Offenbarung, Sprache und Bewusstsein
nach Nikolai Berdjajew im Kontext gegenwärtiger Religionsphilosophie
Klaus Bambauer
"Die geistige
Erfahrung ist eine erschließende, eine in die überpersönliche, geistige Welt
hineinversenkende, eine den Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos
enthüllende Erfahrung. Die geistige Erfahrung ist immer ein Durchbruch in einer
abgeschlossenen seelisch-körperlichen Monade, ein Hinaustreten aus sich selber
durch Versenken in die Tiefe des Selbst, ein Überwinden der Gespaltenheit und
des Außerhalbliegenden". (Die Philosophie des freien Geistes S. 31f.)
"Wer, wenn er dich
geschaut, wer, der von deinem Glanz und deinem Gotteslichte sich erleuchtet
weiß, wer wird nicht ganz und gar im Geiste, in der Seele und im Innersten
verwandelt? Wer nicht gewürdigt, auf eine neue Art zu sehen und auf ganz neue
Art zu hören? Denn eingetaucht wird in dein Licht der Geist und er erlangt ein
Licht, das deiner Glorie in allem ähnlich ist" (Symeon der Neue Theologe,
36. Hymne, übers. von K.Kirchhoff).
Lebenslang hat den russischen
Denker Nikolai Berdjajew (1874-1948), der weder Fachtheologe noch Fachphilosoph
war (so J.Moltmann), sondern Religionsphilosoph, die Verhältnisbestimmung von
der Offenbarung und den Bewusstseinsstufen, von Glaube und geistiger Erfahrung
im Christentum bewegt. Eng damit zusammen hängt für ihn die Beziehung von
"Wahrheit und Offenbarung"1), wie er sie im gleichnamigen Buch von
religionsphilosophischer Seite beleuchtet hat. Diesem Thema der "Offenbarung",
seiner sprachlichen Vermittlung und was dieses an Veränderungen beim Menschen,
seinen Bewusstseinsebenen und seiner Weltsicht hervorzurufen vermag, sind seine
Überlegungen in einem seiner spirituellsten und tiefsinnigsten Werke "Die
Philosophie des freien Geistes"2) gewidmet. Thematisch reiht er sich damit
bewusst und nach eigener Aussage in die Reihe der großen Theosophen und
Gnostiker von Jakob Böhme bis hin zu Franz von Baader ein, auch wenn er dem
Gnostizismus, der ihm oft nachgesagt wurde, fern steht.
In der vorliegenden Studie
zum Thema "Offenbarung, Sprache und Bewusstsein nach Nikolai Berdjajew im
Kontext gegenwärtiger Religionsphilosophie" nehmen wir uns vor, einige
diesbezügliche Äußerungen des russischen Denkers und Religionsphilosophen zu zitieren,
sie zu kommentieren, soweit dies möglich ist, sie uns verständlich und damit
für die Interpretation zugänglich geworden sind. Wir stellen sie in den
Gesamtzusammenhang seines Werkes, ebenso aber auch in den der übrigen –
insbesondere auch vom Judentum, Christentum und Buddhismus bestimmten –
religionsphilosophischen Tradition, sofern sich Ansatzpunkte dazu ergeben. Im
Rahmen dieses Aufsatzes können es nur "Momentaufnahmen" aus der
überraschenden Fülle der Gedanken und Einsichten Berdjajews sein, die zum Weiterdenken
bzw. auch zum Lesen seiner Werke einladen möchteN.Berdjajew hat, obwohl in der
philosophischen Szene der Gegenwart als unzeitgemäßer Denker fast vergessen,
als mystischer Religionsphilosoph seine Zeit noch vor sich. Friedrich Heer
sprach einmal vom "Sprengstoff", der noch in seinem Werk verborgen
liege. Nur wenige wissenschaftliche Arbeiten haben sich mit seinen Intuitionen
und schöpferischen Anregungen beschäftigt. Eine rühmliche Ausnahme bietet auf
dem Feld der Theologie Jürgen Moltmann.
