Es ist schwer, einen Anfang zu finden.
Die Kinder wollen, daß ich meine Erinnerungen (Memoiren, wie sie es nennen), aufschreibe.
Also versuche ich mal, mit den ersten Eindrücken anzufangen, die mein Wissen
aufweist.
Geboren am 17.12.1919, gut ein Jahr nach
dem Ersten Weltkrieg. Meine Eltern: Der Vater ein Stukkateur, geboren am
7.7.1891. Meine Mutter Dienstmagd, wie man damals sagte, geboren am 12.5.1890 in
Heyen (Holland). Soviel ich aus Erzählungen weiß, war sie auf einem Bauernhof
in Stellung, später beim Bäcker Schonhofen, Voßstraße, in Goch. Wir waren eine einfache Familie.
Sieben Kinder, fünf Mädchen und zwei Jungen, wurden in der Zeit von 1919 bis
1932 geboren.
Der erste Eindruck, der sich mir
eingeprägt hat, war der Einmarsch der belgischen Besatzungssoldaten. Wir hatten
ein Haus in Goch, Weezer Str. 91. Ich stand damals vor der Haustüre, als die
Soldaten mit Kanonen und Bagagewagen, von Weeze herkommend, an uns
stadteinwärts vorbeizogen. Den Sinn der Sache begriff ich erst viel, viel
später. Die Zeit der Reparationen war da: Abgaben an Kohle und Maschinen zur
Wiedergutmachung.
Eine weitere frühe Erinnerung ist ein
Spaziergang zu Verwandten. Es handelte sich um einen Besuch bei Tante Dina und
Onkel Willy Hendrix. Auf dem Rückweg nahmen wir den Weg von der Brückenstraße
über die Susbrücke.
Diese hieß so, weil dort das Wasser „sauste“. Da fürchtete ich mich sehr. Hier
war ein Stauwehr in der Niers für eine Wassermühle.
Es war üblich, den Kindern zu Weihnachten
Spielzeug aus Holz zu schenken. Den Mädchen Puppenstuben, den Jungen Holzpferde
und Schubkarren aus Holz. Es war auch durchaus üblich, daß Spielsachen in der
Adventszeit plötzlich verschwanden. Weihnachten wurden sie dann frisch poliert
und gestrichen wieder neu geschenkt. Ansonsten gab es bei den meisten nicht
viel zu Weihnachten. Ein Paar Socken oder Handschuhe, dazu für jeden einen
Teller Süßigkeiten. Nicht die Fülle von heute. Ein paar Printen, Spekulatius,
Nüsse, und, wenn es hochkam, eine Apfelsine. Denn Südfrüchte konnten sich
früher nur die Reichen leisten. Wir waren aber zufrieden. Die Geschäfte zeigten
ja auch kein solches Angebot wie heute.
Ich muß wohl ein Kind gewesen sein, das
alles kaputt machte. Muß wohl mitbekommen haben, daß die Eltern von der
Schubkarre sagten: „Sehr stabil! Die bekommt er nicht kaputt!“ Was habe ich
getan? Die Schubkarre auf den Holzklotz gelegt und mit dem Beil
kaputtgeschlagen! Der Hauklotz, meist ein unteres, dickes Ende eines
Baumstammes, diente dazu, das zersägte Holz klein, ofengerecht zu spalten.
Unser Elternhaus war ein Einfamilienhaus,
Eigentum. Unten Wohnzimmer, Küche, Waschküche. Mir ist heute unbegreiflich, wie
Mutter den Haushalt führte, den Garten und die Hühner versorgte. Die viele
Wäsche ohne Waschmaschine! Abends wurde sie eingeweicht, morgens gekocht,
danach auf dem Waschbrett gewaschen, dann gespült, gewrungen und aufgehängt.
Die weiße Wäsche wurde auf eine Wiese zum Bleichen gelegt. Die Gummikragen, die
die Männer trugen, mußten wir montags in die Wäscherei geben. Dort wuschen und
plätteten sie ältere Frauen. Am Samstag wurden sie wieder abgeholt. Man
befestigte sie mit zwei speziellen Knöpfen am Halsbündchen des Hemdes. Noch
heute meine ich, das Schimpfen des Vaters zu hören, wenn wieder die Ösen am
Kragen zugeplättet waren. Man mußte sie dann mit der Spitze einer Schere
weiten. Auch das Verschwinden der Kragenknöpfe war oft Anlaß zu Streitereien.
Über dem Hemd trug man zur Zierde ein Vorhemdchen. Dies war ein gestärktes und
gebügeltes Lätzchen, das auch mit einem Kragenknopf befestigt wurde.
Die Mutter hatte für alles zu sorgen. Vor
allem hatte sie die vielen, teilweise selbstgestrickten Strümpfe zu stopfen.
Denn dauernd hatte einer ein Loch im Strumpf. Die Mädchen hatten Sportstrümpfe
oder baumwollene, plattierte Strümpfe. Strumpfhosen kannte man nicht, auch
Nylonstrümpfe gab es damals noch nicht.
Das Essenkochen war für die große Familie
ein Problem. Riesige Töpfe voll Kartoffeln und Gemüse wurden gekocht. Fleisch
gab es wenig. Mutter verstand es aber ausgezeichnet, aus wenig Zutaten ein
schmackhaftes Essen zu machen. Sie konnte ein Pfund Bratwurst für neun Personen
so richten und einteilen, daß es schmeckte und niemand hungrig blieb. Mutter
sorgte für uns: Wir sind immer satt geworden. Abends gab es meist Milchsuppe
oder Pfannen voll Bratkartoffeln. Freitags Pfannkuchen oder Reibekuchen. Oft
hatte Mutter blutige Finger vom Kartoffelreiben. Sicher, wir Kinder halfen, wo
wir konnten.
