Die Rezeption des spätantiken Philosophen Plotin durch
Nikolai Berdjajew
Klaus
Bambauer
In
jener Zeit studierte ich auch die patristische Literatur, konnte mich aber
nicht recht für sie erwärmen. Unter den Kirchenvätern war mir Origines der
liebste und ganz besonders der heilige Gregor von Nyssa; in der
asketisch-mystischen Literatur schien mir Isaak der Syrer am tiefsten
vorzudringen (N.Berdjajew,
Selbsterkenntnis, 1953, S. 177).
Einleitung
Unsere
Themenstellung bezieht sich auf das Verhältnis des russischen Denkers und
Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew (1874-1948) zum griechischen Philosophen
Plotin. Ausführliche Studien liegen zu diesem Thema noch nicht vor. Einleitend
wenden wir uns dem Thema "Plotin im neuzeitlichen Denken" zu und
versuchen, mit V.Schubert darauf eine Antwort zu geben:
"Lebt
das plotinische Philosophieren im neuzeitlichen Denken fort? Die Frage stellen
heißt sie zunächst verneinen. Zu schnell verlieren sich dessen, bei Iamblichos,
Proklos, Damaskios, Simplikios, Marius Victorinus und Augustinus noch deutlich
erkennbare Spuren in die christliche Philosophie des Mittelalters, als dass man
noch ein Weiterleben in der Neuzeit erwarten dürfte. Der religiös-mystische Zug
im Denken Plotins: Reinigung, das ernste Bemühen um Transzendenz, Ekstasis, die
durchgehend große Bedeutung der Kontemplation, die Henologie, anderseits das Ausklammern
der Sozialethik, der Gesellschaft und des Staates, letztlich auch des einzelnen
und seiner Geschichtlichkeit scheinen im modernen, um Gewissheit des Wissens,
Geschichtlichkeit und Existenz ringenden Denken keine Entsprechung zu haben. In
Wahrheit aber wurde plotinisches Fragen immer wieder als verwandt empfunden,
wurden Einzelzüge (Ästhetik, Ethik, Mystik, Nusspekulation, Innerlichkeit, Auf-
und Abstieg) übernommen oder gemäß dem eigenen Denkansatz umgeformt"(1).
Bevor
wir uns unserem spezifischen Thema zuwenden, soll – wenigstens skizziert – mit
einigen Worten Gerhard Hubers einleitend der Raum der Spätantike
umschrieben werden. Erst von dieser atmosphärisch-historischen Stimmung
aus lassen sich die Bemühungen und Denkbewegungen der Spätantike (insbesondere
Plotins) besser verstehen – auch als die Vorläufer des frühen Christentums. Von
hier aus bekommt auch die Frage nach der Rezeption Plotins durch N.Berdjajew
ihren aktuelleren Sinn.
"Die
Spätantike ist der historische Raum, in dem die Frage nach dem Verhältnis des
Seins zum Absoluten für das abendländische Denken in geschichtlich wirksamer
Weise entschieden worden ist. Spätantike soll in diesem
philosophiegeschichtlichen Zusammenhang umgrenzt sein als die letzte große
epochale Einheit der durch die Griechen in Gang gebrachten Bewegung des
Gedankens in der Antike selbst. Ihr höchster philosophischer Ausdruck ist der
Neuplatonismus zumal Plotins. Aber ebenso gehört ihr zu die christliche
Philosophie der Patristik. Diesen beiden Gestalten des spätantiken Denkens
scheint eine Grundhaltung gemeinsam, die sich deutlich abhebt nicht nur gegen
Vorsokratik und attische Klassik, sondern auch gegen die repräsentativen
Gestaltungen der hellenistischen Philosophie. So gewiss diese
‚Weltanschauungsphilosophien’ gegenüber den früheren etwas Neues bedeuten, so
sind sie im ganzen doch noch stark dem ursprünglich hellenischen Lebensgefühl
verpflichtet, wenn dieses auch nun aus der Gefügtheit der Polis in den weiten,
das Individuum innerlich vereinsamenden Raum der Weltreiche hinausgetreten ist.
