Petroglyphen,

vorgeschichtliche Bilder und Plastiken

 

 

Heinrich Michael Knechten

 

 

 

Seit zwei Millionen Jahren benutzt der Mensch Werkzeuge. Seit 100.000 Jahren begräbt er seine Toten. Seit 50.000 gibt es den Homo sapiens sapiens. Dieser verfügt über die Fähigkeit zur Abstraktion, zur Synthese, zur Symbolisierung und begrifflichen Vorstellung. Er hat das Bedürfnis nach Ästhetik, Harmonie, Kunstschaffen, Musik und Tanz. Er kann lachen. Der Mensch ist ein Wesen, das zum Ausdruck von Gefühlen, zu Kunst, Philosophie und Religion fähig ist.

 

Die vorgeschichtliche Kunst ist das größte Archiv der Menschheit. Auf der ganzen Welt besteht eine typologische Ähnlichkeit hinsichtlich der Themenwahl und des Stils. Heute hat die Kunst keine große Bedeutung im alltäglichen Dasein. Vor der Einführung der Schrift war die Kunst dagegen ein wesentlicher Bestandteil des Alltagslebens und spielte eine vitale Rolle im sozialen Leben.

 

Symbole setzen Beziehungen voraus. Sie zeigen an, wie Lebewesen, Aspekte und Gegenstände der Welt miteinander verknüpft werden.

 

Felsbilder wollen Assoziationen wachrufen, Allegorien und Metaphern darstellen, Überlieferungen weitergeben oder Energie vermitteln.

 

Petroglyphen sind Ritzungen auf Felswände in offenem Gelände, Petrogramme sind Bilder auf Felswänden. Geoglyphen sowie Geogramme befinden sich auf dem Boden und Speläoglyphen sowie Speläogramme in Höhlen.

 

Jegliche Perspektive fehlt, aber Lebewesen und Gegenstände werden manchmal verzerrt, überlängt, idealisiert, stilisiert, phantastisch, abstrakt, schematisiert oder schwebend dargestellt.

 

Ungleiche Maßstäbe und verschiedene Patina an einem Bilderfeld zeigen, dass es sich hier um verschiedene Entstehungszeiten handelt.

 

Tiere werden häufig und fast immer gut erkennbar dargestellt. Menschen werden dagegen selten und verfremdet wiedergegeben, strichförmig, kantig (wie erstarrt) oder schwungvoll bewegt. Die Bekleidung ist meist nicht erkennbar. Menschenbilder sind immer gesichtslos, es sei denn, es handle sich um Masken. Individualität wird durch Attribute bezeichnet (Waffen, Werkzeuge, Geräte).

 

Jäger und Sammler (aneignende Wirtschaft) stellen physioplastisch dar: Sie versuchen der Wirklichkeit soweit wie möglich zu entsprechen. Bei ihnen werden häufig Waffen und Jagd dargestellt.

 

Viehzüchter und Ackerbauern (erzeugende Wirtschaft) stellen ideoplastisch dar. Sie stellen die Idee des Abzubildenden heraus. Bei ihnen stehen Familie, Kult und Tanz im Vordergrund.

 

Das ideoplastische Verfahren lässt sich mit dem Bauen eines Schneemanns vergleichen: Eine Möhre ist die Nase, dunkle Steine sind die Augen und ein Stück Holz der Mund.

 

Elemente der Felsbilder sind Piktogramme und Mythogramme (anthropomorphe, zoomorphe oder topographische Formen sowie Gegenstände), Ideogramme (die Zeichen, z.B. Körperteile, verweisen durch Assoziationen auf einen Begriff) und Psychogramme (weder Gegenstände noch Symbole, sondern Energieentladungen und Energievermittlungen: Wärme oder Kälte, Licht oder Finsternis, Leben oder Tod, Liebe oder Hass). Psychogramme werden vor allem von archaischen Jägern und Sammlern verwendet. Bâtonnets sind Stäbchen, Striche oder gabelförmige Zeichen, die einen Kommentar zu einem Felsbild abgeben oder eine Art grammatisches Element darstellen.