Das Gemüse stammte zum größten Teil aus
dem Garten. Im Herbst wurden zwei Fässer Sauerkraut gemacht. Dazu holten wir
bei einem Bauer zwei Zentner Weißkohl. Der Kohl wurde geputzt, die Strünke
herausgeschnitten. Dies geschah noch auf dem Hof. Dann wurde beim Schmied
Tomberg ein Krauthobel für fünfzig Pfennig ausgeliehen. Die Kohlhälften wurden
fest in einen Schiebekasten auf den Hobel gedrückt und der Kohl wurde
zerhobelt. Der geschnittene Kohl kam in ein Faß, lagenweise wurde Salz darüber
gestreut. Ein Tuch wurde darüber gebreitet, zwei rundgeschnittene Bretter kamen
darauf. Darüber zum Beschweren ein Pflasterstein. Die Fässer wurden in den
Keller gebracht. Der Gärvorgang wurde beobachtet, Wasser abgeschöpft, die
Tücher ausgewechselt und die Bretter wieder beschwert. So hatten wir den ganzen
Winter über Sauerkraut.
Ähnliches geschah mit Stangenbohnen, den
sogenannten Fitzebohnen. Sie wurden mit einer Handmaschine geschnibbelt. Nicht
zu vergessen die Kartoffeln: Im Herbst wurden pro Person zwei Zentner
Kartoffeln eingekellert. Dann die vielen Gläser mit eingemachten Früchten. Wir
hatten einen großen Pfirsichbaum im Garten. Solch große Früchte kommen heute
aus dem Ausland in unsere Geschäfte. Ich erinnere mich, daß im Nachbargarten
ein großer Pflaumenbaum mit sogenannten Eierpflaumen stand. Auch die gibt es
heute bei uns nicht mehr. Vater hatte aus Mazedonien, wo er im Krieg war, Samen
von großen, braunen Bohnen mitgebracht. Wir ließen immer eine Reihe dieser
Bohnen im Garten „auf Samen“ stehen. So hatten wir sie dann Jahr für Jahr.
Freitagmittags gab es immer diese braunen Bohnen mit einer Zwiebelsoße und
Heringen. Diese wurden damals viel gegessen. Sie waren billig. Ich sehe noch
die großen Tonnen im Geschäft stehen, in denen Salzheringe eingelegt waren. Zu
Hause wurden sie entschuppt, gereinigt und 24 Stunden gewässert. Dann legte man
sie in ein großes Tongefäß mit Zwiebeln und Gewürz ein.
Die Lagerung von Lebensmitteln in den
Läden war nach heutiger Sicht ein Fiasko. Damals gab niemand etwas darum; man
kannte es auch nicht anders. Man stelle sich vor, im Laden waren Regale mit
Schubfächern, in denen sich Salz, Nudeln, Zucker und Reis befanden. Man
verlangte die Menge, die man haben wollte. Der Verkäufer setzte eine Spitz-
oder Breittüte in einen Halter an der Waage. Er tat die Lebensmittel mit einer
kleinen Blechschippe in die Tüte und wog ab. In der Ecke des Ladens stand ein
Faß mit Speiseöl. Mit Hilfe einer Pumpe und eines Meßglases wurde das Öl in
mitgebrachte Flaschen gefüllt. Daneben stand ein Faß mit Petroleum. Dies wurde
in Blechkannen gefüllt, die zwei bis drei Liter faßten. Man brauchte viel
davon, da wir ja kein elektrisches Licht hatten, sondern Petroleumlampen. Wir
waren es nicht anders gewohnt. Für die Augen allerdings war es nicht besonders
gut. Wir haben dennoch viel gelesen, vor allem Romane und Reiseberichte. Wir
holten unsere Bücher vom Borromäusverein.
Dort konnte man gegen eine geringe Gebühr Bücher ausleihen. Außer Spielen
hatten wir keine andere Unterhaltung. Radio und Fernsehen gab es ja noch nicht.
Mein Vater begann eine Kaninchenzucht. Es
handelte sich um weiße Wiener mit schönen roten Augen. Auf dem Hof wurden
Ställe mit einzelnen Boxen gebaut, unten jeweils mit Dachpappe ausgelegt. Für
das Futter hatten wir zum Teil selbst zu sorgen: Löwenzahn und Klee. Wir
durften allerdings nicht an den Straßengräben Futter holen, weil diese an Leute
verpachtet waren, die dort eine Ziege oder ein Schaf hielten. An einem
Eisenpflock war eine Kette, an der das Tier festgemacht war. Wenn es rundherum
alles abgefressen hatte, mußte jemand den Pflock „vertüren“, d.h. weitersetzen.
Da wir also an den Straßengräben nichts holen durften, gingen wir an die
Wegränder der Felder. Das fiel uns schwer. Für die Kaninchen wurden außerdem
riesige Mengen Rüben, Möhren und Heu gebraucht. Sie wurden auch zu
Ausstellungen der Kaninchenzuchtvereine gebracht.
In dieser Zeit haben wir viel
Kaninchenfleisch gegessen, in allen Variationen: gebraten, als Hasenpfeffer,
sogar Suppe wurde davon gekocht und Wurst gemacht. Die Felle wurden auf Spanner
gezogen und trockneten dann. Wir bekamen 20 oder 30 Pfennige pro Fell. Die
Felle hingen im Trockenraum für Wäsche an der Wand.
Täglich kam ein Milchhändler über die
Straße. Er hatte große Kannen. Mit einem Litermaß gab er die benötigte Menge in
die Kannen der Hausfrauen. Zweimal in der Woche kam der Bäcker vorbei. Er hieß
Pitt und hatte einen alten Kastenwagen mit Pferd. Dieses ging allein weiter,
sowie der Händler an der nächsten Tür war. Pitt kannte meine Mutter, weil sie
im gleichen Haus Dienst getan hatten. So gab er ihr manches Brot umsonst.
Im ersten Haus der Weezer Straße wohnte
ein Feldgendarm. Er hatte einen Pferdestall. Seine Aufgabe bestand darin, jeden
Tag durch die Felder zu reiten und nach der Ordnung zu sehen. Er war eine
imponierende Gestalt. Für uns Jungen war er Auge und Hüter des Gesetzes.
Unser rechter Nachbar war ein
selbständiger Zigarrenmacher. Im Haus hatte er eine Stube, in der er von Hand
Zigarren drehte, in Formen legte und preßte. Die Zigarre besteht ja aus dem
Gut, dem Umblatt und dem Deckblatt. Nachher leimte er das Deckblatt und schnitt
die Zigarre an beiden Enden ab. Ich habe oft zugesehen, wie er die Tabakblätter
behandelte, die Rippen entfernte, die Blätter auf einem Holzbrett
zurechtschnitt und für das Innere kleine Stücke machte.
