Matthias Grünewald
Inhalt
Die
Rettung des Isenheimer Altares
Jesus, liebster Herre mein – ich bitte Dich, daß Du mich annimmst zum Docht auf der Lampe, zu der Du das Öl gibst. Geht mir nit darum, ob mein Leib verdorrt wie Gras und mein Nam verweht wie Rauch. Aber um Dein Bild in mir geht es, das die Welt schauen soll. Zünd Dein Licht an und laß mich sein wie ein heilig Feuer am Rande der finsteren Öde, damit die im Dunkeln wissen, wo Du zu finden bist.
Dieses Gebet stammt von dem großen Maler Matthias Grünewald. Wie Caravaggio, El Greco, Michelangelo und Rembrandt hat er versucht, das Religiöse und Heilige bildhaft darzustellen.
In dem angeführtenGebet wurde eine Schriftstelle paraphrasiert, nämlich: „Meine Tage sind wie Rauch geschwunden, meine Glieder wie von Feuer verbrannt. Versengt wie Gras und verdorrt ist mein Herz, so daß ich vergessen habe, mein Brot zu essen“ (Ps 101/102, 4f).
Dieses bittere Resumé trifft auf das Leben des Malers zu. Dabei aber bleibt es nicht. Als Ziel seines Lebens sieht er, daß der Herr Sein Bild in ihm abbildet, damit es die Welt schaue. Deshalb wirken die Bilder Grünewalds so lebendig, weil sie durchscheinend sind für das Transzendente.
Er möchte Docht in der Lampe sein, deren Öl vom Herrn gegeben wurde. Er selber wird ein heiliges Feuer am Rande der finsteren Öde, damit die Menschen Gott finden können.
Matthias Grünewald führte ein ereignisreiches Leben. Allerdings sind dessen Eckdaten nicht sicher feststellbar. Er wurde zwischen 1475 und 1480 in Würzburg oder bei Aschaffenburg geboren und starb 1528 oder 1531/1532 in Halle an der Saale.
Seine Bilder lassen erkennen, daß er sich mit dem Werk der Maler Hans Holbein, Albrecht Dürer, Lucas Cranach des Älteren sowie Albrecht Altdorfer und auch mit niederländischer sowie italienischer Malweise vertraut gemacht hatte.
1505-1508 diente Grünewald als Hofbeamter dem Mainzer Erzbischof Jakob von Liebenstein (1462-1508). Unter dessen Nachfolger Uriel von Gemmingen (1468-1514) arbeitete er bis 1514 als Wasserbauingenieur und beaufsichtigte die Bautätigkeit der Erzdiözese. Die Umbauarbeiten in der Aschaffenburger Burg mißlangen und es kam zu einem Prozeß, bei dem Grünewald allerdings nur selten anwesend war, da er von 1510 bis 1516 sein Hauptwerk, den Isenheimer Altar schuf.
Ab 1516 war er Hofmaler des neuen Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg (1490-1545). Für diesen war er als oberster Kunstbeamter des erzbischöflichen Hofes in Halle an der Saale für die Überwachung von Bauvorhaben zuständig.
1526 schied er aus dem Hofdienst aus und ließ sich in Frankfurt am Main nieder. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Seifenmacher. Er hatte Sympathien für die rebellierenden Bauern.
1527 übersiedelte er wieder nach Halle. Dort verstarb er.
Zum Verständnis des Isenheimer Altares ist auf das Antoniusfeuer hinzuweisen, das durch den Verzehr von Mutterkorn verursacht wurde. Dies ist eine längliche Dauerform (Sklerotium) des Mutterkornpilzes, die aus Getreideähren herauswachsen kann und für Tier sowie Mensch giftig ist. Durch die Vergiftung mit Ergotamin kommt es zu einer massiven Verengung der Blutgefäße und in der Folge zu einer Durchblutungsstörung von Herzmuskel, Nieren und Gliedmaßen. Daher können Finger und Zehen absterben. Verwirrtheit, Wahnvorstellungen, Erbrechen und Durchfall können die Folge sein. Der Tod tritt durch Atem- oder Herzstillstand ein.