Im stoischen Kosmosbezug scheint noch etwas von der Physis der Vorsokratik
lebendig. Demgegenüber ist die parallel zu der ständig wachsenden Durchdringung
der griechisch-römischen Welt mit Formen und Gehalten orientalischer Religiosität
sich fixierende Jenseitsausrichtung der spätantiken Philosophie, wenn auch bei
Platon in manchem vorbereitet, dem Gefühlsgehalt und dem Sinn nach doch etwas
durchaus anderes. Diese Haltung scheint im Grundzug dem Denken der
Neuplatoniker und der Kirchenväter gemeinsam" (2).
Plotin und der Gnosisverdacht
Blickt
man näher in die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, so wurde zum Teil von
der einen Seite der wissenschaftlichen Forschung (wie z.B. Hans Jonas, Gnosis
und spätantiker Geist, Teil I, 1934) das Wesen der Spätantike in der gnostischen
Daseinshaltung gesehen, eine Sicht, die sich in einem antikosmischen,
eschatologischen Dualismus einer Grundbewegung von Fall und Verknechtung,
Aufstieg und Erlösung und radikaler Entweltlichung niederschlug (hellenistische
Mysterienkulte, hermetische Schriften, apokalyptische Religionsgründungen des
Ostens, Manichäismus). Aus philosophischer Sicht sieht Huber hier den
Neuplatonismus Plotins orientalisch bestimmt. Dieser Blickrichtung steht (mit
Huber, S. 16) ein Grundansatz Plotins gegenüber, der sich von der
Altersphilosophie Platons geleitet weiß. Somit wird die Grundtendenz des
spätantiken Orientalismus für die Philosophie negiert und der Begriff einer
philosophischen Spätantike in Frage gestellt. Dazwischen steht eine gemäßigte
Haltung, die "den wesentlichen Unterschied zwischen Platonismus und
Neuplatonismus betont und die entscheidenden Motive für dessen spekulativen
Grundgedanken im Raume der hellenistischen Philosophie sich ausbilden
sieht" (Huber, a.a.O., S. 17).
In
ähnliche Richtung, freilich noch dezidierter hat sich Werner Beierwaltes
geäußert: "Es gehört zu den weithin verbreiteten Missverständnissen der
Intention des Platonismus, insbesondere aber des Neuplatonismus, dass er mit Weltflucht
oder Weltverachtung identisch gedacht werden müsse. Diese vielfach
variierte communis opinio hat ihre Konsequenzen auch für die
Einschätzung christlicher Theologie: das Christentum oder die theologische
Interpretation der Heiligen Schrift führe da, wo sie mit dem Platonismus, d.h.
im Grunde immer mit dem Neuplatonismus, enger verbunden ist, zu einer noch
radikaleren Abwendung von dieser Welt, als sie ohnehin schon durch das Neue
Testament suggeriert würde. Zu konzedieren ist freilich, dass neuplatonisches
Denken nicht gerade einsteht für eine universale Zuwendung zur Welt: zu deren
gesellschaftlichem Sein oder politischen Bewegungen. Eine Abwendung von der
Welt oder eine nicht vorbehaltlose, kritische Zustimmung zur Welt, wie sie der
Neuplatonismus intendiert, ist jedoch nicht umstandslos mit Weltflucht
oder Weltverachtung gleichzusetzen. Freilich möchte ich im Kontext
dieser Frage Plotins auch politisch relevante Aktivitäten, z.B., Platonopolis
nach dem Modell des platonischen Staates zu gründen, seine Verbundenheit mit
Politikern aus dem Umkreis des Kaisers, die seine Vorlesungen hörten, seine
philantropische Zuwendung zu Waisen und deren Beherbergung und Versorgung in
seinem eigenen Hause nicht überbewerten. Der Satz aus Porphyrs Vita Plotini
über sein Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit, seine Weigerung, von sich selbst
ein Portrait machen zu lassen, stehen vielleicht in gewissem Widerspruch zu
seiner philosophischen Begründung der ontologischen Struktur von Welt. Diese
richtet sich gerade gegen die nicht zu bezweifelnde Weltverachtung der
Gnostiker. Es ist das nirgendwo eingeschränkte oder gar revozierte Ziel
Plotins, den Kosmos als durchweg guten, geordneten und deshalb auch schönen
Bereich von Wirklichkeit einsichtig zu machen. Er ist das Abbild
des absoluten oder zeitfreien Geistes, Bild von dessen Harmonie, intelligibler
Gestalt und Relationalität und damit auch von dessen Schönheit; das sinnlich
Erfahrbare wird zu einem auf das Intelligible verweisenden Symbol, das
Begründete ist in der Differenz oder trotz der Differenz zu seinem
Grunde von der Art eben dieses Grundes. Das Böse oder Schlechte kann in
diesem harmonischen Kontext keine Selbständigkeit oder selbstursprüngliche
Wirkung haben" (3).