Ein anderer Nachbar war „Telephöner“, wie
man damals sagte. Er arbeitete beim Fernmeldeamt. Täglich fuhr er mit dem
Fahrrad zur Arbeit, beladen mit Taschen und Kabelschnüren.
Ein Nachbar arbeitete in der
Margarinefabrik. Er war ein würdiger Herr mit langem Vollbart. Auch er hatte
viele Kinder, wie damals üblich. Diese Familie war eigentlich die gemütlichste
und familiärste. Und sie aßen so gerne Heringe! Im Geschäft wurden die Heringe
mit einer Holzzange aus dem Faß geholt und in mehrere Lagen Zeitungspapier
eingewickelt, damit die Lake nicht gleich durchdrang. Wenn die Kinder Heringe
holten, aßen sie schon unterwegs einige auf, salzwassergetränkt, wie sie waren.
Bei dem Geschäft, in dem die Heringe geholt wurden, handelte es sich um einen
Kolonialwarenladen, den Koppers im unteren Teil der Weezer Straße mittlerweile
aufgemacht hatte. Dahinter hatten sie eine Zucker- und Apfelsirupfabrik.
Der nächste Nachbar, van de Sandt, war
städtischer Arbeiter, sonntags Kirchenschweizer. Jeden Abend, sein Leben lang,
schnitzte er auf einer Sitzbank sogenannte Pinnen. Die Schuster brauchten sie,
um die Schuhsohlen festzunageln.
Wöchentlich holten wir einen Zentner
Brikett mit dem Handwagen. Dies tat ich gern. Der Kohlenhändler Elbers wohnte
auch in der Weezer Straße.
Wir hatten einen Friseur, zu dem wir
Kinder alle vier Wochen gingen. Dies war Herr Weber. Im elterlichen Haus auf
der Voßheidestraße hatte er sich eine Stube eingerichtet, in der er die Haare
von Hand schnitt, ohne Maschine. Später gingen wir dann in einen moderneren
Salon zu Herrn von Bebber auf der Weezer Straße. Es hat fünfzig Pfennige gekostet.
Wann ich in die Schule gekommen bin, weiß
ich nicht genau, es muß wohl 1926 gewesen sein. Es war, im nachhinein gesehen,
eine schöne Schulzeit. Obwohl wir von 8-12 Uhr und nachmittags von 2-4 Uhr
Schule hatten (außer Mittwoch- und Samstagnachmittag). Dreimal in der Woche
vorher Messe.
Es gab damals zwei katholische Schulen,
die Steintorschule und die Frauentorschule. Auf der Herzogenstraße war die evangelische
Schule. Unser Schulweg führte über die Weezer Straße und dann durch kleine
Gartenwege. Wo heute der Westring ist, waren früher lauter Gärten. In den
dreißiger Jahren wurde der Westring gebaut und das neue Gymnasium. Das alte befand
sich auf der Asperdener Straße, man nannte es „Zeppelinhalle“. Heute ist dort
ein Wohnblock.
Ja, die Schulzeit! Manch schöne und
unschöne Geschichte passierte da. Einmal gingen wir in einer Gruppe unerlaubt
in der großen Zehnuhrpause zum Markt. Es war gerade Müllabfuhr. Auf dem Rückweg
zur Schule fanden wir eine alte Ziehharmonika. Wohin nun damit? Sie wurde in
der Schule unter die Bank geschoben, in das Fach, in dem sonst der Tornister
lag. Während des Unterrichts löste sich das Band und der Blasebalg gab seltsame
Töne von sich. Der Lehrer ahndete das wie üblich: Da sich keiner meldete, mußte
die ganze Klasse in Zweierreihen durch den Mittelgang nach vorne kommen. (Wir
hatten ja damals drei Reihen Bänke mit je zwei Schülern in einer Bank). Der
Lehrer schlug dann mit dem Rohrstock auf die Hände, die wir vorstrecken mußten,
einer die linke, einer die rechte Hand. So etwas passierte oft. Mancher hatte
Glück und der Schlag ging daneben.
Ja, dieser Rohrstock! Kaufen mußten wir
ihn, natürlich von Lehrers Geld, in einem Korbwarengeschäft. Unglaubliche Geschichten
wurden über ihn erzählt: Wenn man ihn
mit Zwiebeln einrieb, sollte er brechen. Andere versuchten, ihn anzuschneiden.
Er lag immer im Lehrerpult. Einmal haben wir gegenüber der Schule auf dem alten
Friedhof einen Rohrstock beerdigt. Nutzte ja doch nichts, am anderen Tag kam
ein neuer.
In den Pausen vergnügten wir uns auf dem
Schulhof, während die Lehrer, Butterbrot kauend und sich unterhaltend, in einer
Reihe hin und her auf dem Schulhof flanierten. Ein Lehrer hatte immer die
Aufsicht.
Ein Lehrer hatte Hühner zu Hause. Er
veranlaßte uns immer, für seine Hühner die Papierkörbe nach Brotresten zu
durchsuchen. Er hieß Schotten, wir nannten ihn daher „Schottländer“. Er war
immer kränklich, hat aber alle anderen Lehrer überlebt.
Wir hatten vom ersten bis zum vierten
Schuljahr einen Lehrer und vom fünften bis zum achten einen anderen. Dieser Klassenlehrer
blieb also volle vier Jahre, wenn er nicht versetzt oder krank wurde. Die
letzten Klassen unterrichtete der Rektor, der in der Schule wohnte. Es war von
der ersten Klasse an ein Allgemeinwissen-Unterricht. Es gab keine Mathematik,
dafür aber einen guten Rechenunterricht. Es gab auch keine Biologie. Dafür
hatten wir aber damals schon, wenigstens an unserer Schule, einen Schulgarten,
in dem wir gearbeitet und gelernt haben. In Geschichte und Erdkunde
vermittelten die Lehrer uns ein gutes Allgemeinwissen, das noch heute sitzt.
Die Schule war aber nur mit wenigen Hilfsmitteln ausgestattet: Landkarten,
Skelette, ausgestopfte Vögel.
Dann der Heimweg um zwölf Uhr, überall
Kochgerüche! Man wußte schon am Geruch des Essens, welcher Wochentag es war.
