Zur Rezeption von Nikolaj Berdjajew in der
gegenwärtigen Lebensphilosophie*
Klaus Bambauer
Der
Denker Nikolaj Berdjajew (1874-1948) scheint in der gegenwärtigen
philosophischen Diskussion vergessen zu sein. Er hat – so scheint es – die
Zeit, da er als russischer, in Deutschland und später in Frankreich im Exil
lebender Existenzphilosoph große Aufmerksamkeit erregte, hinter sich. Umso
erfreulicher ist es, in der Gegenwartsphilosophie bzw. Theologie diesem Namen
wieder einmal zu begegnen. So ist es wohl sinnvoll, auch auf andere Weise
wieder einmal an ihn zu erinnern, nachdem zuletzt aus der Feder von
S.G.Reichelt als Dissertation eine monographische Arbeit über ihn erschien:
"Nikolaj A.Berdjaev in Deutschland 1920-1950" (1).
Diese
überaus lesenswerte Studie ergänzt als Rezeptionsgeschichte mit neuen
Quellenforschungen und hilfreichen Literaturangaben das große systematische
Werk von W.Dietrich "Provokation der Person", das mit den bisher
erschienenen und längst vergriffenen vier Bänden Leben und Werk Berdjajews als
dem Partner philosophischen Denkens überzeugend und kenntnisreich entfaltet,
ein unverzichtbares Standardwerk (2).
Der
Philosoph K.Albert hat als Vertreter einer philosophischen Richtung, die als
"Lebensphilosophie" bezeichnet werden kann, zwei Studien vorgelegt,
in denen die Beschäftigung mit N.Berdjajew einen erstaunlich und unvermutet großen
Raum einnimmt: So veröffentlichte der Autor vor einigen Jahren ein schmales
Bändchen mit dem Titel "Vom philosophischen Leben", in dem in fünf
Kapiteln Platon, Meister Eckhart, Jacobi, Bergson und Berdjaev (so Alberts
Schreibweise) behandelt werden, (3) und es ist unser Ziel, das letzte Kapitel –
eben Berdjajew – zu behandeln.
Inzwischen
erschien – sozusagen als Fortsetzung oder auch Weiterführung – die von K.Albert
und seiner Mitarbeiterin E.Jain vorgelegte Studie: "Philosophie als Form
des Lebens" (4). Auch in dieser Veröffentlichung stoßen wir wiederholt auf
den Namen Berdjajew und wollen versuchen, das wohlwollende Verständnis, das der
Autor dem russischen Denker in den genannten Studien entgegenbringt, zu
entdecken. Vielleicht ergibt es sich, dass Berdjajew auch über diesen Weg
wieder Interessenten findet, die sich seinen spirituellen Impulsen öffnen und
sich vielleicht auch über eine Wiederbegegnung freuen.
A. Zum Begriff der Lebensphilosophie
Bevor
wir uns den genannten Studien zuwenden, definieren wir zunächst mit E.Jain, was
unter "Lebensphilosophie" zu verstehen ist: "Die
Lebensphilosophie ist eine zeitlich nicht exakt einzugrenzende philosophische
Strömung, in der das Leben selber in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt
wird. Dieser Ausgangspunkt der philosophischen Theoriebildung setzt voraus,
dass die denkerische Aktion gleichfalls im Lebensvollzug stattfindet, also im
Lebensprozess Lebensform ausdrückt.
Lebensphilosophische
Ansätze finden sich schon bei den Vorsokratikern (bes. bei Empedokles), bei den
Stoikern, den deutschen Naturphilosophen seit Paracelsus, im 18. Jahrhundert
bei Hamann, Herder und Goethe und im deutschen Idealismus bei Schelling und
schließlich in der Romantik bei Schlegel; bei dem Letztgenannten aber als eine
besondere Gestaltung des universalen Idealismus. Als Begründer der modernen
Lebensphilosophie sind Schopenhauer, insbesondere aber Nietzsche und Dilthey zu
nennen, deren zeitlicher Ausgangspunkt das Leben als bedeutendstes
Wirklichkeitsprinzip ist. Ihren Höhepunkt erreichten lebensphilosophische
Tendenzen mit Bergson, Simmel, Keyserling und Klages, ohne aber – mit Ausnahme
von Dilthey – ihre gemeinsame Grundhaltung in der Formierung einer
"Schule" zu dokumentieren. So fällt es nicht leicht, einen Denker
eindeutig als Lebensphilosophen zu charakterisieren, zumal von vielen eine
solche Zuordnung abgelehnt wird (u.a. Heidegger und Bollnow) […].