Der Antoniterorden, der 1095 gegründet wurde, widmete sich der Pflege der Menschen, die am Antoniusfeuer erkrankt waren. Sie bauten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Isenheim eine Präzeptorei. Der Obere des Hospitalklosters wurde als Präzeptor (Vorsteher, Lehrer) bezeichnet. Isenheim, französisch Issenheim, liegt 21 km südlich von Colmar.
Der Isenheimer Altar wurde 1656/1657 vor den Wirren des Dreißigjährigen Krieges in Thann in Sicherheit gebracht. 1792 wurde der Altar noch vor Ausbruch der Französischen Revolution nach Colmar ausgelagert. Das vergoldete Schnitzwerk des Altares, zwei Leiterwagen-Ladungen, ging bei der Überführung verloren. 1832 brannte die Hospizkirche in Isenheim ab. 1853 wurde der Altar in der zum Museum umfunktionierten ehemaligen Dominikanerinnenabtei Unterlinden in Colmar aufgestellt.
Wurde ein Patient aufgenommen, führte man ihn zunächst in die Kirche und ließ ihn den Isenheimer Altar betrachten. Es gab Spontanheilungen und auch merkliche Verbesserungen auf dem Weg zur Gesundung. Das heilige Bild machte heil.
Mit einem überlangen Zeigefinger verweist Johannes der Täufer auf Jesus und sagt: „Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“ (Joh 1, 29). Dies ist Christozentrik; Christus ist es, der heilt. Auf ihn setzte der Kranke seine Hoffnung. Allerdings verwendeten die Antonitermönche auch Heilkräuter, um zumindest Linderung zu ermöglichen. Sie sind zu Füßen der Eremiten Paulus und Antonius wiedergegeben, die sich miteinander unterhalten: Breitwegerich, Spitzwegerich, Eisenkraut, Kreuzenzian, Klatschmohn, Gamander-Ehrenpreis, Wundklee, Taubnessel, Hahnenfuß und Dinkel.
Wer sich die Seitenflügel des Orlier-Altares angeschaut hat, die Ludwig Schongauer (vor 1450 bis 1494) im Jahre 1470 für die Antoniter-Komturei von Isenheim malte, und dann zum Isenheimer Altar übergeht, vollzieht einen Schritt von der mittelalterlichen Malweise Schongauers hin zur expressionistischen Malweise Grünewalds, hier gemessen, dort aufwühlend und einem neuen Menschenbild verpflichtet.
Die bleichen, verzweifelten Gesichter von Maria, Johannes und Maria Magdalena, mit geröteten Augen, der leichenhafte, grotesk verzerrte, über und über mit Wunden bedeckte Körper des Gekreuzigten, die schrecklich verzerrte Hand, die finstere und öde Umgebung, die fahle und blutigrote Farbpalette sowie die pathetisch übersteigerten Gesten – in der Darstellung solch eines ausweglosen Leidens fand sich der Todkranke wieder.
Neben der Kreuzigungsszene war für die Erkrankten die Darstellung der Peinigung des heiligen Eremiten Antonius besonders ergreifend und sogar erschütternd. Die dargestellten Dämonen und Ungeheuer hatten aufgequollene Bäuche und abfaulende Gliedmaßen wie sie selber. Hier war der Horror bildlich dargestellt. Zugleich aber war doch die Gewißheit vor Augen geführt, daß der heilige Antonius, in dessen Kloster sie sich befanden und von dessen Mönchen sie gepflegt wurden, die schrecklichsten Prüfungen und Qualen in der Kraft Christi überwunden hatte. Sie begriffen: Wenn sie sich nicht von der Panik mitreißen ließen, konnte es sein, daß sie überlebten und vielleicht sogar wieder gesund wurden.
Selbst wenn es zum Äußersten kam, wenn der Kranke dem unausweichlichen Tode nahe war, konnte er doch Trost schöpfen, wenn er sich das Bild Christi vor Augen hielt, der für uns gestorben ist.
