Mystik und Gnosis bei Nikolai Berdjajew

 

Klaus Bambauer

 

 

"Wenn das Wort Mystik von dem Worte Mysterium herkommt, so muss die Mystik als Grundlage der Religion und als Quelle der schöpferischen Bewegung in der Religion erkannt werden". Nikolai Berdjajew


"Gott will und braucht den Erkenner, den christlichen Gnostiker. Der Geist ist Geist vom Heiligen Geist und darf nicht ausgelöscht werden". Karl Pfleger

 

Vor zehn Jahren schrieb der Berdjajew-Kenner R.Rössler: "Jahrzehntelang wurde Berdjajew in der [damaligen] Sowjetunion totgeschwiegen, aber seine Auffassungen erregten stets das Interesse denkender Menschen. Durch die stärkeren Kontakte mit den westlichen Ländern, in denen das emigrierte geistige Russland eine neue Heimat gefunden hatte, wurde man in den letzten Jahren auch wieder verstärkt auf Berdjajew aufmerksam. Auch im Zusammenhang mit anderen ideologischen Erfordernissen wurde das totale Schweigen über Berdjajew und andere Denker seiner Richtung gebrochen. Es ist nicht mehr ausgeschlossen, dass seine Werke in seiner Heimat eine Neuauflage erleben" (1). Inzwischen hat man in Paris begonnen, eine neue russische Werkausgabe Berdjajews ins Leben zu rufen. Dieses neuerwachte Interesse am Werk des bedeutenden russischen Denkers veranlasst uns, spezifischen Termini bzw. geistigen Haltungen, die er aus der Geistesgeschichte aufgenommen hat, nachzugehen und ihre Bedeutung zu untersuchen.

 

Unser Ziel ist es nun, aufgrund einer französischen Neuveröffentlichung zum Werk Berdjajews Mystik und Gnosis im Zusammenhang seines Denkens als für ihn prägenden Begriffen nachzugehen.

Dem Kenner der Werke Nikolai Berdjajews wird es nicht verborgen geblieben sein, dass in seinem Werk Mystik und Gnosis als spirituelle Geisteshaltungen eine ganz besondere Rolle spielen, da sich der russische Denker selbst als Mystiker mit einer gnostischen Geisteshaltung bezeichnet hat, wie vor allen Dingen aus zahlreichen Bemerkungen seiner philosophischen Autobiographie "Selbsterkenntnis" als auch aus einem seiner Hauptwerke, der "Philosophie des freien Geistes" hervorgeht (2).

 

Die französische Schriftstellerin M.-M.Davy († 1998), gute Kennerin und Vertraute des russischen Denkers, ist in ihrem Buch "Nicolas Berdiaev ou la révolution de l'Esprit"(3) in einem besonderen Kapitel dem Themenbereich "Mystik und Gnosis" bei Berdjajew nachgegangen. Es ist das Ziel unserer Darstellung, mit Hilfe der Interpretation der Autorin sowie einer Reihe von Selbstzeugnissen N.Berdjajews, sowohl denen, die M.-M.Davy gesammelt hat als auch solchen, die sich im übrigen Werk des Autors finden, seinen mystischen und gnostischen Tendenzen auf die Spur zu kommen, ohne das ungeheuer weite allgemeine Feld der Mystik in der Breite und Tiefe auch nur berühren zu können. Hier muss auf die umfangreiche Fachliteratur verwiesen werden.

 

Es geht uns nur darum, die Frage zu klären, inwiefern N.Berdjajew den genannten Geisteshaltungen zugerechnet werden kann, wie es M.-M.Davy vertritt. In einem zweiten Teil werden wir die Stellungnahmen verschiedener Autoren zu diesem Thema heranziehen.

 

Als einleitendes Motto hat M.-M.Davy zwei Zitate Berdjajews über ihre Interpretation des Kapitels "Mystik und Gnosis" gestellt:

 

  1. "Die Mystik ist ein Sieg über den Zustand der Kreatur" (aus: "Geist und Wirklichkeit", Lüneburg 1949).
  2. "Ich glaube an die Gegenwart eines mystischen Universellen, eines universellen Spiritualismus" (aus: "Selbsterkenntnis").


Mit diesen Leitworten ist der Tendenz dieses Kapitels schon der Weg in eindeutiger Richtung gewiesen. Wir wenden uns zunächst in einem kurzen ersten Teil zunächst einmal den Ausführungen von M.-M.Davy zu, um daraus ihre Definition von "Mystik" zu entnehmen.

 

A. Gedanken zur Mystik bei Berdjajew

 

"Der Theandrismus schließt jede Trennung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren aus. Der Unterschied behauptet sich, befreit von jeder Vermischung, aber die Vereinigung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen ist unvergänglich. Nicolas Berdiaev hat den tiefen mystischen Charakter des zur Gnosis hin offenen orthodoxen Gedankens unterstrichen.