In
der Lebensphilosophie und in den Stellungnahmen zu ihr wird am Begriff des
Lebens vor allem das antimetaphysische Prinzip des Werdens betont,
gleichwohl lassen zahlreiche lebensphilosophische Äußerungen die Vermutung zu,
dass der Lebensgedanke metaphysische und mystische Momente enthält. Diese
bisher noch nicht genügend beachtete Tatsache einer metaphysischen Grundlegung
des Lebensbegriffs stellt sich indes als seine Vertiefung dar, die dem
Leben in seiner allumfassenden Form erst wirklich gerecht wird" (5).
B. Vom philosophischen Leben
Schon
im Vorwort des Buches (S. 7f) weist K.Albert darauf hin, was die genannten fünf
Denker und Philosophen verbindet bzw. wo ihre Schwerpunkte liegen. Ist es bei
Henri Bergson die Intuition, die ihn zu einem Vorläufer der modernen
Lebensphilosophie macht und das Leben in seiner Tiefe erfahren lässt, so
ermöglicht "andererseits der russische Religionsphilosoph Nikolaj Berdjaev
mit seiner Forderung nach der Rückkehr zu einem geistigen Leben" ein Ziel,
das zugleich "Liebe zur Welt und zum Menschen" eröffnet.
Zusammenfassend beschreibt Albert die Aspekte, die die unterschiedlichen Denker
vermitteln so, dass von ihnen ein kontemplatives Leben gespeist wird.
"Insgesamt erweist es [dieses Leben] sich als einfacher, schauender,
innerlicher, gesammelter, tiefer gegründet und geistiger als das Leben, das wir
im Alltag führen. Das philosophische Leben besitzt gegenüber dem Alltagsleben
eine zusätzliche Dimension. Es kann den Alltag nicht abschaffen, aber lässt ihn
in einem anderen Licht erscheinen" (6).
Hinsichtlich
der weiteren Ausführungen K.Alberts zu Berdjajew bemerkt der Autor, dass der
russische Denker sich Einflüssen verschiedener Herkunft öffnete und neben
Dostojewskij, Tolstoj und Solowjew auch deutschen Philosophen wie Kant, Fichte,
Hegel, Marx, Nietzsche und aus dem 20. Jahrhundert Scheler, Jaspers und
Heidegger Wesentliches verdanke. Auch aus der französischen Philosophie, wie
z.B. von Bergson habe Berdjajew manches übernommen und sei bei allen Einflüssen
von außen "dennoch einer der originellsten Denker unserer Zeit"
gewesen. Albert zitiert aus Berdjajews Selbstdarstellung (Philosophenlexikon,
Berlin 1949, S.103): "Die Philosophie ist die Lehre vom Geist. Eine Lehre
vom Geist ist aber vor allem eine Lehre von der menschlichen Existenz. In der
menschlichen Existenz offenbart sich der Sinn des Seins. Das Sein erschließt
sich im Subjekt und nicht im Objekt. Daher ist die Philosophie unausweichlich
anthropologisch und anthropozentrisch. Existentialphilosophie ist nichts
anderes als die Erkenntnis des Sinnes des Seienden durch das Subjekt. Das
Subjekt ist existentiell. Dagegen ist im Objekt das innere Dasein verhüllt. In
diesem Sinne ist die Philosophie subjektiv und nicht objektiv. Sie gründet in
der geistigen Erfahrung" (7).