Nur ein einigermaßen
adäquates Verstehen, ein intuitives Sichhineinfühlen kann seinen erleuchtenden
Gedanken Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wir werden uns dem in den Blick
genommenen Thema langsam und mit verschiedenen Schritten nähern, die uns in die
Denkweise des russischen Religionsphilosophen einführen. Dabei wird vor allem
auch unter den Stichworten von der "Sündhaftigkeit" und vom
"Schöpfertum" eine Hinführung zu dem erfolgen, was zum Zentralbegriff
seines mystischen Philosophierens wurde: die "geistige Erfahrung",
ein Geschenk der Gnade, die ihm die Tore zu metaphysischen Einsichten geöffnet
hat, die fortan sein Werk durchziehen sollten.
Sündhaftigkeit,
Schöpfertum und hegelsches Geistverständnis
N.Berdjajew geht davon aus –
und dies ist ihm an den Wendepunkten des Lebens, den geistigen
Krisensituationen – zur unbezweifelbaren Gewissheit geworden, dass es für das
Verstehen und Empfangen der Manifestationen aus der geistigen Welt keine
transzendenten, d.h. unübersteigbaren Grenzen gibt, die das Bewusstsein von der
geistigen Welt abschnüren, denn "geistige Erfahrung ist immer ein
Durchbruch in einer abgeschlossenen seelisch-körperlichen Monade, ein
Heraustreten aus sich selber", das, was wir eine Ekstase nennen könnten
(s.o.). Wie sich dieser Durchbruch bei ihm vollzog, beschreibt der russische
Denker eindrucksvoll in seiner philosophischen Autobiographie
"Selbsterkenntnis": "Ich durchlebte eine Periode eines äußerst
zugespitzten Bewusstwerdens der Sündhaftigkeit des Menschen. Und ich begab mich
in die Tiefen dieses Bewusstseins. Das waren wahrscheinlich jene Augenblicke,
die der Orthodoxie am nächsten kamen. Wenn aber das Sündenbewusstsein ein
unvermeidliches Moment des geistigen Weges ist, der mir persönlich durchaus
eigentümlich ist, so führt die ausschließliche Selbsthingabe an dieses
Bewusstsein und die unendliche Vertiefung in es zu einem Empfinden der
Niedergedrücktheit und zu einer Schwächung der Lebenskraft. Das Sündenerlebnis
kann der Erleuchtung und der Wiedergeburt voraufgehen; es kann aber auch zu einer
unendlichen Verdichtung der Finsternis werden. Das Sündenerlebnis, als einziges
und alles umfassendes Prinzip des geistigen Lebens betrachtet, vermag nicht zu
einem schöpferischen Aufflug und zur Erleuchtung zu führen; es muss in ein
anderes Erleben übergeleitet werden, damit eine Wiedergeburt des Lebens
erfolgt".3)
Doch will er nicht bei diesem
durch die Sünde niedergedrückten Bewusstsein stehen bleiben, sondern gerade
diese innere Reinigung und Durchleuchtung, die Katharsis, ruft die Gnade von
oben herbei, "während unten, vom Menschen her, nichts weiter erfolgt als
das Erlebnis der Sündhaftigkeit und der menschlichen Nichtigkeit" d.h. das
Empfinden der Kreatürlichkeit.4)
Um Berdjajew noch einmal zu
Wort kommen zu lassen, zitieren wir die Zentralstelle seines Erlebens:
"Ein verschärftes und anhaltendes Erleben der Sündhaftigkeit führt zu
Niedergedrücktheit, während das Ziel des religiösen Lebens die Überwindung der
Niedergedrücktheit ist. Und ich habe den Zustand der Niedergedrücktheit
überwunden, habe den Zustand eines großen Aufschwungs erfahren. Es war das eine
wahrhafte innere Erschütterung und Erleuchtung. Dies geschah im Sommer, auf dem
Gut. Ich lag im Bett und bereits gegen Morgen war mein Wesen erschüttert von
einem schöpferischen Aufschwung, und ein starkes Licht erleuchtete mich. Ich
hatte den Übergang von der Niedergedrücktheit durch die Sünde zum
schöpferischen Aufflug vollzogen. Ich verstand, dass das Sündenbewusstsein den
Übergang hin zum Bewusstsein des schöpferischen Aufschwunges finden muss, wenn
der Mensch nicht abstürzen soll"5).