 

 

Amur

 

Gefäß aus der vorgeschichtlichen Kultur im Tal des Amur, 4. bis 3. Jahrtausend vor Christus

(Heimatmuseum in Komsomol’sk am Amur)

 

 

Bekannt sind die Hochkulturen in Ägypten und Mesopotamien. Doch zu gleicher Zeit gibt es die Okunev-Kultur in Sibirien. Diese Kultur ist nach dem Fundort Ulus Okunev, südwestlich von Abakan, benannt. Ulus (mongolisch) bedeutet Volk. Indoeuropäer kamen vom Westen nach Sibirien und vermischten sich mit heimischen Mongolen. Sie lebten von Viehzucht, Jagd und Fischfang. In ihren Gräbern fanden sich Eisen- und Bronzegegenstände als Beigaben.

 

 

Okunev-Kultur

 

Čaa tas (Kriegsstein): Begräbnisstätte mit Steinwall

Kopënsk, erstarrte Bewegung, 3. bis 2. Jahrtausend vor Christus, Heimatmuseum in Abakan (Chakasien)

 

 

Die Karasuk-Kultur (14.-9. Jahrhundert vor Christus) zeichnet sich durch schematische, fast statische Darstellungen aus. Der Sonnenkult steht im Mittelpunkt. Abgebildet werden vor allem Räder, Spiralen, Messer und Menschen.

 

 

 

 

Ornament der Ostseekultur, Mitte des 7. bis Ende des 4. Jahrhunderts vor Christus (Archäologisches Museum Warschau)

 

Der Begriff Ostseekultur wird verwendet, wenn von einem Zusammenwirken von Germanen und Slawen die Rede ist. Vgl. Michael Andersen, Slawen in Roskilde, in: Ole Harck u. Christian Lübke, Zwischen Reric und Bornhöved. Die Beziehungen zwischen den Dänen und ihren slawischen Nachbarn vom 9. bis ins 13. Jahrhundert, Beiträge einer internationalen Konferenz, Leipzig, 4.-6. Dezember 1997, Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 11, Stuttgart 2001, 131-143, hier 142; Sandra Polzer, Die Franken und der Norden. Über die Schwierigkeit der Interpretation von frühmittelalterlichen Quellen zur Geschichte Dänemarks, Diplomarbeit, Wien 2008, 68f.

 

 

 

Seelenschiff

 

 

Die Kunst ist ein Mittel der Kommunikation zwischen dieser und der anderen Welt.

 

Die Bilder lassen sich nur deuten, wenn religiöse Überzeugungen einbezogen werden. Menschen auf einem langen Boot fahren in das Reich der Toten. Es handelt sich um Seelenschiffe.

 

Masken werden bei kultischen Tänzen verwendet. Sie verleihen ihrem Träger eine andere Persönlichkeit und bringen ihn in die Nähe der Gottheit.

 

Das Erheben der Hände ist ein Gestus der Anbetung.

 

Handabdrücke können die Teilnahme einer Person an Festen oder rituellen Handlungen dokumentieren. Durch das Auflegen der Hand an den Felsen tritt der Mensch mit der Kraft des Berges in Verbindung.

 

Eine abwehrende Hand hat apotropäische Funktion, wie heute noch im Orient. Der Böse Blick soll abgewendet werden.

 

Heilkundige betreten in Tiergestalt andere Bereiche des Lebens, um die Ursache einer Krankheit zu finden und helfen zu können.

 

Gottheiten werden in Tiergestalt abgebildet, da Tiere dem Menschen in vielen Fähigkeiten überlegen sind. Sie verkörpern die Macht.