Charakteristisch
sei für Berdjajews Philosophie – so K.Albert –, dass sie sich gegen die
akademische Philosophie wende und um ein lebendiges Philosophieren bemüht sei,
wie der russische Denker dies in seinem Werk "Der Sinn des Schaffens"
(1916 in Moskau gedruckt, 1927 ins Deutsche übersetzt und bei Mohr/Tübingen
veröffentlicht) ausgedrückt habe. Berdjajew wendet sich vehement gegen eine
wissenschaftliche Philosophie, so wie sie damals etwa vom Neukantianismus und
vom Neopositivismus (z.B. Mach, Schlick, Reichenbach) entworfen wurde und führt
aus: "Das zeitgenössische Bewusstsein ist von der Idee einer
'wissenschaftlichen Philosophie' besessen, steht im hypnotischen Banne der
Zwangsidee von 'Wissenschaftlichkeit'. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht
Husserls Kampf gegen die Weisheit im Namen der Philosophie als einer strengen
Wissenschaft" (8). So unterstelle sich die Philosophie in ihrem Streben
nach Wissenschaftlichkeit einer Fremdherrschaft, denn: "Die Philosophie
ist urtümlicher, uranfänglicher als die Wissenschaft, sie steht der Sophia
näher; sie war bereits da, als es noch keine Wissenschaft gab, sie hat die
Wissenschaft aus sich ausgesondert" (9). Dennoch habe es stets Strömungen
in der Geschichte gegeben, die die Philosophie zur Wissenschaft machen wollten:
etwa in der Antike Aristoteles, Thomas von Aquin im Mittelalter, in der Neuzeit
Kant, Husserl in der Gestalt der Phänomenologie sowie in den Bewegungen der
Wissenschaftstheorie und Soziologie. Berdjajew sieht dies als zu verhindernde
Auflösungserscheinungen, denen er die Tendenzen von Franz von Baader, Wladimir
Solowjew, Nietzsche und Bergson entgegensetzt, die ein Philosophieren
vertreten, "das zumindest in der zentralen Tendenz sich vom Ideal der
Wissenschaft lösen will". Der russische Denker versteht also Philosophie
nicht als Wissenschaft, sondern eher als Kunst: "Philosophie ist eine
besondere Kunst, prinzipiell unterschieden von Dichtung, Musik oder Malerei,
sie ist die Kunst des Erkennens. Philosophie ist eine Kunst, weil sie
Schöpfertum ist" (10). Diesen Gedanken hat Berdjajew in seinem Werk
"Der Sinn des Schaffens" im einleitenden Kapitel "Philosophie
als schöpferischer Akt" (S. 11-51) breit entfaltet. So kommt er zum
Ergebnis: "Die wissenschaftliche Philosophie ist eine Philosophie der
Denker ohne jede philosophische Gabe und Berufung. Sie ist ja auch gerade für
solche Menschen erfunden, die philosophisch nichts auszusagen haben" (11).
Was die Entwicklung der Philosophie anbelangt, so war Berdjajew der Meinung,
dass es hier im Unterschied zur Geschichte der Wissenschaften keinen
Fortschritt gebe, und deshalb sei die Philosophie der Antike in der Gegenwart
weder überholt, veraltet noch zu überwinden. Wenn wahre Philosophie keine
Wissenschaft im herkömmlichen Sinne ist – ihre Fragen beschäftigen sich ja mit
dem Ewigen und Unendlichen – kann sie sich den wissenschaftlichen Kriterien
auch nicht unterwerfen, die jeweils von den Ergebnissen und Erkenntnissen
ausgehen, die einer Vorläufigkeit, Begrenztheit und Zeitgebundenheit
unterworfen sind und damit stets überholbar werden. Eine ähnliche Sicht vertrat
im übrigen Paul Tillich im Blick auf die wissenschaftlich-historischen Erkenntnisse
in der Theologie (12).