Schließlich fassen wir seine
Erfahrung mit den Worten des Denkers zusammen: "Das Erkennen der Gottheit
setzt voraus, dass man durch eine Katastrophe des Bewusstseins, durch eine
geistige Durchleuchtung hindurchgegangen sei, welche die eigentliche Natur der
Vernunft verändert hat: Die durchlichtete, erleuchtete Vernunft ist schon eine
andere Vernunft, nicht eine Vernunft von dieser Welt und von dieser Zeit. Die
Gottheit ist der durchlichteten, erleuchteten, geistig einheitlichen Vernunft
immanent, bleibt aber der alten Vernunft, der Vernunft des natürlichen
Menschen, des alten Adam transzendent und unzugänglich. Erst die Vernunft
Christi macht ein immanentes Erfassen der Gottheit möglich. Aber das Erlangen
der Vernunft Christi bedeutet eine Katastrophe für unser altes Bewusstsein,
eine Unterbrechung in unserem natürlichen Denken"6). Hier, an dieser
Stelle, könnten sich Berdjajew und etwa Hegel einander an der
Stelle annähern, wo es um die Qualifizierung der Vernunft geht. Wenn Berdjajew
von der vom Geist erleuchteten Vernunft spricht, so sprachen die Philosophen
des deutschen Idealismus von einer Vernunft, die den Verstand, der Dualismen
setzt, aufgehoben hat. Insofern kann Berdjajew interpretieren – ohne damit
freilich Hegels Monismus zu teilen: "Die Vernunft, die Hegel vor Augen
hatte – und das ist der Punkt, der uns hier am meisten interessiert –,
entsprach nicht der Vernunft, wie Luther sie begriff, sondern dem, was er unter
Gnade verstand. Nach Hegel ist es nicht die menschliche Vernunft, die erkennt,
sondern die göttliche, denn der Akt der Erkenntnis, der religiöse Akt, ist
nicht ein solcher des individuellen Menschen, sondern des allgemeinen
Geistes".7) Als Personalist konnte Berdjajew dem hegelschen Geistverständnis
nicht zustimmen und konstatierte: "Die Philosophie Hegels, die das
Konkrete suchte, ohne es zu erreichen, die die menschliche Individualität
auslöschte, hat eine Reaktion des menschlichen gegen den allgemeinen Geist
hervorgerufen. Das Göttliche ist schließlich als Ausdruck der Knechtung des
Menschen erschienen" (S. 30f.). Es ist hier nicht der Ort, Berdjajews
Vorwürfe gegen Hegel zu entkräften.
Das
Bewusstsein als Schöpfer der Welt (nach C.G.Jung), der Ort der Kenosis, der
Gedanke des Zimzum und das "Nichts", die Tragödie in Gott als die
Erfahrung des gott-menschlichen Prozesses nach J.Moltmann und Gottes personale
und impersonale "Vollkommenheit" nach K.Nishitani
Diese Erschütterung, der
Aufflug des ganzen menschlichen Wesens, das sich einem neuen, höheren Leben
zuwandte, zeigte Berdjajew ein "neues Sein", weil er ein neues
Erkennen erhalten hatte. Zugleich mit dieser Verwandlung des "Ich"
verwandelt sich auch seine Weltschau. Eine ähnliche Interpretation finden wir
auch aus östlicher Sicht bei Lama A.Govinda: "Mit der Verwandlung der
Psyche aber beginnt die Verwandlung der "Welt", in der das Individuum
lebt. Denn was wir als Welt erleben, ist nicht eine feststehende, gegebene
Größe, eine außer uns bestehende und von uns unabhängige Wirklichkeit, sondern
das Produkt unserer Sinneseindrücke und des sie verarbeitenden und
interpretierenden Bewusstseins".
