darf der Mensch verzweifeln, wenn er in Not ist?
Sidrach antwortet: Der Mensch darf wegen nichts, was es auch immer sei, verzweifeln; denn wer verzweifelt, erleidet Schaden und Verderben an seiner Seele. Wer aber nicht verzweifelt, ist zwar in Not, rettet aber die Seele. Es kann sehr wohl sein, daß Gott ihm hilft wegen seines großen Gottvertrauens; er wird heil an Leib und Seele sein. Er soll daran denken, daß er nicht der einzige ist, dem Leid zustößt; denn viele Menschen in der Welt haben ungleich größeres und schlimmeres Leid als er. Auf diese Weise kann sich sein Leid vermindern. Wenn er dagegen denkt, er sei der einzige in dieser Welt, der leidet, verdoppelt sich sein Leid. (Sydrac, Nr. 786, 270).
Der König fragt: Darf man mit Gott hadern, wenn man einen Verlust erleidet?
Sidrach antwortet: Mit dem barmherzigen Gott darf man in keiner Weise hadern. Man darf ihm nicht zu nahetreten, sondern man sollte ihn loben, danken und ihn ehren für alles, was er tut. Wenn du töricht bist und deswegen einen Fehler machst, wie kannst du deswegen mit Gott hadern? Du solltest dich selbst wegen deiner Torheit tadeln! Wenn du durch deine Nachlässigkeit einen Verlust erleidest, darfst du nicht Gott deswegen anklagen. Kritisiere dich selbst wegen deiner Nachlässigkeit! Tadle dich selbst und deine Trägheit, strenge dich an, um den Verlust wettzumachen, und Gott wird dir helfen. Strenge dich an, mühe dich ab, und Gott wird dir beistehen und dich unterstützen. Wenn du träge sowie nachlässig bist und deine Zeit zu vertrödeln pflegst, wenn du deinen Lebensunterhalt erarbeiten und verdienen kannst, es aber nicht willst wegen deiner Trägheit, welche Schuld hat daran Gott? Wenn du Gott bittest, er möge dir deinen Lebensunterhalt zukommen lassen, wisse, daß er das nicht tut, wenn du nicht arbeitest. Erst wenn du dich anstrengst, wird er dir helfen.
Wenn ein Mensch in Gefahr ist, im Wasser zu versinken, zwar schwimmen kann, es aber aus Trägheit nicht tut, um sich vor dem Tod zu retten, sondern spricht: „Guter Herrgott, helfe mir!“, wisse, daß Gott ihm nicht helfen und ihn nicht unterstützen wird. Hilf dir selbst, strenge Beine und Arme an, dann wird Gott dir helfen und dich aus der Gefahr retten. (Sydrac, Nr. 553, 211).
Der König fragt: Ist der Reichtum, den der Mensch hat, gut bei ihm angelegt, und ebenso die Armut?
Sidrach antwortet: Reichtum und Armut, welche die Menschen haben, sind gut bei ihnen angelegt. Gott tut nur das Rechte; denn er verleiht sowohl Reichtum als auch Armut, zum Guten oder zum Schaden des Menschen: Manchmal empfängt er Unglück und Armut zu seinem Guten, sei es für den Leib oder die Seele, und manchmal empfängt er Gutes und Reichtum zu seinem Schaden, sei es am Leib oder an der Seele.
[Zum Folgenden: „Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.“ Mt 10, 29f]
Es steht geschrieben, daß seit Beginn der Welt kein Haar vom Kopf des Menschen fallen kann ohne das Geheiß Gottes. Wie könnte der Mensch dann Reichtum oder Armut ohne Gottes Geheiß haben? Sein Wille ist gerecht und gut, und er gibt jedem, was gut in ihm angelegt ist, sei es für seine Seele oder für seinen Leib, sei es zum Guten oder zum Bösen, und alles ist seit Beginn der Welt angeordnet durch den Lauf der Planeten um das Firmament. (Sydrac, Nr. 864, 290).
Der König fragt: Weswegen läßt Gott die Macht des Teufels über die Seele zu?
Sidrach antwortet: Gott verleiht dem Teufel keine Macht über die Seele, sondern der Mensch selbst ist teuflisch, gibt sich dem Teufel hin und tut seinen Willen. Der Mensch hat ja viel mehr Macht über den Teufel als der Teufel über den Menschen, wenn der Mensch sich an Gott halten will und sich vom Teufel lossagt (guerpir); denn dann hat der Teufel keinerlei Macht über ihn. Diejenigen, welche Böses tun, dem Willen des Teufels zustimmen und sich von Gott lossagen, überwältigt der Teufel durch ihren eigenen Willen, durch ihre Entscheidung für das Böse, das sie durch ihren Willen, aber nicht aufgrund des Willens Gottes, tun. (Sydrac, Nr. 669, 241).