Denn früher kochte man traditionell. An bestimmten Tagen gab es bestimmte
Gerichte, am Freitag Fisch, am Samstag Eintopf (aus Linsen, Bohnen oder
Erbsen).
Fußball: Ich war in keinem Verein, habe
aber mitgespielt. Eines Tages wollte ich einen Eckball schießen, der keiner
war. Da hieß es: „Hau ab, Du hast keine blasse Ahnung von Fußball!“ Das habe
ich übrigens bis heute noch nicht, auch keinerlei Interesse daran. Mir lagen
mehr Abenteuer im Blut. In der Freizeit und in den Ferien war reichlich Gelegenheit
dazu. In meiner Erinnerung war in den Sommerferien immer gutes Sommerwetter,
abgesehen von gelegentlichen Gewittern, nach denen es aber sofort wieder warm wurde.
Der Regen wurde von uns beim Spielen gar nicht wahrgenommen. Manchmal ließen
wir uns richtig naß regnen.
Meistens gingen wir in Höst bei Weeze in
der Niers schwimmen. Dort habe ich Schwimmen gelernt: Die Großen warfen mich
einfach ins Wasser. Als man mich dann kurz vor dem Strudel herausholte, konnte
ich schwimmen. Später wurde in Weeze ein Freibad gebaut. Man hatte die Ley
gestaut, da lief das Wasser in ein gebaggertes Loch. Am Ende lief es wieder in
die Ley zurück. Hierhin gingen wir oft. Der Schüler Terröde hatte eine echte
Wasserpfeife. Mit der zogen wir einmal los: einer trug sie, die anderen hatten
je eins der vier Mundstücke, die mit der Wasserpfeife durch Schläuche verbunden
waren. Die Badehose trugen wir auf dem Kopf und gingen so rauchend über die
Straße.
Wir fuhren auch einmal mit der Bahn nach
Kleve und von dort mit der Straßenbahn nach Wyler an die Grenze. Die meisten
Ausflüge waren aber zu Fuß, immerhin fünf bis sechs Kilometer. Oft gingen wir
zu einer Sandgrube in der Knappheide, bei der Reichsbahn. Wir bauten „Höhlen“:
Wir gruben ein Rechteck aus und legten Zweige als Dach darüber. Natürlich
wollte jeder ein Fach in der Wand haben als Platz für das Butterbrot. Hier
wurde auch erstmals geraucht. Das war vielleicht ein Kraut: Schwarzer Krauser!
In der Knappheide befinden sich vorgeschichtliche Hünengräber. Unser Lehrer
erklärte uns im Geschichtsunterricht, was diese auffallend hohen Erdhügel
darstellen.
Ein besonderer Spielplatz war die Straße.
Sie war damals schon geteert. Wir hatten auf sie mit Kreide Springspiele
gemalt. Kreisel wurde gespielt. Das war ein kleiner Kegel mit Metallspitze. Er
wurde mit einer Peitsche in Drehung versetzt. Oder wir bewegten eine
Fahrradfelge mit einem Stöckchen. Der wenige Autoverkehr störte nicht. Die Autofahrer
fuhren allerdings mit heftigem Hupprotest an uns vorbei. Sie hatten meist
offene Wagen, die Gangschaltung war außen. Herren saßen darin mit Handschuhen
und Lederhaube. Die Lastautos hatten starre Federn. Auch bei ihnen war die
Gangschaltung außen.
Dreimal in der Woche mußten wir, wie
gesagt, zur Schulmesse. Am Sonntagnachmittag um zwei Uhr zu Christenlehre und
Andacht, wie es so schön hieß. Da drängte immer die Zeit; denn um halb drei
begann der Fußball. Ein Kaplan war am schnellsten fertig, ich erinnere mich
gut, er hieß Kück. In der Schule wurde dann natürlich nachgefragt, ob jemand
nicht in der Christenlehre war.
Ich muß jetzt den Tag meiner
Erstkommunion schildern. Mutter bekam von der Caritas einen Gutschein, mit dem
wir in ein Bekleidungsgeschäft gingen und einen Kommunionanzug erhielten, blau,
in Matrosenform mit kurzer Hose. Am Tag selbst zog ich diesen Anzug an, dann
setzte man mich auf einen Stuhl, meine Haare wurden mit einer Handvoll
Milch-Wasser-Gemisch eingerieben und dann gekämmt. Die Milch bewirkte, daß die
Haare wie ein Brett steif wurden und den ganzen Tag ihre Form behielten. Von
der Feier in der Kirche weiß ich nur, daß wir uns hinter der Kirche im
Pfarrhaus aufstellten, der Dechant trug Chormantel, Birett und hatte einen Hirtenstab.
Er holte uns ab und führte uns zur Kirche. Die Jungen gingen rechts in die
Bänke, die Mädchen links. Zur Kommunion kamen Meßdiener mit brennenden Kerzen.
Sie führten uns Bank für Bank an die Kommunionbank und wieder zurück. Wir
hatten dies in der Woche zuvor mehrmals geprobt. Zu Hause war ein Essen. Meine
Paten, Tante Johanna und Onkel Jön, waren auch gekommen.
Noch sehr gut erinnern kann ich mich an
die Arbeiter, die aus den umliegenden Dörfern und Städten tagtäglich bis zu
zwei Stunden zu Fuß nach Goch in die Fabriken gingen. Es gab ja zwei
Zigarrenfabriken, eine Magarinefabrik, eine Ölmühle, auch Webereien. Sie hatten
einen Knotenstock bei sich. Daran trugen sie, in ein buntes Tuch eingehüllt,
Verpflegung mit sich. Der Knotenstock wurde über der Schulter getragen. Man
bedenke mal: 14 Stunden Arbeit, dazu für den Weg hin und zurück vier Stunden.
Zu Hause dann noch ein Feld und Tiere, die versorgt werden mußten. Das alles
nur, um bescheiden leben zu können. In Weeze war ein Sägewerk, von dem aus
tagein tagaus zwei Langholzfuhrwerke mit je zwei Pferden davor in den
Reichswald fuhren. Dort wurden beide Fahrzeuge mit Baumstämmen beladen. Spät
abends waren sie wieder in Weeze. Das waren hin und zurück 30 Kilometer, Tag
für Tag. Man spricht manchmal von der „guten, alten Zeit“. Die war gar nicht so
gut! Es hat Not genug gegeben!
