Mystik und Religion bei Berdjaev
Heinrich Michael Knechten
Berdjaev schreibt: "Das Bewusstsein der Nähe zu Gott, das Bewusstsein dessen, dass wir Kinder Gottes sind, nicht aber Sklaven, ist der psychologische Untergrund meiner religiös-philosophischen Ideen." (S. 6).
Er setzt das "neue religiöse Bewusstsein", welches er in seinem 1907 erschienenen gleichnamigen Buch skizziert, gegen eine erstarrte Kirchlichkeit, gegen Positivismus und Atheismus, gegen anarchischen Irrationalismus.
Das Wesen der Mystik sieht er in der Vereinigung von Menschlichem und Göttlichem, in der Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt, in der Befreiung aus den Zwängen der objektiven Welt.
Mystik bedarf aber nach Berdjaev der Religion. Letztere lehrt den Menschen den Sinn seines Daseins und den Sinn der Geschichte. Ohne Religion verkommt Mystik zu Illusion oder Quietismus. Berdjaev tritt für eine schöpferische Gestaltung der Welt ein, gerade aus mystischer Erfahrung. Er sieht sich als Gnostiker, nicht jedoch in einer Linie mit Valentinos und Basilides, sondern vielmehr in der Nachfolge eines Origenes, Klemens von Alexandrien und Maximos des Bekenners.
Andererseits braucht Religion Mystik, wenn sie nicht stagnieren und versanden will. Berdjaev vertritt einen dynamischen und persönlichen Offenbarungsbegriff: "Offenbarung ist ein geheimnisvoller (tainstvennyj) innerer Akt der Geburt des Logos in unserem innerlichen mystischen Element. Dies ist unsere mystische Erfahrung, welche durch die Vernunft (razum) erfasst wird" (S. 21). Der Mensch erfährt seine göttliche Herkunft. Er glaubt an den Mensch gewordenen Logos, weil er in sich selbst den Logos trägt. Berdjaev geht nicht von einer ein für alle Mal geschehenen, abgeschlossenen Offenbarung aus, sondern von einer immer neuen Offenbarung, von der Erschließung immer neuer Wahrheiten (istiny).
Berdjaev wendet sich gegen ein moralistisches Verständnis der Religion, wie es Kant und Tolstoj zu eigen war. Damit tritt er nicht für Unmoral ein. Die Moral ist Teil der Religion; Letztere aber auf Moral zu reduzieren, käme ihrer Zerstörung gleich. Der Sündenfall ist keine Übertretung eines moralisches Gesetzes, sondern die Tragödie der ursprünglichen Freiheit: die Trennung von Geschöpf und Schöpfer, ja, der Aufstand des Geschöpfes gegen den Schöpfer.
Wer die Moral überbetont, stellt ein totes Gesetz über den lebendigen Gott. Christus ist nicht für Heuchler in die Welt gekommen, die meinen, gerecht zu leben, sondern für Sünder. "Das Heil der Menschheit ist ein mystisch-seinshafter Akt, ein geheimnisvoller Akt der Freiheit und der Liebe, übermoralisch und überrational" (S. 29). Es ist unmöglich, auf dem Wege der Moral gerettet zu werden!
Das Pathos der Moral ist negativ, nicht schöpferisch. Die Moral sieht in der Abwendung vom Bösen etwas Gutes, schafft aber nicht das grundsätzlich Gute. Dadurch verkümmert der schöpferische Charakter der Religion. Unsere Aufgabe ist es aber, den Tod durch das Leben zu besiegen. Der Logos soll sich in uns und im Kosmos inkarnieren. Wer Gott näher kommt und mit ihm eins wird, wird frei und gelangt zur Freude, zur Fülle des Lebens. Dies ist die Vergöttlichung des Menschen.
Individualistische Religiosität, das Anstreben des Heils für den Einzelnen, verhindert Gemeinschaftlichkeit (sobornost'). Die Erde gilt als nichtig; das irdische Leben ist lediglich eine Zeit der Vorbereitung für das eigentliche, himmlische Leben. Die Religion des Lebens verkehrt sich somit in eine Religion des Todes, die sogar Pogrome im Namen des Glaubens rechtfertigen kann. In ihr gilt noch ein Ivan der Schreckliche als frommer Christ.
Manche fordern im Namen der Gewissensfreiheit eine anarchische Mystik, frei von jeder Bevormundung durch Religion. Dies aber ist ein Exzess des Individualismus, welcher der Alleinheit (vseedinstvo) feindlich gegenübersteht. Anarchismus ist rein negativ und nicht schöpferisch. Er negiert jegliche Autorität, ist aber nicht fähig, Gemeinschaftlichkeit aufzubauen.
Irrationale Mystik lehnt jeglichen Realismus ab. Damit wird zugleich die Kulturgeschichte verneint, welche in erster Linie eine Geschichte des Logos ist. Irrationalisten möchten sich von Gott befreien, da sie sich Gott nur als eine feindliche Macht vorstellen können, die darauf aus ist, Menschen zu versklaven. Es ist ihnen unzugänglich, dass Gott die Freiheit ist.
Das Dionysische spielt eine große Rolle im religiösen Leben. Steht es aber isoliert da, führt dies zu einer chaotischen Mystik. Notwendig ist daher die Verbindung mit dem Apollinischen. "Ohne dionysische Kräfte gibt es kein mystisches Element im Dasein, kein Leben; doch ohne Vernunft (Razum), welche dem Chaos Gestalt verleiht, hat das Leben keinen Sinn und das Dasein kein Ziel. Es gibt keine Hoffnung auf ein Erreichen allumfassender Harmonie und Schönheit" (S. 44).
Berdjaev fordert die Ablösung eines Lebens, das vom Gesetz der Notwendigkeit bestimmt ist, durch die Entfaltung der Persönlichkeit. Dies ist nicht gleichzusetzen mit Egoismus. Vielmehr soll Gemeinschaftlichkeit entstehen, die aus der Vereinigung mit Gott lebt. Der Geist kann sich dann im Leben verkörpern. Aus der Vereinigung von Gottheit und Menschheit wird neues Leben möglich.
"Wir erwarten die Offenbarungen des Heiligen Geistes über eine neue Gesellschaftlichkeit (obščestvennost'), über die religiöse Entwicklung (chod) universaler Kultur und ihre religiöse Vollendung. Wir erwarten die Überwindung des Dualismus zwischen Religion und Leben in der Welt, himmlischem Heiligtum und irdischer Geschichte" (S. 56).
Vgl. Nikolaj A. Berdjaev, Novoe religioznoe soznanie i obščestvennost', St.Petersburg 1907; neu hg. u. kommentiert v. V.V.Sapov, Moskau 1999.