„Wir sind Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um auch mit ihm verherrlicht zu werden“ (Röm 8, 17). Der Umgang mit Schmerzen, körperlichem Verfall und Todesangst beschränkte sich aber nicht auf die compassio, das Mitleiden mit dem Gekreuzigten. Das komplexe Werk des Isenheimer Altares bot auch Stoff für Betrachtung und Meditation, für das Nachsinnen über die Geheimnisse des Heiles.
„Plötzlich war bei dem Engel ein großes himmlisches Heer, das Gott lobte und sprach: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2, 13f).
Das sogenannte Engelkonzert zeigt drei geflügelte Engel, welche für die hochschwangere Maria, die rechts auf der Tempelschwelle kniet, musizieren. Sie trägt eine Flammenkrone, während über ihr zwei Engel mit einer goldenen Krone und einem goldenen Szepter herabschweben. Sie wird also die Flammenkrone der Erbsünde von den Menschen nehmen, nachdem ihr die Himmelskrone sowie das Himmelsszepter verliehen worden sind. Neben ihr steht eine Glaskaraffe, welche auf die Benennung der Gottesmutter als vas spirituale (geistliches Gefäß) in der Lauretanischen Litanei hinweist. Ein dunkler Vorhang trennt die himmlische von der irdischen Welt.
Vor dem Tempelchen kniet ein pausbäckiger Engel, der eine Viola da Gamba spielt. Allerdings führt er den Bogen rückwärts, wodurch kein Ton erklingt. Der rechte Engel unter dem Baldachin, bekleidet mit einem rosaroten und grünen Gewand, spielt eine Bratsche mit richtiger Handhaltung und die linke Figur spielt eine Gambe. Sie ist von unten bis oben mit grün-bräunlich schillernden Federn bedeckt. Den Kopf ziert ein Kamm aus Pfauenfedern. Der Pfau ist ein Symbol der Hoffart, da er einherstolziert. Aus dem Munde des Gambenspielers dringt roter Feuerschein, der sich in den Federn seines linken Flügels widerspiegelt. Die Endglieder von Zeige- und Ringfinger sind wie vom Antoniusfeuer geschwärzt. Dies ist ein gefallener Engel, Luzifer (Lichtbringer, Morgenstern), der auch auf Erlösung wartet.
Diese Lehre stützte sich auf folgende Schriftstellen: „Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem“ (1 Kor 15, 28). „Ihn muß der Himmel aufnehmen bis zu der Zeit, in welcher alles wiederhergestellt wird“ (Apg 3, 21).
Der Theologe Origenes (185 bis um 254) entwickelte daraus
die Lehre von der ἀποκατάστασις
πάντων apokatástasis pántōn – die
Wiederherstellung von allem. Dem liegt ein zyklisches Denken zugrunde. Vgl.
Origenes, Über die Prinzipien III, 6, 6, herausgegeben von Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp,
Darmstadt 31992, 658.
Die Kirche verurteilte diese Lehre: „Wenn einer sagt: Der Zustand der Intelligenzen werde der gleiche sein wie früher, als sie noch nicht herabgestiegen oder gefallen waren, so daß der Anfang gleich dem Ende ist und das Ende das Maß des Anfangs – so sei er im Banne“ (15. Anathematismos aus dem Jahre 553, in: Origenes, Vier Bücher von den Prinzipien, Darmstadt 31992, 830.
Es ist bemerkenswert, daß Grünewald auch einen „Gegenspieler“ Gottes in das Konzert der Erwartung des Erlösers integriert.
Hinter den drei musizierenden Engeln sind drei Köpfe gemalt, in deren Auren farbige Lichtpunkte unterschiedlicher Stärke aufleuchten. Dies ist ein Hinweis auf die Engelränge: Engel und Erzengel, Cherubim und Seraphim, Mächte und Gewalten, Throne, Herrschaften und Fürstentümer. Quellen dieser Engellehre sind Röm 8, 38 und die Ausarbeitung durch Dionysios Areopagita in der Himmlischen Hierarchie 6, 2, herausgegeben von Günter Heil und Adolf Martin Ritter, Berlin und Boston 22012, 26.