Philosophische
Erkenntnisse beanspruchen zwar Allgemeingültigkeit, doch diese gründet in der
Regel "in einer Gemeinsamkeit der Menschen, die tiefere Wurzeln hat als
die oberflächliche Gemeinsamkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse" (13). So
ist für unseren Zusammenhang von herausragender Bedeutung die Einsicht
Berdjajews, dass das Problem der Allgemeingültigkeit kein logisches Problem
sei, "vielmehr ist es ein Problem geistiger Gemeinsamkeit, ein Problem der
Ökumenizität, des gesammelten Geistes" (14). Diese Einsicht findet bei ihm
auch an anderer Stelle die beeindruckende Formulierung, dass die
wissenschaftsmässige Philosophie stets den Beweis sucht, der stets gehorsam,
aber nicht schaffend sei. "Die ewige Forderung von Beweisen ist die
Forderung herabgesetzter geistiger Gemeinsamkeit, inneren Getrenntseins, wobei
alles als Notwendigkeit, nicht aber als Freiheit empfunden wird" (15).
Gegenüber aller Notwendigkeit von Beweisen fordert der russische Autor
vielmehr: "Gemeinsamkeit im philosophischen Erkennen setzt ein gewisses
Maximum an lebendiger Gemeinsamkeit, Einheit, Ökumenizität der wählenden Liebe
voraus. Letztes Kriterium der Wahrheit der philosophischen Intuition kann nur
der ökumenische Gemeinschaftsgeist sein. Ökumenizität des Bewusstseins ist
allein erkennende Liebe. Es bedarf keiner Beweise, die dem ökumenischen
Bewusstsein erbracht werden müssten. Beweise sind nur für jene erforderlich,
die Verschiedenes lieben, die verschiedene Institutionen haben. Man beweist nur
Feinden, nicht aber Freunden der geliebten Wahrheit" (16).
Philosophische
Erkenntnis hängt bei Berdjajew eng mit dem Seinsgedanken zusammen, weil der
philosophisch Erkennende nicht dem Sein gegenübersteht, sondern vom Sein selber
umschlossen ist. Dem Sein ist die Erkenntnis also immanent. Hier nimmt
Berdjajew den griechischen Seinsgedanken auf, wobei er in der Intuition des
Seins, d.h. eben auch im gegenwärtigen schöpferischen Akt – er spricht auch
häufig von der geistigen Erfahrung – zur lebendigen Quelle der
Philosophie kommt. Wenn wir soeben den Begriff der Intuition erwähnt
haben, so kommt Berdjajew bei dem Hinweis auf die schöpferische Intuition dem
nahe, was Henri Bergson als den Weg des Erkennens beschrieb. Berdjajew grenzte
sich im Hinblick auf Bergsons positive, zum Teil auch biologistische Tendenzen
zur Wissenschaft recht scharf von ihm ab, führt aber dennoch aus: "Bergson
hat aber verstanden, dass die philosophische Erkenntnis auf Intuition beruht,
d.h. auf sympathetischem, liebenden Eindringen in das Wesenhafte der Dinge,
nicht aber auf wissenschaftlicher Analyse, die uns außerhalb der Dinge nur an
ihrer Oberfläche sein lässt" (17).
Es
verwundert nicht, dass Berdjajew auch zu Max Scheler, den er persönlich kannte,
in einem positiven Verhältnis stand, Scheler, der ebenso wie Bergson und
Berdjajew die Liebe (als erotisches Moment) zur Intuition des Philosophierenden
zählte. Insofern führt Berdjajew aus: "Philosophische Erkenntnis ohne Eros
ist unmöglich. Das Pathos der Philosophie ist ein erotisches Pathos […]. Die
erotische eheliche Färbung philosophischer Errungenschaften und Erkenntnisse
unterscheidet die Philosophie in radikaler Weise von der Wissenschaft. Die
Philosophie ist eine erotische Kunst. Die schöpferischesten Philosophen sind
die erotischen Philosophen wie z.B. Plato" (18).