a) Plotins Grundansatz
Auch
wenn in den folgenden Teilen – teilweise im Gespräch mit N.Berdjajew – immer
wieder Einzelheiten des plotinischen Denkens zur Sprache kommen, sei dennoch
mit G.Huber der Grundansatz Plotins schon an dieser Stelle skizziert. "In
Plotins Lehre vom 'Einen' als dem Ursprung alles Seienden, der selbst nichts
von alledem ist, was in ihm seinen Ursprung hat: nicht Sein, nicht Erkennen und
darum auch nicht erkennbar, wiewohl ekstatisch zu erfahren als höchste
Erfüllung alles Seins und Erkennens – hat die Transzendenz des Absoluten ihren
unüberbietbaren Ausdruck gefunden, in einer Weise, die zugleich die
unmittelbarste Bedeutsamkeit für die menschliche Existenz in sich schließt. Es
muss immer erstaunlich bleiben, dass auf dem Boden des griechischen Denkens
sich diese entschiedene Wendung hat vollziehen können" (4). Es ist Plotin
– nach Huber – gelungen, die Herausarbeitung seiner Transzendenz mit den
Mitteln einer "negativen Ontologie" darzustellen. Huber weist darauf
hin, dass verschiedene Interpretationen immer wieder versucht hätten, "im
Einen anstatt das Seinsjenseitige vielmehr das reine Sein zu entdecken, also
eine der Tendenz nach positive ontologische Bestimmung zu vollziehen"
(a.a.O., S. 18). Demgegenüber sei es Plotins Anliegen gewesen, die Darstellung
der Transzendenz des Absoluten "am Leitfaden der Negation" zu
verifizieren. So kann von Plotin das Absolute nur als das schlechthin
Transzendente verstanden werden, das für das Denken negativ bestimmt
ist. "Die Negation hat bei Plotin eine dreifache Gestalt: das Eine ist
jenseits des Seins (es ist nicht: Seinstranszendenz); das Eine ist
jenseits des Geistes (es denkt nicht: Geisttranszendenz); das Eine ist
jenseits der Erkenntnis (es wird nicht erkannt: Erkenntnistranszendenz).
Diese Aufgliederung der Negativität des denkenden Transzendenzbezuges wird bestimmt
durch das Wesen dessen, wogegen das Absolute im negativen Denken seiner
abgehoben ist: durch den Seinscharakter des Seienden" (5).
So
kann der Grundansatz Plotins mit G.Huber umschrieben werden: dass von dem
bestimmten Sein sich das Eine als dessen Ursprung in der dreifachen negativen
Bestimmtheit abhebt: nicht Sein, nicht Geist und nicht Gegenstand des Erkennens
zu sein (a.a.O., S. 19).
b) Partner im Gespräch und biographische Hinweise
auf Plotin
Wenn
man sich dem Thema "Die Rezeption Plotins durch Nikolai Berdjajew"
zuwendet, so wird dem Kenner N.Berdjajews bewusst sein, dass man hier auf zwei
geistesverwandte Denker trifft und sie vergleicht. Erleichtert wird dieser
Vergleich zunächst dadurch, dass wir uns den kurzen Abschnitt des 2. Bandes der
umfangreichen Berdjajew-Arbeit "Provokation der Person" von Wolfgang
Dietrich vornehmen (6), um hier zuerst einmal die weit über Berdjajews Werk
verstreuten Verweise auf den bedeutendsten Denker des Neuplatonismus, Plotin,
kennen zu lernen und zur Kenntnis zu nehmen, um dann zu prüfen, inwieweit
Berdjajew Plotin in sachgemässer Weise rezipiert hat, um im Verbindung damit
auch die Interpretation W.Dietrichs zu beleuchten und als Verständnishilfe
heranzuziehen, soweit sie den Horizont erweitert.