Die Musik der Engel erinnert an die Sphärenmusik. Die erwähnten Seltsamkeiten zeigen auf, daß hier der Schnittpunkt zwischen himmlischer und irdischer Musik ist. Die Unvollkommenheiten, Erkrankungen und Hindernisse spiegeln in realistischer Weise irdische Verhältnisse wieder.
Über den Köpfen der Engel schwebt eine bläulich schimmernde Aureole. Im Zentrum dieser Aura-Kugel ist eine Frau mit dem Gesicht eines einfachen Menschen zu sehen, welche andächtig ihre Hände faltet. Es handelt sich um Eva, deren Geschick durch die Gottesmutter („Ave Eva“) gewendet werden wird. Aus ihren Haaren stieben Funken. Dies weist auf die Flammenkrone der Gottesmutter hin. Eva ist die Urmutter, Maria ist die Miterlöserin (coredemptrix), die Mutter des Neuen und bleibenden Lebens. Die Flammenkrone erinnert an das Flammenschwert, das den Zugang zum Paradies verwehrt (Gen 3, 24). Maria hat diesen Zugang durch die Geburt Christi wieder eröffnet.
Eva wird von mehreren Gestalten umgeben, die das Kugelgebilde begleiten. Zwischen dem Kinn des gefiederten Engels und dem Griffbrett seiner Gambe scheint ein kindliches Gesicht hervor. Dieses schlafende Wesen hat rostrote, strohige Haare. Von weiteren Wesen unter dem Baldachin sind nur die Köpfe zu sehen, bei anderen zeigen die Gliedmaßen unterschiedliche Entwicklungsstadien. Sie vermitteln eine feierliche und erwartungsvolle Seelenstimmung. Andächtig und verehrend wenden sie sich der flammengekrönten Frau auf der Tempelschwelle zu. Sie zeugen von der atemlosen Spannung vor der Geburt ihres Retters.
Maria sitzt auf einer mit Kalksteinplatten ausgelegten Terrasse, die durch eine niedrige Mauer von dem dahinter liegenden Garten getrennt ist. Darin wachsen links vorne ein Feigenbaum und rechts hinten ein Lebensbaum. Der Feigenbaum ist voller reifer Früchte. Sein unterster Zweig wächst schräg hinüber auf die andere Seite des Pfades zu dem Lebensbaum und berührt ihn an der Spitze. Der Lebensbaum war ursprünglich grün, die Farbe ist aber nachgedunkelt und erscheint heute schwarz. Rechts und links des Weges ist dunkelgrüner Rasen, aus dem allerlei Wiesenblumen herausleuchten.
Blumen sind Zeichen des Frühlings und der Hoffnung auf ein erneuertes Leben. Das Leben des Menschen war verwelkt wie eine Blume (Jes 40, 6f), wird aber erneuert durch die Menschwerdung Gottes.Wer fromm lebt, sproßt auf wie eine Rose, die an einem Wasserlauf wächst (Jes Sir 39, 13).
Feigen waren im Altertum ein Hauptnahrungsmittel und galten deshalb als Fruchtbarkeitssymbol. Die Feigenblätter galten als Symbol der Sünde (Gen 3, 7). Insofern liegt es nahe, den Feigenbaum dieses Gartens als Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aufzufassen (Gen 3, 5). Jesus suchte Frucht am Feigenbaum und verfluchte ihn, da er keine fand (Mt 21, 19). Die Gottesmutter hebt die Versklavung an die Sünde auf und macht das Leben wieder fruchtbar.
Der Lebensbaum stand in der Mitte des Gartens Eden (Gen 2, 9). Der Lebensbaum ist Sinnbild göttlicher Weisheit (Spr 3, 18). Der Lebensbaum ist Siegespreis der Seligen (Offb 22, 14) und ist Teil des Himmlischen Jerusalems (Offb 22, 2).