Nichts anderes meinte auch
C.G.Jung, als er in seiner Autobiographie "Erinnerungen, Träume,
Gedanken" schrieb: "Der Mensch, ich, gab der Welt in unsichtbarem
Schöpferakt erst die Vollendung, das objektive Sein. Man hat diesen Akt dem
Schöpfer allein zugeschrieben und nicht bedacht, dass wir damit Leben und Sein
als eine auskalkulierte Maschine ansehen, die sinnlos, mitsamt der menschlichen
Psyche, nach vorbekannten und -bestimmten Regeln weiterläuft. In einer solchen
trostlosen Uhrwerksphantasie gibt es kein Drama von Mensch, Welt und Gott;
keinen ‚neuen Tag’, der ‚zu neuen Ufern’ führt, sondern nur die Öde errechneter
Abläufe ... der Mensch ist unerlässlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist
der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt
... Menschliches Bewusstsein erst hat objektives Sein und den Sinn geschaffen,
und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozess unerlässliche Stellung
gefunden"8). In einem Brief des Jahres 1959 klagte Jung: "Niemand hat
bemerkt, dass es ohne reflektierende Psyche so gut wie keine Welt gibt und dass
das Bewusstsein mithin einen zweiten Weltschöpfer darstellt" (so
W.Giegerich, S. 184). So können wir es als gesicherte Erkenntnis annehmen, dass
"Bewusstseinsentstehung und Weltschöpfung [d.h. auch die Weltsicht] immer
parallel gehen und mit gleicher Symbolik auftauchen" (E.Neumann). Dies
besagt, dass die Welt in Wirklichkeit nur in dem Maße "ist",
"indem sie von einem Ich erkannt wird. Der Differenzierung des
Bewusstseins entspricht eine sich differenzierende Welt" (Neumann). Es
kommt also im Laufe der Entwicklungsgeschichte sowohl des Einzelmenschen
(Ontogenese) als auch der Gesamtmenschheit (Phylogenese) zu einer
Systematisierung des Bewusstseins, und die beiden Systeme
"Bewusstsein" und "Unbewusstes" werden getrennt. Nur durch
die relative Entmächtigung des Unbewussten kann das Ichbewusstsein – zum
Beispiel des Kindes – erstarken, dass es eines Tages "Ich" sagt,
damit sein Selbstbewusstsein artikuliert, um sich so von der Welt zu
unterscheiden. Es ist typisch und auch natürlich für die Entwicklung des
Menschen, dass sich das Bewusstsein aus dem Unbewussten differenzieren muss.
Eine integrierte Persönlichkeit wird ein entsprechendes Welt-Bild haben, eine
unstrukturierte Persönlichkeit wird sich einer diffusen und chaotischen Welt
gegenüber sehen.
Unser Thema ist die
partnerschaftliche Beziehung zwischen Gott und Mensch oder – um es mit einem
Buchtitel von A.J.Heschel zu sagen –: "Gott sucht den Menschen".
Dieser Prozess des den Menschen suchenden Gottes, des Vorgangs der Einsicht und
der Umkehr auf menschlicher Seite, exemplarisch dargestellt am Gleichnis des
"verlorenen Sohnes" (Lk 15,11-31), ist das Ergebnis des "sich
erinnernden" Gottes, der den Sohn gesucht hat, ja, der sich selbst im Sohn
an sich erinnert, der im Menschen in einer "kenotischen" Bewegung in
diese Welt hinein sich entäußert und sich "leer" gemacht hat.
Versuchen wir diesen für die christliche Theologie so wichtigen Zentralgedanken
noch näher zu deuten, so gelingt es mit einigen Erläuterungen des japanischen
Religionsphilosophen K.Nishitani, der sich einmal als "werdend gewordener
Buddhist" und als "werdender (nicht gewordener) Christ bezeichnete:
Er sieht das tiefste Selbst-Gewahrwerden des Menschen als die Grenze seines
Seins im "Nichts", freilich nicht in einem leeren "Nichts",
sondern in einem Nichts, das nur adäquat mit dem christlichen Kenosis-Gedanken
zu verstehen ist. "Gottes Liebe, so heisst es, ist in Christus offenbar
geworden, und Christus "entäußerte" sich selbst, indem er
Knechtsgestalt annahm (kenosis). Diese Selbst-Entäußerung bedeutet ein
In-sich-leer-Werden und daher Knecht-Werden, Leer-Werden. Der Herkunftsort der
Inkarnation befindet sich in Gott selber, da, wo er, der Liebende, in sich leer
wird; in jenem Ort der kenosis in Gott. Und das "Nichts",
welches in der Realisation der Sünde [bzw. der so empfundenen Nichtigkeit oder
Kreatürlichkeit, dem Spiegelbild der Absonderung von Gott] im Menschen
hervorkommt, mag als Korrelativ zu diesem "Sich-Entäußern" göttlicher
Liebe gedacht werden"9).