Bevor
wir uns unserem Thema zuwenden, sei erwähnt, dass Plotin der Denker ist,
"der versucht hat, die grundlegende Gespaltenheit des philosophischen
Weltverständnisses seiner Zeit in der Vorstellung einer einzigen umfassenden
Wirklichkeit einzulösen. Wie sein Schüler Porphyrius berichtet, gab sich
Plotin, der 204/205 n. Chr. in Alexandria geboren wurde und im Alter von 28
Jahren sein tiefes Interesse an der Philosophie entdeckte, zunächst mit keiner
der damals in seiner Heimatstadt vorgetragenen Lehrmeinungen zufrieden, bis er
eines Tages die Vorlesungen des Ammonios Sakkas besuchte und hier offenbar das
fand, was er gesucht hatte. Alexandria, wo Plotin die nächsten elf Jahre seines
Lebens den Lehren des Ammonios folgte, war im 3. Jahrhundert gewiss alles
andere als eine beliebige Stadt im hellenisierten Ägypten. Es war sowohl
Handelsmetropole als auch Zentrum des Wissens und der Bildung, in dessen Mauern
sich nicht nur die verschiedensten philosophischen Strömungen finden ließen,
sondern auch die unterschiedlichsten religiösen Kulte praktiziert wurden.
Plotin wuchs also in einem intellektuellen Klima von höchster Vielfalt auf, die
die Unmöglichkeit, aber auch die Unnötigkeit bezeugt, einem einzigen Ausdruck
der Wahrheit absolute Gültigkeit zu attestieren. Rückblickend fällt es
sicherlich nicht leicht, diese unverwechselbare geistige Stimmung unter den
Weisheitslehrern und den Weisheit Suchenden in dieser Stadt zu bewerten: War es
ein Taumel des Vielgestaltigen, die Faszination der zahllosen Ideen und
Theorien, die trotz ihrer Fremdheit vielleicht das eigene Denken bestätigten,
oder war es vielmehr eine Zeit der Verwirrung, der Frage nach einer
verlässlichen Gewissheit, der zu vertrauen oder der zu glauben sich lohnte? (7)
Da
hier nicht der Ort ist, Plotins Biographie in der erforderlichen Breite zu
entfalten, sei aus den Darlegungen von S.Möbuß nur soviel erwähnt, dass Plotin,
aus dessen Biographie wenig bekannt ist, sich im Alter von 39 Jahren einem
Feldzug des Kaisers Gordian III. gegen die Perser anschloss, um sich dadurch über
die persische Philosophie informieren zu können. Nachdem er sich von seinem
Lehrer Ammonios Sakkas getrennt hatte, nahm er eine eigene Lehrtätigkeit in Rom
auf, "wohin er nach dem gescheiterten Perser-Feldzug geflüchtet war. Zum
zweiten Mal lebte er also in einer Stadt, die – wiederum unter anderen
Einflüssen stehend – Zentrum der damaligen Kultur war. Hier trug Plotin bis zu
seinem Tod [270] auf einem Landgut in Kampanien seine Lehren einer illustren
Zuhörerschaft vor, zu der selbst Kaiser Gallien[us] zählte, und verfasste jene
Schriften, die nach dem Ordnungsschema des Porphyrius noch heute den Namen Enneaden
tragen. Denn erst Porphyrius, ein Schüler Plotins, fasste die unsystematisiert
hinterlassenen Texte in sechs Gruppen von jeweils neun Schriften – Enneaden –
zusammen" (8).
c) Plotins geistige Welt in der Interpretation
N.Berdjajews
W.Dietrich
hat sein Plotin-Kapitel mit dem Untertitel "Person und Einheit" versehen,
und er konstatiert schon zu Beginn einen Gegensatz zwischen aristotelischem und
plotinischem Denken: "Kehrt sich das antik-idealistische Denken in
Aristoteles zum Endlichen, so wendet es sich in Plotin dem Unendlichen zu.
Sucht Aristoteles den Platon’schen Dualismus durch die Form zu bezwingen, so
meint Plotin, ihn von der Mächtigkeit des Seins her aufzulösen. Gilt
Aristoteles als der Hegel der griechischen Philosophie, so erscheint Plotin als
deren Schelling. Zitieren wir in diesem Zusammenhang Berdjajew, der davon
spricht, dass Plotin den Dualismus ebenso wie Aristoteles überwinden will:
Plotin ist auch Monist; bei ihm bewegt sich mittels der Emanation alles von
oben nach unten. Im System des Monismus ist diese Welt die Entfaltung einer
anderen Welt, die andere Welt ist dieser Welt immanent." (9).