Der Gartenweg führt zwischen Feigenbaum und Lebensbaum auf die geschlossene Gartenpforte zu, welche in die hohe, aus rotem Sandstein gefügte Umfriedungsmauer eingelassen ist. Die senkrechte Mittelleiste der Gartenpforte, an der die beiden Flügel in der Mitte zusammenstoßen, bildet zusammen mit den Querleisten ein Doppelkreuz. Weiter hinten ist ein Gewässer.
Der Deutungsschlüssel dazu ist eine Stelle aus dem Hohenlied: „Hortus conclusus soror mea sponsa hortus conclusus fons signatus“ (Hld 4, 12). Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, Braut, ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle.
Der Zweig, der vom Feigenbaum, dem Baum der Erkenntis von Gut und Böse, zum Lebensbaum wächst, trägt sieben Feigen. Die vierte Feige hängt über der Gartenpforte, deren Türflügel mit dem Querstreben ein Doppelkreuz bilden. Dies bedeutet: Die Menschheit hat die Möglichkeit, von einem verfehlten Leben wieder zur Fülle des Lebens zu gelangen. Das Kreuz Christi eröffnet diese Möglichkeit.
Links neben Maria ist ein Feldbett, auf dem eine neue und eine abgenutzte Windel liegt. Dargestellt sind ein irdenes Töpfchen mit der aramäischen Inschrift שמלכין šæ-malkín für („wovon gilt“) Könige, ein Badezuber, bedeckt mit dem Badetuch, damit das warme Badewasser nicht abkühlt, ein Waschlappen, der am Rande des Badezubers hängt, und eine Glaskaraffe, deren Reinheit und Durchsichtigkeit auf die Jungfräulichkeit Mariens verweist.
Der Jesusknabe in den Armen Mariens ist noch nicht beschnitten. Somit werden hier die Vorbereitungen der Beschneidung dargestellt. Der Waschlappen reinigt vor der Beschneidung und der Wein in der Karaffe desinfiziert nach der Beschneidung.
Maria hält die Windel so, daß sich Daumen, Zeige- und Mittelfinger zu einer segnenden Gebärde finden. Der Knabe sollte bereits am achten Tage beschnitten worden sein. Hier aber wird er als etwa neunmonatiges Kind dargestellt. Daher hält er eine Beißwurzel in der Hand, die beim Zahnen Linderung verleiht. Sie befindet sich an einer Schnur, an der eine Sonnenscheibe hängt, die Christus als Licht der Welt ausweist (Joh 8, 12). Außerdem sind an dieser Schnur fünf goldene Perlen. Verbindet man sie mit geraden Linien miteinander, ergibt sich ein Pentagon, Hinweis auf die Menschwerdung Gottes. Außerdem sind an der Schnur noch sieben glanzlose Perlen aufgereiht. Die Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit: die Woche hat sieben Tage, Jesus sättigte die hungrige Menge mit sieben Broten (Mk 8, 5) und das Vaterunser enthält sieben Bitten.
Urin ist salzhaltig, verursacht also nach der Beschneidung mehrere Tage lang brennende Schmerzen. Daher wickelte Maria das Kind zunächst in eine Windel, die vom vielen Waschen weich geworden war und nicht scheuerte, und erst dann in eine neue.
Das irdene Töpfchen hat vier Stummelfüßchen, welche für die Elemente Erde, Feuer, Wasser und Luft stehen. Der Henkel läuft oben in ein Schlangenköpfchen aus. In Verbindung mit dem Feigenbaum, der darüber gemalt ist, ergibt sich ein Hinweis auf die Unterhaltung mit der Schlange (Gen 3, 1-5) und die Sünde im Paradiese. Christus befreit von der Sünde.
Weder die entfernte Vorhaut noch der Wein, welcher zur Desinfektion gebraucht wurde, dürfen mit der Erde in Kontakt kommen. Daher werden beide in dem irdenen Töpfchen aufgefangen.
Rechts wächst ein dornenloser, gegabelter Rosenstrauch, der sieben Blütengebilde in unterschiedlichen Entwicklungsstadien trägt, von der Knospe bis zur welkenden Blüte. Der christliche Dichter Cælius Sedulius († um 450) hatte die Gottesmutter als „Rose ohne Dornen“ bezeichnet: e spinis mollis rosa (Carmen Paschale II, PL 19, 595, 28).