 

 

Röntgenstil

 

Bei Tieren werden manchmal innere Organe oder Knochen dargestellt, oft schematisch und unanatomisch. Hier handelt es sich um den so genannten Röntgenstil. Ist dies nur eine Anleitung zum Zerlegen und Zubereiten des Fleisches? Geht es darum, tödliche Treffpunkte zu kennzeichnen? Sollen dem Herrn oder der Herrin der Tiere Knochen oder Organe zum Zweck der Wiederherstellung des Tieres zurückgegeben werden? Sollen sie besänftigt werden, weil ein Tier von ihrem Eigentum genommen wurde?

 

Geht es bei der so genannten erstarrten Bewegung darum, das Tier in seiner Bewegung erstarren zu lassen, damit es leichter jagbar wird?

 

Warum sind Felsbilder häufig an entlegenen Orten zu finden? Um das zu verstehen, sei gefragt: Warum wird nach Santiago de Compostela gepilgert? Ist es nicht ausreichend, zuhause zu beten?

 

Der Weg reinigt, klärt und erleuchtet. Die überstandenen Schwierigkeiten und Gefährdungen machen reifer. Durch die geringeren Ablenkungen sammelt sich der Pilger. Um Gott zu begegnen, sind Vorbereitung, innere Einstimmung, Abgeschiedenheit und ein offenes Herz notwendig. In der gewohnten Umgebung ist dagegen die Gefahr der Verhärtung und der erstarrten Abläufe groß.

 

Von daher liegt es nahe, Orte mit Felsbildern als Wallfahrts- und Kultorte aufzufassen. Hier werden die überlieferten Mythen erlebt, findet Begegnung mit der eigenen Kultur statt, hier werden in Tänzen und Riten die großen Feste gefeiert.

 

 

Weiterführende Literatur

 

o       Almgren, Oscar, Hälristningar och kultbruk, Bidrag til belysning av de nordiska bronsåldersristningarnas innebörd, Bd. 40, Teil 3, Stockholm 1927.
Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden, Übers. v. Sigrid Vrancken, Frankfurt a.M. 1934.

o       Anati, Emmanuel, Il museo immaginario della preistoria, Mailand 1995.
Höhlenmalerei. Die Bilderwelt der prähistorischen Felskunst, Übers. v. Dorette Deutsch, Zürich u. Düsseldorf 1997; Düsseldorf 2002, 54-65 (Zentralasien und Sibirien).

o       Anati, Emmanual, L’arte rupestre del Negev e del Sinai, Mailand 1979.
Felskunst im Negev und auf Sinai, Frühe Spuren der Menschheit, Übers. v. Joachim Rehork, Bergisch-Gladbach 1981.

o       Anati, Emmanuel, L’arte rupestre mondiale. Origini del linguaggio visuale, Rimini 1986.

o       Anati, Emmanuel, Origini dell’ arte e della concettualità, Mailand 1989.
Felsbilder. Wiege der Kunst und des Geistes, Vorwort v. Yves Coppens, Übers. v. Brigitte Fleischmann-Calabrese, Zürich 1991.

o       Biedermann, Hans, Lexikon der Felsbildkunst, Graz 1976.

o       Brøgger, A.W., Die arktischen Felsenzeichnungen und Malereien in Norwegen, in: Jahrbuch für prähistorische und ethnographische Kunst, Mainz 1931, 11-24.

o       Capelle, Torsten, Bilderwelten der Bronzezeit. Felsbilder in Norddeutschland und Skandinavien, Kulturgeschichte der antiken Welt 116, Mainz 2008.

o       Chen Zhao Fu, China. Prähistorische Felsbilder, Zürich 1989.

o       Dänzer-Vanotti, Irene, Das Erwachen der Seele, in: Publik-Forum 2011, Nr. 21, 60-63.

o       Evers, Dietrich, Felsbilder arktischer Jägerkulturen des steinzeitlichen Skandinaviens, Stuttgart u. Wiesbaden 1988.

o       Evers, Dietrich, Felsbilder – Botschaften der Vorzeit, Leipzig, Jena u. Berlin 1991.

o       Evers, Dietrich, Felsbilder in den Alpen, Regensburg 1981.