Wenig
später heißt es: "Bei Plotin wird alles von mystischer Betrachtung
absorbiert. Bei den Neuplatonikern Jamblichus, Proklos und anderen gibt es den
Versuch einer mystischen Wiederbelebung des Heidentums […]. Es ist unmöglich,
die Verdienste des Aristoteles und die Bedeutung Plotins, des großen mystischen
Philosophen, abzustreiten, aber die Entwicklung des Platonismus zum Monismus
war eine falsche Lösung der gestellten Frage (10).
Um
ein weiteres Zitat aus der Darstellung Dietrichs anzuführen, ergänzen wir.
"Der Platonismus nähert sich einem solchen Denken [in dem Berdjajew in
Gott eine Tragödie eingeschlossen sieht, in dem alles aus der Höhe zur Tiefe
hinabsteigt, alles von Gott kommt und in Gott einbegriffen ist], das im System
Plotins, schließlich auch in dem des Thomas von Aquin und im System der
Sophiologie, zu finden ist. Alles steigt vom Einen, von Gott, zur vielfältigen
Welt hinab und alles steigt von unten, von der vielfältigen Welt, wieder zum Einen,
zu Gott empor. Derart sind die monistischen Systeme. Und die rationalen Systeme
der offiziellen christlichen Theologie sind trotz des komplexen Charakters des
Christentums genauso monistisch wie das System Plotins; auch für sie verläuft
jede Bewegung von oben nach unten (11).
Im
Blick auf seine Ausführungen über die apophatische Theologie führt Berdjajew in
der gleichen Veröffentlichung aus. "Unter den Philosophen der
mittelmeerländischen Kultur hat sich Plotin als erster bemüht, die Wahrheit der
negativen Theologie zum Ausdruck zu bringen. Mit ihm erreicht die griechische
Weisheit ihren Höhepunkt, er impft sie mit der orientalischen Weisheit und
überwindet – so kann man wohl behaupten – die Grenzen des griechischen Denkens.
Plotin ist der größte mystische Philosoph der Menschheit, aber er ist nicht der
größte Mystiker. Die Geistigkeit Plotins ist doch beschränkt, die christliche
Geistigkeit ist unvergleichlich erhabener und menschlicher. Philosophisch ist
aber die christliche apophatische Theologie von Plotin abhängig; sie hat bei
den Kirchenvätern einen neuplatonischen Charakter. Die Grundzüge der
spekulativen Mystik des Pseudodionysius des Areopagiten stammen von Plotin und
vom Neuplatonismus. Pseudodionysius hat auf die gesamte christliche Mystik des
Ostens und Westens einen beträchtlichen und entscheidenden Einfluß ausgeübt, er
hat ihren klassischen Typus geprägt. Er ist – trotz aller ihrer
Verschiedenheiten – der gemeinsame Lehrer des hl. Maximus des Bekenners, des
hl. Thomas von Aquin und Meister Ekkeharts" (12).
In
diesem Zusammenhang kommt Berdjajew auf die großen geistigen Verdienste des
Nikolaus von Kues zu sprechen, an dessen 600. Geburtstag wir uns im Jahre 2001
erinnern: "Er überwindet das antike und mittelalterliche Denken und hat
etwas wie eine Vorahnung des modernen philosophischen Denkens. Schon Plotin
lehrte, dass man auf Gott keinen Begriff, nicht einmal den des Seins anwenden
kann, dass, wenn das Sein Etwas ist, Gott Übersein, Nichtsein ist. Damit ist
der griechische Intellektualismus überwunden und der Weg zum Aufstieg in die
höchsten Sphären offen. Der Nus ist eine Zwischenstufe zwischen der
vielgestaltigen Welt und dem Einen. Für Nikolaus von Kues mündet die positive
Erkenntnis in die docta ignorantia. Er überwindet den griechischen und
scholastischen Rationalismus durch die Entdeckung des Prinzips der Antinomie,
das im modernen Denken eine bedeutende Rolle spielen wird. Gott ist für ihn die
Coincidentia oppositorum, der Zusammenstoß [besser: Zusammenfall] der
Gegensätze, d.h. er ist jedem auf das Prinzip der Identität sich stützenden
Erkennen unerreichbar" (13).
d) Zum Gedanken der Materie und der Emanation
Plotin
versuche – nach Dietrich und mit Berdjajews Formulierung – "die Objekte
und die Dinge zu überwinden und hinter ihnen die Freiheit zu erschauen"
[Berdjajew, Das Ich und die Welt der Objekte, dt. Ausgabe, o.J., S. 59) (14).