Der Überlieferung nach hatte die Rose im Paradiese keine Dornen. Erst nach dem Sündenfall änderte sich dies. Maria stellte diesen paradiesischen Zustand wieder her. Die sieben Entwicklungsstadien der Blüten verweisen auf die allmähliche Durchsetzung der Erlösungskraft, aber auch auf die Möglichkeit der Verfehlung des Heiles („Verwelken der Blüte“). Im Zusammenhang mit der Gottesmutter bedeuten sie die Sieben Schmerzen Mariens.
Gottvater thront mit Reichsapfel und Szepter über einem Engelheer, das in gleißendem Licht auf und nieder schwebt. Oberhalb des Feigenbaumes geleitet ein Engel einen Zug lichter Wesen von der rechten zur linken Seite des Doppelbildes hinüber. Zwei sommerlich gekleidete Hirten staunen über den offenen Himmel. Über den Hirten fliegt eine junge, weibliche Engelsgestalt in einem rötlichen Gewande nach rechts, während sich über ihr ein alter, bläulicher Engel mit grauem Prophetenbart schwerelos nach links bewegt.
Die Wächter schlafen fest, während sich die Grabplatte mit Getöse zur Seite schiebt und nach hinten abkippt. Der Auferstandene ist zugleich der Verklärte, welcher wie die Sonne leuchtet. „Sein Angesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht“ (Mt 17, 2). Eine Aureole umgibt den verklärten Auferstehungsleib. In der Gloriole sind fließende Übergänge von weißlichem Gelb über Orange, Ocker, Rot, Braun, von Violett zu blau und türkis. Dies sind die Spektralfarben.
Christus schwebt schwerelos aufwärts. Seine Himmelfahrt wird hier also ebenfalls dargestellt. Das Licht geht von ihm aus, umstrahlt ihn aber gleichzeitig, weil es das nicht materielle Licht der Dreieinigkeit ist. In der Aureole herrschen Gelbtöne vor. Sie bilden einen Kontrast und eine Polarität zum tiefblauen Sternenhimmel.
Christi Augen blicken liebevoll. Seine Hände sind segnend erhoben. Von den Wundmalen an der Seite, an Händen und Füßen strahlt mildes Licht aus. Der Auferstandene ist auch der Gekreuzigte. Gott und Mensch sind eins. Klarheit, Lauterkeit und Zuversicht werden als Stimmung vermittelt. Für den Todkranken dagegen ist das Auferstehungslicht zunächst blendend und schmerzhaft, ehe es tröstlich werden kann.
Mit regenborgenartig ineinanderfließenden Farbübergängen und mit schroffen Farbkontrasten windet sich das Leichentuch spiralig in die Höhe. Dies ist reiner Expressionismus. Hier begegnen sich Licht und Finsternis, hier wird das immaterielle Licht der Verklärung reflektiert. Von kühlem Blau windet sich das Leichentuch stufenlos zu dunkleren Blautönen, wird tiefblau, violett und schwärzlich. Oben verwandelt es sich in sonnenhafte rote und gelbe Farbtöne. Es sind sensibel aufeinander abgestimmte, ineinanderfließende Farbmelodien einerseits und harte Kontraste andererseits. Die Kraft der Auferstehung breitet sich in denjenigen aus, die sie aufnehmen, und zwar auf unterschiedliche Weise und in verschiedener Intensität, je nach der Aufnahmefähigkeit. Kontraste entstehen dort, wo Verweigerung und Verneinung beginnt.
Sowohl in der Aureole als auch in ihrem Umfeld funkeln oder leuchten Sterne, die zu Sterngruppen zusammengefaßt sind. Erkennbar sind die Plejaden, Sterne aus den Sternbildern Stier, Fische Jungfrau und Löwe sowie der Polarstern. „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfaßt“ (Joh 1, 5).