Bei manchen dieser Fragen und Antworten handelt es sich um Theodizee, um die Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen und des Leides in der Welt. Im 13. Jahrhundert ist es opinio communis, daß Gott dem Menschen Gutes oder Böses zumißt, nicht um ihn zu quälen oder gar zu verderben, sondern zum Besten seiner Seele. Ein Reicher kann ins Verderben gehen und ein Armer gerettet werden, je nachdem, wie er mit seinem Geschick umgeht.
Dahinter steht die Lehre der Synergie, des Zusammenwirkens von Gott und Mensch. Gott hilft dem Menschen, der sich anstrengt, arbeitet und sich Mühe gibt, nicht aber dem Trägen und Nachlässigen.
Hier klingt der Optimismus der griechischen Philosophie und Theologie durch: Der Mensch kann das Böse besiegen, wenn er an sich arbeitet. Dann wird Gott ihm auch beistehen.
Augustinus sah das ganz anders: Der Mensch ist von Grund auf verderbt, daher kann er aus eigener Kraft nicht zu Gott gelangen. Gott wirkt alles in ihm.
Bibliographie
o
Sidrak
and Bokkus. A Parallel-text Edition from Bodleian Library MS Laud Misc. 559 and
British Library MS Lansdowne 793, herausgegeben von Thomas Lingan Burton, Early
English Text Society. Original Series 312, 2 Bände, Oxford 1998f.
o Sydrac le philosophe. Le livre de la fontaine des toutes sciences. Edition des enzyklopädischen Lehrdialogs aus dem XIII. Jahrhundert, herausgegeben von Ernstpeter Ruhe und Martina Bär, Wissensliteratur im Mittelalter, Band 34, Wiesbaden 2000
o Czok, Miriam (1976-2020) und Anja Rathmann-Lutz, ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung. 750-1350, Köln, Weimar und Wien 2016, 177-194 (Konstruktion von Raum und Zeit im altfranzösischen Livre de Sidrac).
o Langlois, Charles-Victor (1863-1929), La connaissance de la nature et du monde au moyen âge dʼaprès quelques écrits français à lʼusage des laïcs, Paris 1911.
o Langlois, Charles-Victor, La vie en France au Moyen Âge de la fin du XIIe au milieu du XIVe siècle dʼaprès des moralistes du temps, Paris 1925.
o Ruhe, Ernstpeter, La légitimation du savoir dans la dialogue encyclopédique Le Livre de Sydrac, in: Encyclopédire. Formes de lʼambition encyclopédique dans lʼAntiquité et au Moyen Âge, herausgegeben von Arnaud Zucker, Collection dʼÉtudes Médiévales de Nice, Band 14, Turnhout 2013, 415-428.
o Ruhe, Ernstpeter, Lʼinvention dʼun prophète. Le Livre de Sydrac, in: Moult obscures paroles. Études sur la prophétie médiévale, herausgegeben von Richard Trachsler, Paris 2007, 65-78.
o Ruhe, Ernstpeter, Wissensvermittlung in Frage und Antwort. Der enzyklopädische Lehrdialog „Le livre de Sidrac“, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, herausgegeben von H. Brunner und Norbert Richard Wolf, Wissensliteratur im Mittelalter, 8: Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt, Wiesbaden 1993, 26-35.
o Steiner, Sylvie-Marie, Études médiévales. Le livre de Sidrac, La France latine, Neue Serie, Nr. 156, Rennes 2013.
o Waffner, Petra, Der Livre de Sidrac. Die Quelle allen Wissens. Tradition und Rezeption eines altfranzösischen Textes, Mailand 2019.
o Waffner, Petra, Die Völker der Endzeit im französischen Livre de Sidrac (13. Jh.), in: Peoples of the Apocalypse. Eschatological beliefs and political scenarios, herausgegeben von Wolfram Brandes, Felicitas Schmieder und Rebekka Voß, Millennium. Studien, Band 63, Berlin und Boston 2016, 97-110.
o Weisel, Brigitte, Die Überlieferung des „Livre de Sidrac“. Stand der Forschung und neue Ergebnisse, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, herausgegeben von H. Brunner und Norbert Richard Wolf, Wissensliteratur im Mittelalter, 8: Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt, Wiesbaden 1993, 53-66.
o Wins, Beate, „Le livre de Sidrac“. Stand der Forschung und neue Ergebnisse, in: Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache, herausgegeben von H. Brunner und Norbert Richard Wolf, Wissensliteratur im Mittelalter, 8: Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt, Wiesbaden 1993, 36-52.
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024