Systematisch gesehen, charakterisiert Dietrich den griechischen Denker wie
folgt. "Plotins Denken bedeutet eine einzige Konzentration auf das
Eine. Das reine Eine ist der Ursprung des Lebens. Und das reine Eine ist
das Ziel des Lebens. In der Denkbewegung spiegelt sich die Herkunft vom Einen
und die Hinkunft zum Einen. Die Bewegung vom Einen weg ist die Emanation
als der Erguß des Einen in das Viele, die stufenweise Konkretisierung, das
heißt ganz wörtlich: das stufenweise Gerinnen im Irdischen. Das Geronnene und
zur Materie Verfestigte ist im Vergleich zum immateriellen Quell das
Minderwertige (15). Berdjajew ergänzt zum Gedanken der Emanation: "Die Emanationslehre
ist eine Lehre ohne Gewinn. Es besteht eine geheimnisvolle und nicht
wegzuleugnende Ähnlichkeit zwischen der Gottesbewusstheit und der
Weltbewusstheit. Die das Schaffen der Welt verneinende Gottesbewusstheit führt
unvermeidlich zu einer Weltbewusstheit, die das Schaffen in der Welt verneint.
Die Emanationslehre kennt keinen schöpferischen Akt in Gott und kennt darum
auch überhaupt keinen schöpferischen Akt, sie kennt nur ein Ausfließen. Für die
emanierende Gottesbewusstheit und Weltbewusstheit strömt die Macht aus und
strömt herüber, nimmt aber nicht zu. Gott geht in seiner Emanation in die Welt
hinaus. Selbst bei Plotin wird die Gottheit an Macht darum nicht verringert,
weil ihre Strahlen in die Welt emanieren. Aber eine folgerichtige Emanationslehre
muss zur Lehre von der Verringerung der Kraft der Gottheit führen. Die Welt ist
göttlich, weil sich Gott der Welt zum Opfer bringt, in die Welt überströmt. Die
Gottheit ist außerstande, die Welt zu erschaffen, vermag aber Welt zu werden.
Die göttliche Macht, die in die Welt emaniert, muss geringer werden, muss
ausgehen. Wenn die Welt aus der Gottheit emaniert, vermag die Gottheit nicht
ihre ganze Macht zu erhalten, die göttliche Macht geht in die Welt über. Das
rein pantheistische Gottesbewusstsein ist für die Emanation und gegen das
Schaffen. Die Mystik vom pantheistischen Emanationstypus muss das Schaffen
ablehnen; ihr ist das Leben ein Ausfließen und Überströmen der Gottheit in die
Welt und der Welt in die Gottheit, der Gottheit in den Menschen und des Menschen
in die Gottheit. Für diese Mystik geht der Mensch ganz und gar in der Gottheit
auf, die Gottheit geht ganz und gar in der Welt auf u.s.w. Wenn Gott in dem
Menschen geboren wird, stirbt der Mensch. Da gibt es keinen schöpferischen
Zuwachs, sondern nur eine Umgestaltung der Macht. Zu diesem Typus gehört nicht
nur Ekkehard, sondern auch Plotin und die indische Mystik. Diese Mystik kennt
recht eigentlich weder ein Schaffen Gottes, noch ein Schaffen des
Menschen" (16).
An
anderer Stelle zitiert Dietrich den russischen Denker im Hinblick auf die schon
früher angesprochene Thematik des Bösen: "Der Vielheit und der
Individualität kommt in Plotins Auffassung keine metaphysische Realität zu. Die
Materie erhält – als das vom Einen Entfernteste – die Qualität des Bösen.
Wirksamkeit des Bösen heißt: Vermischung mit der Materie. Nach Plotin
vermischt sich die vielgestaltige Welt mit der nichtigen Materie und ist
dadurch böse"(17). In mancherlei Variationen tritt dieses Thema bei
Berdjajew wieder auf. "Für Platon und Plotin war es bei ihrem
Intellektualismus sehr schwer zu erklären, woher das Böse kommt. Die
griechische Metaphysik sah die Quelle des Bösen in der Materie. Doch dies
bezeichnete bloß die Grenzen des griechischen Denkens. Sokrates betrachtete
Unwissenheit als die Quelle des Bösen. Wissen vertreibt das Böse. Der Mensch
neigt naturgemäß dem Guten zu. Es gibt keine Wahl des Willens. Die Griechen
kannten keine metaphysische Freiheit. Die sokratische Lösung bleibt für jeden
Intellektualismus klassisch" (18).