In Goch gab es Originale. Da war
Steckrübenpitt, ein großer, starker Mann, der alle anfallenden Arbeiten
übernahm. Oft lief er mit einer litfaßsäulenartigen Papptonne durch die Stadt
und machte Reklame für das Kino. Max Schrievers war ein langes Leben lang
Tambourmajor der Freiwilligen Feuerwehr.
In der Schule war ich niemals sitzen
geblieben. Nach der Schulentlassung mußte ich Arbeit suchen. Von den vierzig
Mitschülern bekamen nur wenige eine Arbeitsstelle. Alle anderen waren seit der
Schulentlassung arbeitslos. Ich hatte Glück. Ich wurde Lehrling in einer
Pinsel- und Bürstenfabrik. Dort arbeitete man noch von Hand. Alles war Naturhaar;
es gab damals noch kein Kunsthaar. Die Pferdehaare oder Schweineborsten wurden
gekocht, dann mit Eisenrechen, die am Arbeitstisch befestigt waren, gekämmt.
Danach wurden sie der Länge nach geordnet. Manchmal wurden sie auch mit anderen
Haaren gemischt. Mich interessierten dabei sehr die Sperrholzkisten mit Haaren
aus China. Ich war gern im Lager, um Kisten auszupacken. Nun ging es zur
Pechhütte. Dort wurden die Bürsten mit Pech in die vorgefertigten und
vorgebohrten Hölzer eingeklebt. Deckenbürsten erhielten schwarze Haare und eine
Reihe weißer Haare ringsum. In der Aschhütte wurden die Pinsel mit Stielen
versehen. Die Haare wurden dazu in Ringe gesteckt, der Ring wurde ein Stückchen
zurückgeschoben, die Haare wurden unten in Asche gedrückt und der Ring wieder
zurückgeschoben. Man ging zu einem Eisenblock, in den verschieden große Löcher
gebohrt waren. Der Pinsel wurde auf ein passendes Loch aufgesetzt und der Stiel
mit einem Hammer eingeschlagen. Dann wurde er ausgerichtet, damit der Pinsel
nicht „eierte“. Schließlich mußte der Pinselmacher noch Kordel um den Pinsel
wickeln und ihn auf der Unterseite mit Farbe versehen.
Nach einer Zeit in der Pinselfabrik
versetzte man mich in das Holzwerk der Firma. Hier wurden die Pinselstiele und
Bürstenhölzer hergestellt. Da war ein großer Holzlagerplatz, auf dem Bretter
gestapelt wurden, die aus Stämmen geschnitten worden waren und eine Zeitlang
trocknen mußten. Dann kamen die Bretter in das Holzwerk. Sie wurden auf die
benötigte Länge zurechtgeschnitten. Mit Fräs- und Hobelmaschinen wurden sie
dann so beschnitten, wie es nötig war. Die Bürstenhölzer wurden in Form
gebracht, dann bohrte man die Löcher für die Borsten. Wenn die Teile fertig
waren, wurden sie auf Schleifmaschinen mit großen Schmirgelpapierbändern
geschliffen und poliert.
Die Entlohnung war freitags. Der Meister
kam mit einem Karton voller Lohntüten und den Abrechnungen für die Woche. Ich
verdiente dreißig Reichsmark pro Woche, von denen ich 29 zu Hause abgab und
eine behalten durfte. Eine Kinokarte kostete aber fünfzig Pfennige. Im Bereich
der Zigaretten gab es die sogenannte Samstagnachmittagspackung. Dies waren drei
Stück der Marke „Eckstein“ zum Preis von zehn Pfennigen. Die Viererpackung, wie
Rothändle und Reval, ebenfalls zehn Pfennige. Die anderen Zigarettenmarken, wie
Orienta und Juno, gab es in Sechserpackungen, zum Preis von zwanzig Pfennigen.
Auch damals waren sie schon in Automaten zu haben. Einige bessere Sorten wie
Greyling, Atika oder Nil kosteten zehn Pfennige mehr. Am meisten wurde damals
Kanaster in der Pfeife geraucht. Es gab billige und teure Sorten.
Meine Schwester Trude begann zwei Jahre
später bei der Schuhfabrik Hoffmann in Kleve zu arbeiten. Täglich fuhr sie mit
dem Fahrrad hin und zurück. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß die
Brote, die sie manchmal wieder nach Hause brachte, nach Azeton rochen und auch
danach schmeckten. Mein Bruder Ernst arbeitete als Anstreicher. Er hat auch
einen Kurs zum Bildermalen besucht. Ernst ist am 5.12.1942 bei Stalingrad
gefallen.
Bis 1923 war in Deutschland Inflation.
Das heißt, das Geld war nichts mehr wert. Arbeiter und Angestellte bekamen
zuletzt täglich ihren Lohn und mußten schnell versuchen, etwas zu kaufen; denn
Stunden später war der Geldkurs schon wieder höher. Viele Leute, Schieber, die
es verstanden, an amerikanisches Geld zu kommen, nutzten die Dollars, um hier
spottbillig Häuser zu kaufen.
Etwas blieb mir aus der Kindheit gut in
Erinnerung: Wenn wir schon mal etwas Geld bekamen, konnten wir für eine Million
ein Bonbon kaufen. Alle waren Multimillionäre, Billiardäre und noch mehr,
selbst die Kinder.
Auf einmal war diese schreckliche Zeit
vorbei. Normales Geld, die Rentenmark kam. Das Geld paßte sich dem Dollarkurs
an. In der Zeit davor gab es örtlich auch Notgeld. In Sammlungen sind ja heute
noch diese Scheine zu sehen.
Die Arbeitslosigkeit nahm zu. Es gab
Arbeitslose, die nachts über die grüne Grenze gingen. Sie schmuggelten sackweise
Tabak und Kaffee. Der Verkauf erfolgte mehr oder weniger offen an den
Haustüren. Schmuggeln war nicht ungefährlich. Einer ist dabei erschossen
worden. Einmal bin ich mit Vater zur Grenze gegangen. Ich meine heute noch, den
Duft der Läden in Holland zu riechen, mit ihrem Gemisch aus Tabak, Kakao und
Kaffee. Wir durften aber nur ein halbes Pfund Kaffee und hundert Gramm Tabak
mitbringen. In Holland war alles viel billiger als bei uns.
