Russisch
„Was, Russisch lernst Du? Das ist doch völlig sinnlos! Die russische Sprache kann man nicht erlernen!“
Das sagte mir jemand, dem ich unvorsichtigerweise anvertraut hatte, mit welcher Sprache ich mich beschäftige.
Da ich dieses Studium zur Zeit des Kalten Krieges begonnen hatte, fehlte es nicht an Warnungen, da Russisch als das Kommunikationsmittel des Gegners galt. Später wurde auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die von der sogenannten Russenmafia ausgehen, und heute trennt der Krieg die Menschen.
So sind die äußeren Umstände. Doch diese Sprache selbst fordert, ihr ungeteilte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Da ist zum einen der freie Akzent. Die Betonung kann wechseln: село сёла – seló sëla (gesprochen: sjóla) – das Dorf die Dörfer.
Hans Orschel, 30 Stunden Russisch für Anfänger. Ein Langenscheidt Kurzlehrbuch, Berlin-Schöneberg 1959, 14f: Betonung.
Zum anderen gibt es beim Verb die Aspekte. Eine Handlung wird dahingehend betrachtet, ob sie vollendet oder unvollendet ist. Dies gibt es auch im Deutschen: Er las das Buch durch (Он прочитал книгу) oder: Er liest ein Buch (Он читает книгу).
Orschel, 65: Die Aspekte
Um das Maß vollzumachen, tauchen bei den Verben der Bewegung zahlreiche Besonderheiten auf, weil ausgedrückt werden kann, ob die Bewegung anfängt, fortdauert oder wiederholt stattfindet, ob sie nach innen oder nach außen geht, ob sie nur kurze Zeit oder wiederholt stattfindet, ob ein Ziel oder eine Grenze erreicht wird, ob die Bewegung hinter oder durch einen Gegenstand geht, ob sie um ihn herum geht, ob sie von oben nach unten erfolgt, ob sie auf die Oberfläche eines Gegenstandes oder zu verschiedenen Seiten hin geht. Deshalb empfahl ein Lehrer sogar, Verben der Bewegung gänzlich zu vermeiden…
Larisa S. Muravʼëva, Die Verben der Bewegung im Russischen, Übersetzung von D. Schäfer, Moskau 1975; Moskau 21978, 251
Glücklicherweise gibt es ein Hilfsmittel für Lernende und Berufstätige:
Edmund Daum und Werner Schenk, Die russischen Verben. Grundformen. Aspekte. Rektion. Betonung. Deutsche Bedeutung, mit einem Aufsatz zur Syntax und Semantik der Verben des modernen Russisch von Rudolf Růžička, Leipzig 1954; Leipzig und München 121971.
Es gibt die sogenannten falschen Freunde des Übersetzers. Das sind Wörter, die im Deutschen und Russischen gleich oder sehr ähnlich sind, aber jeweils eine andere Bedeutung haben, zum Beispiel:
o Chor – хор: Menschen- oder Instrumentengruppe
o Institut – институт: Hochschule
o Doktor – доктор: habilitierter Professor
o Dokument – документ: Ausweis.
Angesichts dieses langen Lernweges war es gut, daß ich bereits in der Kindheit begonnen hatte, mich mit diesen Dingen zu befassen. Noch heute ist mir der Satz aus meiner ersten Sprachlehre in Erinnerung: «Мой друг живёт под Москвой.» – Mein Freund wohnt unter (in der Nähe von) Moskau.
Orschel, 26f, 5. und 6. Stunde
Karl-August Paffen, Langenscheidts praktisches Lehrbuch Russisch, Berlin-Schöneberg 1960; Berlin 151988, 117
Dankbar war ich, daß Karl August Paffen Gogols Erzählung „Wie Ivan Ivanovič sich mit Ivan Nikiforovič entzweite“ in sein Lehrbuch aufgenommen hatte. So sollte jeder Sprachunterricht aussehen! Auf diese Weise gewinnen die Lernenden einen Einblick in die Seele des anderen Volkes.
Im Laufe der Jahrzehnte habe ich alle Lehrbücher durchgearbeitet, die mir erreichbar waren. Doch erst die Lektüre brachte den Durchbruch und die Beherrschung der Sprache. Dazu gehörten vor allem Texte des 19. Jahrhunderts, aber auch mittelrussische und altrussische Literatur. Je weiter sich jemand in der Geschichte des Russischen in Richtung auf die Vergangenheit bewegt, desto notwendiger ist ihm die Beherrschung des Kirchenslavischen und bei den ältesten Texten auch des Altslavischen. Doch das ist ein anderes Thema.
Spätestens jetzt ist meiner Erzählung noch etwas Wichtiges hinzuzufügen: Die Literatursprache unterscheidet sich wesentlich von der gesprochenen Sprache. Mein erster Lehrer konnte übersetzen und kannte Grammatik und Wörterbuch, aber er hatte nicht die Fähigkeit, Russisch zu sprechen.
Ich fand jedoch immer wieder geduldige Menschen, die mein anfängliches Gestammel und Wörtersuchen ertrugen und mich auf meine hauptsächlichsten Fehler aufmerksam machten. Natürlich beherrsche ich nicht den gesamten, gewaltigen Wortschatz des Russischen, aber ich komme gut zurecht und kann vernünftige Gespräche führen.
Nun kommt die alles entscheidende Frage: Lohnt sich dieser jahrzehntelange Aufwand?
Ich habe mir selbstverständlich nur einen kleinen Teil der Literatur erarbeitet, und nur von dem kann ich sprechen.
Da ist die Schilderung der Abgründigkeit des Lebens und der menschlichen Seele. Gewiß, auch bei Edgar Allan Poe und bei Ernst Theodor Amadeus Hoffmann findet sich eine exakte Beschreibung der dunklen Seite des Menschen. Doch bei Fëdor Michajlovič Dostoevskij ist eine weit größere Tiefe.
Der größere Teil Rußlands liegt in Asien. Das ist deutlich zu spüren bei Aleksandr Sergeevič Puškin: Hier steht das orientalische, märchenhafte Flair im Hintergrund und prägt die Atmosphäre.
Was bei westeuropäischen und nordamerikanischen Autoren häufig fehlt, ist das Spirituelle. Ganz unerwartet für Unkundige, findet es sich jedoch bei einem Autor wie Lev Nikolaevič Tolstoj.
Die orthodoxen Autoren geben Hilfen, das christliche Leben zu gestalten und auftauchende Schwierigkeiten zu überwinden. Sie sprechen vom unerschaffenen Licht, der Verklärung auf dem Berge Thabor, dem Einswerden mit dem Schöpferischen und dem Urgrund. Der Religionsphilosoph Nikolaj Aleksandrovič Berdjaev spricht sogar vom Ungrund.
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Lehrbücher
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© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025