Im
Verlaufe seiner Darstellung kommt K.Albert noch einmal auf Berdjajews
Philosophiebegriff zu sprechen, wie er ihn in seinem Werk "Von der
Bestimmung des Menschen" dargelegt hat (19). Dieses Buch wird eröffnet mit
einer kritischen Betrachtung der Erkenntnistheorie, wo der Autor insbesondere
den Neukantianismus im Blick hat und dazu ausführt: "Die Erkenntnistheorie
bedeutet Zweifel an Macht und Recht der philosophischen Erkenntnis. Sie ist
Entzweiung, welche die Möglichkeit der Erkenntnis untergräbt. Wer sich der
Erkenntnistheorie verschrieben hat, kommt selten zur Ontologie; sein Weg führt
ihn vom Sein weg […]. Als der Mensch die Kraft der Seinserkenntnis, als er den
Zugang zum Sein verloren hatte, begann er aus lauter Verzweiflung die
Erkenntnis zu erkennen. So steht ihm auf seinem gesamten Wege seiner Erkenntnis
nicht das Sein, sondern bloß die Erkenntnis gegenüber" (20). Unter dieser
Rückkehr zum Sein versteht Berdjajew nicht eine dogmatische Metaphysik (im
Sinne Kants), sondern das Leben selbst – "es geht um die Überwindung der
Entzweiung, durch welche die Kraft des Erkenntnisaktes zerstört wird". Der
Seinsgedanke verbindet sich – nach K.Albert – bei Berdjajew mit dem Gedanken
des Lebens, das der Philosoph an anderer Stelle (Philosophie des freien
Geistes) auch die "Ur-Realität" oder das "Ur-Leben"
genannt hat. Dieses "Ur-Leben" oder "Ur-Sein" widersteht
jeder Rationalisierung und Objektivierung (21). Gerade in einem seiner
Hauptwerke, der "Philosophie des freien Geistes", widmet sich
Berdjajew dem Leben als der Quelle schöpferischer Philosophie: "Vergebens
glauben die Philosophen, dass eine völlig autonome Philosophie möglich sei,
eine vom religiösen Leben unabhängige Philosophie, frei von jeder Verbindung
mit dem 'Leben' […]. Eine völlig autonome Philosophie, die sich über das
'Leben' hinaushebt, hat es nie gegeben und wird es auch niemals geben. Die
Philosophie ist eine Funktion des Lebens, Selbstbewusstsein und Erleuchtung des
Lebens; sie vollbringt ihr Werk im Leben und für das Leben, und war immer von
dem abhängig, was sich in der Tiefe des Lebens vollzog" (22).
K.Albert
weist besonders darauf hin, dass der Begriff der Lebensphilosophie in
den zwanziger und dreißiger Jahren einen bestimmten Sinn angenommen hatte, von
dessen biologischen Tendenzen sich Berdjajew zu distanzieren versuchte und
deshalb seine unbesehene Einordnung in die Strömung der Lebensphilosophie etwas
problemtisch erscheint: "Unter diesem Aspekt wendet sich Berdjajew sowohl
gegen den Biologismus bei Nietzsche als auch bei Bergson; 'Bergsons Biologismus
ist das Skandalon in seiner Philosophie' [Der Sinn des Schaffens, S. 32]. Es
gibt aber nicht nur den aus der Biologie stammenden Begriff des Lebens, der aus
der Untersuchung der Welt der Objekte gewonnen ist. Das Leben erscheint dem
Menschen auch in der Erfahrung seiner selbst, und diesen Lebensbegriff
verwendet Berdjaev im gleichen Sinne wie die Lebensphilosophen" (23). Ähnlich
wie Dilthey versteht Berdjajew, dass der Geist das Leben ist, "nicht aber
Gegenstand und wird darum nur in der konkreten Erfahrung des geistigen Lebens,
im Durchleben des Schicksals erkannt […]. Der erkennende Geist ist auch der zu
erkennende Geist. Das geistige Leben ist nicht Gegenstand der Erkenntnis; es
ist recht eigentlich die Erkenntnis des geistigen Lebens selber. Erschlossen
wird das Leben nur durch das Leben selber. Die Erkenntnis des Lebens ist Leben
selber" (24). Wichtig wird an dieser Stelle dem russischen
Religionsphilosophen gerade die enge Berührung von Religion und Philosophie in
dem, was er das Mysterium des Ur-Lebens nennt. In seinem letzten Abschnitt
weist Albert darauf hin, dass sich bei Nietzsche, Dilthey und Bergson ebenso
wie bei Graf Keyserling und Georg Misch und nicht zuletzt bei Berdjajew auch
unter dem Eindruck indischen und chinesischen Denkens (Taoismus) ein lebendiges
Interesse für die Mystik entwickelte. Dieses Interesse wird nicht nur durch
zahlreiche Äußerungen in Berdjajews Autobiographie "Selbsterkenntnis"
belegt, sondern spiegelt sich auch in zahlreichen Zitaten aus seinen
Hauptwerken wider, von denen der Mystik-Fachmann K.Albert regen Gebrauch macht.