In der Schule waren wir im Fach
Bürgerkunde mit der Weimarer Verfassung und den politischen Verhältnissen im
Deutschen Reich vertraut gemacht worden. Zuletzt gab es wohl an die vierzig
Parteien, die alle ihre Ziele anstrebten. Mir fiel besonders eine extreme
Partei auf, die das Inflationsgeld aufgewertet haben wollte. Es gab auch den
Verband „Stahlhelm“. Dies war ein Bund von Frontsoldaten zur Wiederherstellung
der deutschen Wehrhoheit. Im ganzen Reich waren Kämpfe von Spartakus und
Deutschnationalen. Man konnte Parolen lesen, die auf den Platten der Gehwege
oder an Häusern aufgemalt waren:
Wollt ihr Speck im
Henkelmann,
Dann wählt Ernst Thälmann!
Seit Jahren gab es wieder ein Heer, die
Reichswehr. Die Soldaten waren Freiwillige, die sich auf zwölf Jahre verpflichten
ließen. Panzer waren von den Siegermächten nicht zugelassen. Daher übten die
Soldaten mit Panzern aus Pappe. Wer seine zwölf Jahre beendet hatte, bekam
einen Berechtigungsschein für Arbeit in einer Behörde.
Unter Hitler hatten die
Nationalsozialisten schon 1923 von München aus gewirkt. Sie hatten dort einen
Umsturz versucht (dies war der „Marsch auf die Feldherrnhalle“), der aber mißlang.
Hitler kam ins Gefängnis. Dort hat er auch das Buch „Mein Kampf“ geschrieben.
Die Arbeitslosigkeit nahm zu, die Not
wurde größer. Die Arbeitslosen mußten zum Arbeitsamt „stempeln“ gehen: Sie
mußten zu bestimmten Zeiten ein Heft abstempeln lassen. Wöchentlich bekamen sie
ihr Arbeitslosengeld ausgezahlt. Dann kam der Schwarze Freitag, die
Weltwirtschaftskrise, die von Amerika ausging (Oktober 1929). Sie hatte zur
Folge, daß noch mehr Menschen arbeitslos wurden. Es wurden Wärmestuben
eingerichtet, viele konnten täglich eine warme Mahlzeit bekommen.
Im Jahr 1930 wechselte häufig die
Reichsregierung. Dies hatte unter Stresemann begonnen und endete unter Reichskanzler
Brüning. Es gab Notverordnungen. In der Zigarettenschachtel war eine Zigarette
weniger, die Schachtel wurde aber zum gleichen Preis wie vorher verkauft. Im
Reichstag schwand der Einfluß des Zentrums. Immer mehr Abgeordnete von Kommunisten
und Nationalisten kamen in den Reichstag.
Die Parteienkämpfe nahmen zu. Es bildeten
sich Stahlhelmgruppen der SA („Sturmabteilung“) und der SS („Schutzstaffel“).
Wir schrieben das Jahr 1933. Die Zentrumsregierung unter Brüning konnte sich
nicht mehr halten. Hitler wurde Reichskanzler unter dem greisen
Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorf, Reichspräsident Hindenburg. Es gab
da ein Buch von Hitler: „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Der „Kaiserhof“ war
ein großes Hotel in der Voßstraße beim Brandenburger Tor in Berlin. Dem
Kaiserhof gegenüber ließ Hitler eine große Reichskanzlei bauen. Am Abend des
30.1.1933 gab es einen großen Fackelzug der SA, der SS und der HJ
(Hitlerjugend) durch das Brandenburger Tor über die Straße Unter den Linden.
Reichspräsident Hindenburg starb 1934. So war für Hitler der Weg zur Regierung
frei (Ermächtigungsgesetz). Er blieb Reichskanzler. Es gab keinen
Reichspräsidenten mehr, Hitler wurde „Führer“. Das war der Beginn des
„Tausendjährigen Reiches“ und des Kampfes der Nazis gegen alle Parteien, zuerst
gegen die Kommunisten, dann gegen die Sozialisten, bis die Nazis schließlich allein
an der Macht waren.
Damals kamen die ersten Radios auf. Es
waren seltsame Geräte, mit einer Anode,
einem Quarzstein für die Sendersuche und einem Lautsprecher. Später gab es eine
Drehscheibe für die Auswahl des Senders. Das erste kompakte Radio sah ich bei
einem Nachbarn. Er hatte das Gerät ins offene Fenster gestellt, wir standen vor
dem Haus und hörten uns den Boxkampf von Max Schmeling gegen Joe Louis an. Max
wurde Weltmeister. Das war 1936.
Bei uns zu Hause waren die Sorgen größer
geworden. Wir bekamen von der Stadt eine Wohnung auf der Mühlenstraße
zugewiesen. Die untere Etage des Hauses, das man uns zugewiesen hatte, war als
Werkstatt hergerichtet worden. Dazu hatte man die Wände entfernt. Mein Vater
hat zuerst wieder Wände geschaffen: Er setzte Holzbalken, darauf sogenannte
Pliesterlatten, die dann verputzt wurden. So erhielten wir Zimmer. In einem
schliefen wir Brüder. Die Mädchen hatten zwei Zimmer. In den Keller kamen
Kartoffeln und Kohlen. In dem Haus gab es elektrisches Licht. Dies war ein Vorteil:
Wir brauchten nicht mehr die Petroleumlampen.
Überall hatten sich Ortsgruppen der Nazis
gebildet. Auch dem Bürgermeister wurde ein Ortsgruppenleiter an die Seite gestellt,
der ihm die Entscheidungen diktierte. Die SS trug schwarze Uniformen, die SA braune.
Der Verband „Stahlhelm“ wurde der SA eingegliedert. Die älteren Jungen gingen
zur Hitlerjugend, die jüngeren zu den Pimpfen, die älteren Mädchen zum Bund
Deutscher Mädchen, die jüngeren zu den Jungmädeln. Es gab auch die Nationalsozialistische
Frauenschaft.
Inzwischen war politisch viel geschehen.