Was
die Emanationslehre anbelangt, wie sie von Berdjajew interpretiert wird, so
wendet W.Dietrich diesem Phänomen viel Aufmerksamkeit zu: "Berdjajew sieht
derart mit der pantheistischen Emanationslehre eine eigentümlich
intellektuell ‚asketische Metaphysik’ verbunden, eine Geistigkeit der Abkehr
von der vielgestaltigen Welt. Der Monismus scheint in Dualismus überzugehen
und ‚sich mit ihm zu verflechten’, um dann doch das pure ‚Monon’ der
anfänglichen All-Einheit allein zu behaupten" (19).
Wie
wir in der Interpretation Dietrichs über Berdjajews Plotin-Rezeption verfolgen
konnten, sieht er das plotinische Verhältnis zur Materie im negativen Licht,
weil eben die Materie das von dem Einen Entfernteste ist und damit die
Qualifikation des Bösen bekommt. Folgen wir der Interpretation von
S.Möbuß, so sieht sie im Zusammenhang mit dem einen Gestaltlosen
"ein weiteres Gestaltloses, das quasi die geringste Realisierung von Sein
enthält – die Materie" (20). Damit hängt auch die
philosophisch-theologische Frage zusammen, ob Gott die Materie geschaffen habe
oder nicht. "Diese wäre dann aber nicht eine beliebige Schöpfung unter
anderen, sondern symbolisierte aufgrund ihrer Wandelbarkeit und partiellen
Vergänglichkeit stets das Unreine, Unwürdige, die Grundlage der Körperlichkeit
und damit letztlich auch des sündhaften Verlangens. Wollte man nun behaupten,
Gott habe auch den Stoff erschaffen, hieße das zuzugeben, dass auch im
göttlichen Wesen Materielles und damit Unreines enthalten sein muss, da es
nicht hätte hervorbringen können, wessen es nicht selbst teilhaftig ist"
(21). Ohne die vielen, komplexen Facetten der Diskussion über Plotins
Materie-Verständnis entfalten zu können, stellen wir mit S.Möbuß fest:
"Nach allen diesen Bemerkungen zum Sein und zur Funktion der Materie muss
es als ein völlig unerwarteter Bruch in Plotins Denken erscheinen, dass er eben
dieselbe Materie, die Grundlage der Verwirklichung der Einheit ist, als das
Böse bezeichnet. Warum greift er in einer ontischen Diskussion so unvermittelt
zu einer ursprünglich ethischen Kategorie, um die Materie zu klassifizieren und
ihr damit die für ihn einzig denkbare Bestimmung aufzuerlegen? Natürlich könnte
diese Frage recht unkompliziert unter Hinweis auf die philosophische Tradition
beantwortet werden, in der das Stoffliche fast durchgängig als das
Minderwertige angesehen wurde"(22). Mit Plotin gibt darauf S.Möbuß die
Antwort des griechischen Philosophen: "Wenn also dies das Seiende ist und
das Jenseits des Seienden, dann ist das Böse nicht unter den seienden Dingen enthalten,
noch in dem Jenseits des Seienden; denn dies alles ist ja gut. Somit bleibt,
wenn anders es überhaupt ist, nur übrig, dass es unter die nichtseienden Dinge
gehört und gewissermaßen eine Gestalt des Nichtseienden ist" (23). Um
diese diffizile Definition genauer zu verstehen, ist hinzuzufügen, dass er –
mit Plotin – zwischen unterschiedlichen Seienden differenziert.
"Nichtseiend sei dabei verstanden nicht als schlechthin nicht existierend,
sondern lediglich als vom Seienden unterschieden, und zwar nicht in dem Sinne,
wie Bewegung und Ruhe von ihm verschieden sind, sondern so wie das Schattenbild
vom Seienden verschieden ist" (24). Im Blick auf weitere Einzelheiten –
auch etwa den Begriff der Emanation – kann hier nur auf die Ausführungen von S.Möbuß
verwiesen werden (a.a.O., S. 69-72 u. 73-85).