Der Begriff 'Mystik' kann uns in Verlegenheit bringen. Er führt oft im Westen einen pejorativen Sinn mit sich. Im orthodoxen Denken ist das mystische Leben von jedem emotionalem Gehalt entblößt. Es existiert keine Dramatisierung der leidenden Menschheit Christi, keine fühlbare Verehrung, keine sentimentale Bilderschau. Das mystische Leben präsentiert sich wie eine Orientierung zum Mysterium: zu dem Gottes und zu dem des Menschen, in dem der Geist lebendig geworden ist. Die Mystik ist eine spirituelle Stimme, die zur Kontemplation gelenkt wird. Sie ist zugleich Lehre und Erfahrung. Spekulativ bringt sie eine 'inspirierte und intuitive' Erkenntnis mit sich. Angesichts der authentischen Mystik erheben sich mystische Unwahrheiten. Im Westen wird der Begriff 'Mystik' manchmal im irrtümlichen Sinne benutzt. So spricht man von einer kommunistischen Mystik, von einer gemeinschaftlichen Mystik u.s.w. Es handelt sich hier um einen trügerischen Gebrauch, weil die Mystik eine spirituelle persönliche Erfahrung beansprucht, die die Gemeinschaft flieht. So unterscheidet sich die Mystik von der sozialisierten und daher objektivierten Religion (4). Die von Nicolas Berdiaev in den Blick genommene Mystik befindet sich im Inneren des Christentums, sie ordnet sich in das Herz selbst des christlichen Dramas ein. Das Drama des Christentums kommt her aus einem Konflikt zwischen dem spirituellen Leben, das nicht von ‚dieser Welt’ ist (denn der Geist ist genau ‚das, was nicht von dieser Welt ist’), und der Notwendigkeit für den Geist, in die natürliche Welt herabzusteigen, ohne sich dort einzurichten" (5).

 

In seiner Studie über den "Gottesbegriff bei Berdiajew" [Diss. München 1968] hat sich auch der griechische Philosoph S.Panou in einem kurzen Abschnitt mit der Mystik bei Berdjajew beschäftigt. Er definiert Mystik [nach E.Lampert, N.Berdyaev, Modern Christian Revolutionaries, New York 1947, S. 336] als das tiefste Wissen. Mystik „ist eine Kenntnis, die ihre Quelle in dem lebendigen und unmittelbaren Kontakt mit der letzten Wirklichkeit hat; sie muss als Begründung und Quelle aller schöpferischen Bewegung angesehen werden“. Panou erläutert: "In ihr ist die endgültige Überwindung der Transzendenz gegeben, des Dualismus zwischen Übernatürlichem und Natürlichem, während die gewöhnliche Frömmigkeit auf Distanz begründet ist. Weil die Mystik das Transzendente immanent 'macht', ist sie gleichsam 'die Entdeckung des Realen hinter dem Symbol'. Die Mystik ist der Weg des Hingehens des Göttlichen zum Menschen. Daher bildet die Mystik die unerlässliche Atmosphäre für die Offenbarung des Göttlichen, sie ist der Raum der Möglichkeit der Schau des Göttlichen und der Ewigkeit […]. Sie setzt aber auch die Möglichkeit einer lebendigen Berührung mit diesem Geheimnis voraus, ein Leben mit ihm und in ihm. Die Bejahung des Vorhandenseins des Mysteriums und die Leugnung der lebendigen Erfahrung des Mysteriums bedeutet Verneinung der Mystik. Der Mensch findet Berührung mit dem mystischen Lebensmysterium nicht auf der Ebene der Gnoseologie, dort berührt er nur das Unerkennbare, er findet Berührung mit dem Geheimnis im Leben selber, in der mystischen Erfahrung, im Umgang mit ihm […]. Mystik ist 'Überwindung der Kreatürlichkeit' (Berdjajew), das bedeutet, dass es in der mystischen Erfahrung keinen unüberwindbaren Dualismus zwischen Übernatürlichem und Natürlichem, zwischen Göttlichem und Kreatürlichem gibt. Das Natürliche wird in ihr zum Übernatürlichen, das Kreatürliche wird vergottet. Die Mystik ist eben die Lehre vom Wege der Überwindung des natürlichen, kreatürlichen Seins (russ. bytie), die Lehre von den Wegen der Vergottung (Theosis) des Menschen und der Welt. Innerhalb dieser Atmosphäre der Mystik, als des Raumes der Vergottung, ereignet sich für den Erlebenden das 'Wunder' der Anwesenheit Gottes in ihm selbst. Kann es denn einen größeren oder besseren Beweis für das Dasein Gottes geben als den der Mystik? Die Texte der Mystiker bilden einen deutlichen Beweis dafür. Die unorthodoxen Thesen von Berdjajew, obwohl sie von der Ratio kontrolliert werden, hätte man leicht als subjektive Willkür ansehen können, trotzdem sind sie konsequent für seine philosophische Orientierung. Der ganzheitliche, konkrete, lebendige Mensch ist in sich der Erkennende. Freilich verbleibt auch der anthropologische Beweis Berdiajews im Rahmen der Apophatinität; er ist vielleicht der mehr apophatische Weg, denn nur der Erlebende kann über die Wahrheit des Erlebten sprechen. Das Dasein Gottes wird immer ein 'Skandal' für die 'Ratio' sein […]. Sein Denken ist keine Bemühung um eine Synthese auf hegelianische Weise zwischen kataphatischer (These) und apophatischer (Antithese) Theologie, es ist vielmehr eine konsequente Fortsetzung des apophatischen Klimas der orthodoxen Mystik, die ihre Wurzeln durch Pseudo-Dionysius im Neuplatonismus hat, zusammen mit vielen Elementen der deutschen Mystik" (6).