Die Arbeitslosigkeit war fast verschwunden. Alles hatte der nazistische Staat
jetzt in der Hand. 1938 war der erste für uns sichtbare Schlag gegen die Juden
geführt worden. In der „Reichskristallnacht“ wurden in ganz Deutschland die
Synagogen angezündet. Seit 1933 gab es aber bereits Plakate mit der Aufschrift
„Deutsche kaufen nicht bei Juden“. Die Zeitungen, allen voran „Der Stürmer“,
brachten Greuelmärchen.
Überall bemühte man sich, Ahnenforschung
zu betreiben, um den Ariernachweis zu erlangen. Sogenannte Ordensburgen, wie
Vogelsang in der Eifel, wurden errichtet. Man wollte dort den nordischen Arier
züchten, den Herrenmenschen. Neuerdings brauchte der Staat Menschen. Daher
lobte man die Mütter und belohnte sie mit dem Mutterkreuz für viele Kinder.
Neuvermählten wurde ein Ehestandsdarlehen gewährt.
Das Leben ging weiter, auch mit den
Nationalsozialisten. Die Arbeitslosigkeit nahm ab, die Industrie lebte wieder
auf. Allenthalben wurden ja Uniformen gebraucht und alles, was dazu gehört:
Schuhe, Stiefel, Koppel und Rucksäcke. Auf einmal hieß es, Deutschland bekomme
wieder Soldaten. Das Hunderttausend-Mann-Herr wurde in die Wehrmacht
umgewandelt und es bestand Wehrpflicht. Auch das brachte Arbeit für die
Bekleidungsindustrie. Waffen, Panzer, Kanonen und Wagen mußten produziert
werden. Es wurde ein Reichsarbeitsdienst eingeführt, ein Jahr Verpflichtung vor
der Wehrpflicht. Man wurde in Arbeitsdienstlagern untergebracht. Dieser
Arbeitsdienst war ein militärischer Dienst ohne Waffen, nur mit Spaten. Es
wurden Flüsse reguliert und Moore trockengelegt. In Goch hatte man die
Mädchenschule zu Lager und Kaserne umgebaut.
1936 hieß es, die Wehrmacht marschiere
ins Rheinland ein, das von den Alliierten zum Sperrgebiet erklärt worden war.
Die Menschen hatten wieder das Gefühl, in einem Staat zu leben, der für seine
Leute sorgte. Die Stimmen der Gegner nahmen ab, wenigstens offiziell. Die
Meinung wurde nur noch heimlich gesagt. Man mußte ja immer damit rechnen, daß ein
„Volksgenosse“ (so nannte man damals die Bürger) einen anzeigte. Es gab
mittlerweile scharfe Gesetze gegen Volksverhetzung und Wehrkraftzersetzung. Es
war daher gefährlich geworden, öffentlich seine Ansichten zu äußern. Man
munkelte von Konzentrationslagern. Genaues wußte man nicht, allerdings wollte
man auch unwissend bleiben. Viele waren in der Partei. War es bei allen aus
Überzeugung oder eher um des Vorteils willen? Jedenfalls bekamen Parteigenossen
leichter eine gute Arbeit als andere.
Es ging weiter mit der Aufrüstung. Auf
einmal hieß es, zum Schutze Deutschlands werde ein Westwall gebaut. Auf französischer
Seite bestand ja bereits die sogenannte Maginotlinie. Vor der Wehrpflicht kam
der Reichsarbeitsdienst. Ich kam nach Saarlouis an die französische Grenze.
Untergebracht waren wir in Privatquartieren. Der Westwall bestand aus großen Betonbunkern
in genau berechneten Abständen. Zunächst wurde ein Fundament ausgehoben, dann
kamen die Eisenflechter und errichteten große Gestelle. Die Einschaler brachten
innen und außen Bretter an, die mit Balken verstützt waren. Danach wurden oben
Betonmischmaschinen aufgestellt. Sie hatten lange Laufschienen bis unten. Dort
standen wir und mußten Zement, Sand und Wasser in große Schalen geben. Alles
ging von Hand. Der Maschinist zog dann die Korbschale hoch und das Gemisch kam
in die Mischtrommel. War es fertig gemischt und flüssig, wurde es auf der
anderen Seite in die Drahtgeflechte gegossen. An einem Bunker mußte 24 Stunden
lang ohne Unterbrechung Beton gemischt und gegossen werden. Manche arbeiteten
zwei Schichten hintereinander, um mehr Geld zu verdienen. Die Verantwortlichen
entnahmen oft Beton, um Prüfsteine zu machen und so die Festigkeit zu
kontrollieren. Bei diesen Massenunternehmungen kamen ja Zementschiebereien vor.
Aus heutiger Sicht gesehen, war der
Westwall lächerlich; denn er ist nie benutzt worden. Ich war ein Jahr dort,
„dienstverpflichtet“, wie man sagte. Dann kam ich nach Goch zurück. Man sprach
überall vom Krieg, den es geben sollte. 1938 hatte Hitler schon das
Sudetengebiet und Österreich „ins Reich heimgeholt“ und aus der Tschechei 1939
ein Protektorat gemacht. Reichsaußenminister Ribbentrop hatte mit Molotow
einen Nichtangriffspakt ausgehandelt. Es
hatte Verhandlungen in München mit englischen, französischen und amerikanischen
Außenministern gegeben. Man hatte dort klein beigegeben und das Sudetenland an
das Reich freigegeben.
1939 brach der Krieg aus. Angeblich
hatten Polen in Uniform einen Sender zerstört. Allerdings stellte sich später
heraus, daß es deutsche Soldaten in polnischen Uniformen gewesen waren. Polen
wurde besetzt, daher mußten die Westmächte eingreifen. Amerika wollte
eigentlich nicht in den Krieg eintreten, tat es dann aber doch. In der ersten
Zeit siegte Deutschland an der West- und Ostfront, sogar in Afrika.