Der Sarkophag ist aus poliertem, rot geäderten Marmor gearbeitet. Es handelt sich um einen langen und schmalen, quaderförmigen Monolithen. Die Abdeckplatte aus rot geädertem Marmor ist doppelt so breit wie der Sarkophag, welcher zu klein wäre, um den Körper Christi aufzunehmen; denn er ist unfaßbar.
Der Wächter an der linken Seite scheint in seiner Schlaftrunkenheit mit seiner linken Hand etwas abzuwehren. Sein Visier ist aber verrutscht, sodaß er nicht durch die Sehsclitze blicken kann. Der Wächter hinter ihm hatte auf der Grabplatte gesessen, war dabei eingeschlafen und zu Boden geschleudert worden, als Christus von den Toten auferstand. Sein Helm ist ihm dabei über die Augen gerutscht und die Hellebarde entglitt seinen Händen. Hinter der Deckplatte des Sarkophages ist ein dritter Wächter. Er bemüht sich, den Schlaf abzuschütteln, stützt sich auf sein Schwert und ist dabei aufzustehen. Er trägt einen kunstvoll gearbeiteten Plattenharnisch, was ihn als einen Hauptmann ausweist. Ein vierter Wächter kriecht auf allen Vieren unter der Deckplatte hervor, unter der er geschlafen hatte. Ein fünfter Wächter lehnt schlafend an einem Felsbrocken. Ein Bauer wirft sich in Anbetung zu Boden. Im Hintergrund ist ein römisches Militärlager (castrum). Die Wächter sind gegen alles gepanzert, was ihr Wahrnehmungsvermögen übersteigt. Sie akzeptieren lediglich das, was sie anfassen oder zumindest mit ihren leiblichen Augen sehen können. Auf der Hellebarde ist eine Rose mit sieben Blütenblättern abgebildet. Sie verweist darauf, daß auch Menschen, die sich durch einen dicken Panzer vor neuen Einsichten und Erfahrungen abzuschotten versuchen, die Möglichkeit haben, eines Tages einen anderen Weg zu sehen.
Wer versucht, ein wenig tiefer in das Geheimnis des Isenheimer Altares einzudringen, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Es gibt zahlreiche Anklänge an biblische Geschichten und Aussagen, es finden sich in überbordender Weise Zeichen und Metaphern, die expressionistischen Farbabtönungen erstaunen, tiefstes Leid, aber auch höchste Freude werden ausgedrückt – hier ist ein Kosmos an Ideen und Erfahrungen. Charles Baudelaire hatte im Jahre 1857 in dem Gedicht „Correspondances“ (Entsprechungen) innerhalb der Sammlung Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen), Spleen et Idéal, von Wäldern der Symbole (des forêts de symboles) gesprochen (Ditzingen 2023, 30). Dies trifft auf Grünewalds Meisterwerk zu.
Paul Hindemith schrieb 1938 die Oper „Mathis der Maler“, in dem er plastisch darstellt, welche Schwierigkeiten ein Maler in der Zeit der Bauernkriege hatte. Seine Schaffenskraft war blockiert und die Mächtigen seiner Zeit versuchten, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Wäre er ihnen gefolgt, hätte dies sein Talent korrumpiert.
o Beer, Natalie, Mathis der Maler. Ein Matthias-Grünewald-Roman, Graz und Stuttgart 1970.
o Feurstein, Heinrich (1877-1942), Matthias Grünewald, Religiöse Schriftenreihe, 6: Jahresreihe, Bonn 1930.
o Kreuzigung. Bilder aus dem Isenheimer Altar, Freiburg im Breisgau 1975.
o Nigg, Walter (1903-1988), Maler des Ewigen. Meditationen über religiöse Kunst, Zürich 1951.
o Scheja, Georg, Der Isenheimer Altar des Mathias Grünewald (Mathis Gothart Nithart), Aufnahmen von Bert Koch, Köln 1969.
o Schubert, Michael, Der Isenheimer Altar. Geschichte – Deutung – Hintergründe, Stuttgart 2007; Stuttgart 22013.
o Ziermann, Horst, unter Mitarbeit von Erika Beissel, Matthias Grünewald, München, London und New York 2001.
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024