 

Ergänzend zu dieser Darstellung der Auffassung von Mystik bei Berdjajew weist S.Panou noch darauf hin, dass Berdjajew in seinem Aufsatz 'A.S.Chomjakow als Philosoph' (1904) sich durch das erkenntnistheoretische Prinzip der „primären Glaubensakte“ bei Chomjakow, durch das „lebendige Bewusstsein“ und die ganzheitliche Vernunft bei Kirejewskij sowie durch die mystische Wahrnehmung Solowjews veranlasst, zum Ausdruck gebracht habe, dass er selbst einen Übergang vom „transzendentalen Idealismus“ zum „transzendentalen Realismus“ vollzogen habe. Insofern konnte Berdjajew (nach S.Panou) in seinem religionsphilosophischen Spätwerk „Versuch einer eschatologischen Metaphysik“ formulieren: "Mein philosophisches Denken ist nicht wissenschaftsmässig, nicht rational-logisch, sondern intuitiv-lebensvoll, ihm liegt die geistige Erfahrung zugrunde" (a.a.O., S. 25).

 

"Mystik im philosophischen Sinn stützt sich auf eine Form von Leben und Denken, wie sie der alltäglichen Erfahrung zunächst und zumeist verborgen bleibt. Sie erhebt jedoch den Anspruch, keine nur zusätzliche Erkenntnis aufzuzeigen, sondern die Erfahrung der grundlegenden und absoluten Realität zu thematisieren. So erscheint nur für das allgemeine Erfahren und Denken Mystik als das eigentlich Klare und Gewisse. Mystik gibt sich somit einerseits als etwas rationaler Logik grundsätzlich Entgegengesetztes und sie Übersteigendes (Transzendentes), andererseits aber auch als Grund jeglichen Erkennens. Die Begründung von Mystik kann somit durch rationalen Diskurs allein nie geleistet werden, sondern verlangt einen existentiellen Wandel, eine totale Umwandlung des Bewusstseins. So wird über die denkende Reflexion hinaus in der mystischen Literatur meist ein diesen Wandel fördernder meditativer Übungsweg sowie eine die spirituelle Erfahrung integrierende Praxis in der Welt beschrieben" (7).

 

Exkurs 1: Der Begriff der Theandrie/Theoandrie bei N.Berdjajew im Bezug zur Patristik

 

Bevor wir uns im weiteren den Fragen der Mystik und Gnosis bei N.Berdjajew zuwenden, soll es zunächst einmal zu einer Begriffsklärung kommen. Wenn M.-M.Davy den Terminus "Theandrie" auf den Kontext des berdjajewschen Denkens anwendet, sei noch einmal unterstrichen, dass Berdjajew, wie er es in seiner Autobiographie bezeugt, sich schon sehr früh dem griechischen Denken und insbesondere der Patristik zugewandt hat. Er schreibt darüber: "In jener Zeit (am Ende des 19. Jhdts.) studierte ich auch die patristische Literatur, konnte mich aber nicht so recht für sie erwärmen. Unter den Kirchenvätern war mir Origenes der liebste und ganz besonders der heilige Gregor von Nyssa; in der asketisch-mystischen Literatur schien mir Isaak der Syrer am tiefsten vorzudringen. In diesen Jahren fanden die vorbereitenden Arbeiten zu einer originalen russischen Religionsphilosophie statt" (8).