"Bei Berdjaev findet sich jedoch eine besondere Auffassung der Mystik, die
in gewisser Hinsicht der Auffassung Bergsons vergleichbar ist: Als Höhepunkt
der Mystik wird von beiden die christliche Mystik angesehen, bei Berdjaev aber
unter Ausklammerung der neuplatonischen Mystik des christlichen Altertums und
Mittelalters." (25). Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die profunde
und von der neueren deutschen und amerikanischen Theologie wieder aufgenommene
Ansicht, dass die Schöpfung unabgeschlossen ist, und "es wird somit die
Aufgabe des Menschen, den Schöpfungsprozess fortzusetzen und zu vollenden"
(26).
So
wird N.Berdjajew als eine der wenigen Gestalten des 20. Jahrhunderts etwa neben
Teilhard de Chardin der Erneuerer einer christlichen Mystik, die sich nach
seinem Verständnis weder als banal-platte Esoterik, wie sie heute zu
Markte getragen wird, versteht noch einem ausschließlich pantheistischen
Weltgefühl das Wort redet. Er sieht sich zusammen mit Jakob Böhme, Franz von
Baader, Wladimir Solowjew und zahlreichen anderen Geistesverwandten mehr als
Vorläufer einer neuen Mystik, die über die Mystik der bloßen Einheit (gegen
Solowjews All-Einheitsgedanken) hinausgeht und eine neue Geistigkeit erwartet.
Deshalb konnte er in seiner kurz vor seinem Tode (1948) verfassten Schrift
"Das Reich des Geistes und das Reich des Caesar" den Seinsbegriff dem
Geistbegriff unterordnen. In prophetischer Weise konnte er sagen: "In der
neuen Mystik muss das prophetisch-messianische Element stark sein, und in ihr
muss sich die wahre Gnosis offenbaren, die von der kosmischen Verführung der
alten Gnostiker frei sein wird" (27). Aus seiner Autobiographie wissen
wir, dass Berdjajew sich mit dem Gedanken eines neuen Buches über das ihn
unablässig bewegende Thema trug: "Ich möchte noch ein Buch schreiben, das
von der neuen Geistigkeit und von der Mystik handeln wird. Im Mittelpunkt wird
die fundamentale Intuition meines Lebens vom schöpferischen theurgischen Akt
des Menschen stehen. Die neue Mystik muß eine theurgische sein" (28).
K.Albert schließt: "In
dieser neuen Mystik sind drei Aspekte der bisherigen Mystik zusammengefasst:
erstens 'die Mystik des individuellen Weges zu Gott', zweitens 'die gnostische
Mystik', drittens 'die prophetische und messianische Mystik'. Berdjaev wird
hier zum Propheten, welcher der neuen Mystik voraussagt, sie werde 'ein Sieg
über die falschen Formen der sozialen Mystik sein, ein Sieg des Reiches des
Geistes über das Reich des Caesar'. das ist zweifellos eine sehr optimistische
Voraussage, ob sie eines Tages zutreffen wird, können wir nicht sagen.
Heutzutage sind wir freilich von ihrer Erfüllung noch weit entfernt, vielleicht
sogar weiter als zu der Zeit, in der Berdjaev sie erwartete" (29).