o       Findeisen, Hans, Das Tier als Gott, Dämon und Ahne, Stuttgart 1956.

o       Hermann, Luc, Die Petroglyphen von Tamgaly in Kasachstan, Paris u. Norderstedt 2011.

o       Hoffmann, Emil, Lexikon der Steinzeit, München 1999, 128-132 (Felsbilder); 176-178 (Höhlenbilder); 222-224 (Kunst); 323 (Röntgenstil).

o       Jettmar, Karl, u. Volker Thewalt, Zwischen Gandhāra und den Seidenstraßen. Felsbilder am Karakorum Highway, Mainz 1985.

o       Kubarev, Vladimir Dmitrievič, Drevnie rospisi Karakola, Novosibirsk 1988.

o       Kühn, Herbert, Die Felsbilder Europas, Stuttgart 1971.

o       Lueken, Verena, Die ältesten Bilder der Menschheit. Werner Herzog führt uns zur Ardèche in die „Höhle der vergessenen Träume“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.2011, Nr. 256, 31.

o       Lutz, Rüdiger u. Gabriele, Das Geheimnis der Wüste. Die Felskunst des Messak Sattafest und Messak Mellet in Libyen, Innsbruck 1995.

o       Okladnikov, Aleksej Pavlovič, Lenskie pisanicy, Moskau u. Leningrad 1959.

o       Okladnikow, Alexej Pawlowitsch, Der Mensch kam aus Sibirien, Wien, München u. Zürich 1974.

o       Ozols, Jakob, Die Felsbilder des Mount Bégo, in: Antike Welt 3 (1978), 45-48.

o       Ozols, Jakob, Der Röntgenstil. Ein Beitrag zur vorgeschichtlichen Geistesgeschichte, in: Bonner Jahrbücher 175 (1975), 1-32.

o       Peschlow-Bindokat, Anneliese, Frühe Menschenbilder. Die prähistorischen Felsmalereien des Latmos-Gebirges (Westtürkei), Vorwort v. Harald Hauptmann, mit einem Beitrag von Christoph Gerber, Kopien der Felsbilder v. Murat Gülyaz, Mainz 2003.

o       Röbkes, Marion, (Vor-)Stufen der Schrift – Informationsvermittlung in prähistorischen Höhlenmalereien – ein Vergleich, Hausarbeit, München u. Ravensburg 2007.

o       Sawwatejew, Juri Alexandrowitsch, Karelische Felsbilder, Leipzig 1984.

o       Schulte im Walde, Thomas, u. Harald Braem, Bibliographie des deutschsprachigen Schrifttums zur internationalen Felsbildforschung, Imago Mundi 7, Lollschied 1994.

o       Ščelinskij, Vjačeslav Evgen’evič, u. Vladimir Nikolaevič Širokov, Höhlenmalerei im Ural. Kapova und Ignatievka. Die altsteinzeitlichen Bilderhöhlen im südlichen Ural, Übers. v. Gerhard Bosinski, Sigmaringen 1999.

o       Šer, J.A., Petroglify Srednej i Central’noj Azii, Vorwort v. Aleksej Pavlovič Okladnikov, Moskau 1980.

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o       Subrakova, Ol’ga Vasil’evna, Chakas-Orys Söstik, Novosibirsk 2006.

o       Ucko, Peter J., u. Andrée Rosenfeld, Felsbildkunst im Paläolithikum, München 1967.

o       Vadeckaja, Ėl’ga Borisovna, Archeologičeskie pamjatniki v stepjach Srednego Eniseja, Leningrad 1986.

 

Verweise

 

o       Höhlenmalerei

o       Okunevkultur (russische Wikipedia)

o       Petroglyphen

o       Šalabolinskaja Pisanica. (Falls die Zeichen nicht richtig dargestellt werden, unter „Ansicht“ und „Codierung“ Kyrillisch Windows einstellen).

o       Tomskaja Pisanica

 

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