 

Wie schon angedeutet, geht es N.Berdjajew stets um das Wechselverhältnis, um die gegenseitige Angewiesenheit zwischen Gott und dem Menschen, dem Menschen und Gott. – Er nennt es mit seinem Buchtitel die "Existentielle Dialektik des Göttlichen und des Menschlichen" (9). Marios P.Begzos hat in seiner Studie "Nikolaj Berdjajew und die Byzantinische Philosophie" einprägsam darauf hingewiesen, wie diese Beziehungen Berdjajews zur Patristik zu bewerten sind. Wenn, wie M.P.Begzos zu Recht schreibt, die Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Transzendenz und Immanenz die Grundfrage des russischen Religionsphilosophen bleibt, so führt dies zu der folgerichtigen These: "Das Thema der Theoandrie ist das Grundthema des Christentums" (10). So werden also in dem Terminus Theandrie die beiden Begriffe Theos (Gott) und Aner (Genitiv: andros; Mensch) miteinander verbunden und werden zum fundamentalen Begriffspaar bei Berdjajew. Wie sich diese Beziehung gestaltet, führt Berdjajew selber aus: "Man sollte die philosophische und die theologische Spekulation nicht mit Gott und nicht mit dem Menschen beginnen – denn diese beiden Prinzipien lassen die Zerrissenheit unüberwunden – sondern mit dem Gottmenschen. Das Urphänomen des religiösen Lebens ist die Begegnung und das geistige Aufeinanderwirken von Gott und Mensch, die Bewegung von Gott auf den Menschen zu und vom Menschen auf Gott zu. Im Christentum findet diese Tatsache besonders gespannten, konzentrierten und vollkommenen Ausdruck. Im Christentum erschließt sich die Menschheit Gottes. Die Vermenschlichung Gottes ist der grundlegende Vorgang im religiösen Selbstbewusstsein der Menschheit […]. Der grundlegende Mythos des Christentums ist das Drama von Liebe und Freiheit, das sich zwischen Gott und dem Menschen abgespielt hat, die Geburt Gottes im Menschen und die Geburt des Menschen in Gott. Die Erscheinung Christi, des Gottmenschen, ist eben die vollkommene Vereinigung zweier Bewegungen, von Gott zum Menschen und vom Menschen zu Gott, die endgültige Geburt Gottes im Menschen und des Menschen in Gott, die Verwirklichung des Mysteriums der Zweieinigkeit, des Mysteriums der Gottmenschlichkeit. Das Mysterium des religiösen Lebens lässt sich außerhalb der Zweieinigkeit, außerhalb der Begegnung und Vereinigung beider Naturen mit Wahrung ihrer Unterschiedlichkeit nicht erfassen" (11). Insofern ist es folgerichtig, mit M.P.Begzos festzustellen: "Sollte man die Philosophie Berdjajews auf einen einzigen Grundbegriff reduzieren, dann lässt sich dieser mit „Gottmenschen“ benennen. Die Theoandrie, das Gottmenschentum bleibt das Herzstück von Berdjajews Weltanschauung. Und gerade um diesen Punkt seiner Metaphysik kreisen fast alle Kategorien seines Denkens wie z.B. Person, Eschatologie, Dialektik u.s.w. Mit diesem Kriterium der Theoandrie beurteilt Berdjajew die patristischen Theologen. Er benutzt die Texte der Kirchenväter unter dem Blickpunkt seiner philosophischen Interessen und würdigt sie im Lichte seiner eigenen metaphysischen Denkweise. Entspricht ein Stück der patristischen Literatur dem Prinzip der Theoandrie, wird es von Berdjajew leidenschaftlich mit Begeisterung aufgenommen. Widerspricht ein Kirchenvater der Dialektik von Gott und Menschen, dann wird er von Berdjajew scharf kritisiert oder einfach vernachlässigt. Man muss dieses Kriterium immer vor Augen haben, um Berdjajews Stellungnahme zur patristischen Theologie verstehen zu können. Das erklärt auch, warum sich Berdjajew nur für zwei oder drei Vertreter der griechischen Überlieferung interessierte, wobei er andere Kirchenväter der späteren byzantinischen Literatur mit philosophischerer Denkweise, wie z.B. Photius oder Gregor Palamas außer Betracht lässt. Die anthropologische Fragestellung mit Schwerpunkt auf dem Gottmenschentum (Theoandrie) ist die Richtschnur in Berdjajews Beziehung zur byzantinischen Philosophie" (12). Ebenso hält Begzos den Zentralgedanken des hl. Athanasius in seinem theologischen Gewicht für Berdjajew, dessen Grundthema er in der Theoandrie, der existentiellen Dialektik von Gott und Mensch sieht, fest: "Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch vergöttlicht werde". Folgerichtig gilt: "In der patristischen Theologie fand Berdjajew die schönste Formulierung seiner metaphysischen Überzeugung. Athanasius könnte ein Lehrer Berdjajews sein oder er könnte sein gegenwärtiger philosophischer Partner werden" (13).

 

 

Fortsetzung