Ich begann einen Umschulungskurs in
Berlin, bei der Maschinenfabrik „Dreilinden“. Als der Kurs beendet war, kam ich
zu Blaupunkt-Radio in Berlin-Schmargendorf. Ich hatte ein Zimmer mit einem
Kollegen in Moabit, Kruppstraße 5. Das Ehepaar, das uns das Zimmer vermietet
hatte, war auch aus dem Rheinland. Es war ein Zimmer auf dem Hof. Dort haben
wir nicht lange gewohnt. Wir sahen uns ein Zimmer bei der nahegelegenen Lehrter
Straße an. Es lag in einer Sackgasse, die Im Kessel hieß. Dieses Zimmer war
aber nur durch das Schlafzimmer der Vermieterin zu betreten, ein sogenanntes
Durchgangszimmer. Es war sogar doppelt belegt: eine Partie hatte Tagschicht und
schlief nachts, die andere hatte Nachtschicht und schlief tagsüber. Wir sind
nur eine Nacht geblieben und dann getürmt. Jetzt suchte ich mir ein Zimmer für
mich allein. Ich fand eins in der Feldzeugmeisterstraße 9 bei einer Witwe mit
Tochter. Es war ein großes Zimmer. Das Haus befand sich gegenüber einer Kaserne.
Was es gekostet hat, weiß ich nicht mehr. Aber die Witwe wollte, daß ich mit
ihrer Tochter ausging! Schließlich fand ich in der Reinholdstraße 9 in Neukölln
ein Zimmer bei einer älteren Witwe, Frau Gümsch. Hier hatte ich ein schönes
Zimmer mit Ausblick auf den Hof. In diesem Zimmer war ein großer, gemauerter
Kachelofen. Es dauerte lange, bis er warm wurde, aber er hielt auch länger die
Wärme.
Ich fuhr jeden Morgen mit der S-Bahn nach
Schmargendorf zur Arbeit. Mittagessen gab es gegen einen geringen Beitrag in
der Kantine. Ich war bei Blaupunkt „in der Vorbereitung“ für die
Werkzeugmacherei. Ein Kollege, Willi Haase, und ich mußten in der
Konstruktionsabteilung die Zeichnungen abholen. Sie führten Materiallisten auf,
nach denen wir im Lager die entsprechenden Metallteile besorgten. Diese Teile
und die Zeichnung kamen in eine Blechkiste. An vielen Aufträgen mußten wir erst
Fräs- und Hobelarbeiten machen lassen, ehe die Werkzeugmacher sie ausführten.
Vom Planer waren Zeiten vorgegeben, die dann in Lohn umgerechnet wurden.
Vom Krieg merkte ich einstweilen nur so
viel, daß ein Brandschutz eingerichtet wurde, zu dem ich auch gehörte. Bei Blaupunkt
und auch bei Siemens mußten wir abwechselnd nachts Brandwache halten. Überall
lag Sand zum Löschen. Wir hatten auch Gasmasken. Allerdings warfen Amerikaner
und Engländer zu dieser Zeit nur vereinzelt Bomben auf Berlin. Hätte es
tatsächlich einen Großangriff gegeben, wären wir in diesen Fabriken elend
verbrannt. Sie befanden sich nämlich in Hinterhöfen, die so verschachtelt
waren, daß man sich nur schlecht zurechtfand.
Mit Willi Haase und zwei Konstrukteuren
gingen wir einmal pro Woche zum Kegeln. Sonntags ging ich meist zu Fuß von
Neukölln zum Alexanderplatz. Dort gab es bei Aschinger, beim Franziskaner oder
Dominikaner ein billiges Mittagessen. Manches begann bereits, knapp zu werden;
später wurden Lebensmittelkarten ausgegeben. Das war ein Theater, wenn man im
Gasthaus ein Essen bestellte! Der Ober schnitt mit einer Schere die entsprechenden Marken ab:
Nährmittel, Fett, Fleisch. Es gab aber auch Stammgerichte, die ohne
Lebensmittelkarte abgegeben wurden. Im Dominikanerkloster (Oldenburgstraße)
hatte ich einen guten Freund, Pater Wendelyn Meier. Bei jedem Besuch schenkte
er mir ein Brot. Auch Zigaretten wurden knapp, obwohl ich eine Raucherkarte
hatte. Es gab Kohlekarten, Textilkarten und Bezugsscheine: Alles war
rationiert!
An Sonn- und Feiertagen fuhr ich oft mit
der S-Bahn zum Wannsee. Dort konnte man sich den ganzen Tag im Strandbad
aufhalten. Auch zum Müggelsee im Osten der Stadt fuhr ich manchmal. Viele
Berliner gingen ins Freibad Grunewald. Berlin war eine wuchtige Sache! Es gab
da Opern, Konzerthäuser, Kinos, dann die Eck- und Kellerkneipen! Am Sonntag die
große Wachablösung an der neuen Wache Unter den Linden: Vom Brandenburger Tor
kam eine Wachkompanie mit Spielmannszug. Ein Zug Soldaten blieb die Woche über
im Wachhaus. Alle zwei Stunden wurde die Wache am Tor von zwei Soldaten
abgelöst.
Eines Abends befand ich mich in der
Rathenauerstraße, kurz vor dem Moabiter Gericht. Da sprach mich eine junge Frau
an, ob ich wüßte, wo sie übernachten könne. Ich habe sie in einer Pension
unterbringen können. Wir verabredeten für den nächsten Tag ein Wiedersehen. Von
da an sahen wir uns oft. Sie hieß Johanna und kam aus dem Sudetenland. Wir
haben überlegt, wo sie arbeiten könne. Sie war dann bei einer Gärtnerei in der
Oderbruchstraße tätig. Ein Zimmer fand sie bei den Eheleuten Plan in Neukölln,
Hertastraße 4. Später war die Rede vom Heiraten, und wir versuchten, uns die
Papiere zu besorgen. Johanna fuhr zunächst wieder zurück zur elterlichen
Gärtnerei in Deutsch-Gabel. Hier hatte sie das alte Haus. Ich besuchte sie
dort. Diese Reise begann am Görlitzer Bahnhof.
Die Hochzeit war am Samstag, 21.6.1941. Die
Eheleute Plan waren Trauzeugen auf dem Standesamt in Berlin-Neukölln. Danach
sind wir zum Messegelände gefahren, hatten ein Mittagessen am alten Funkturm
und feierten ein wenig. Am nächsten Tag war die Kirchliche Trauung bei Pater
Wendelyn im Dominikanerkloster in einer Kapelle, die heute als Sakristei
benutzt wird. Danach gingen wir auf Hochzeitsreise nach München. Am ersten Tag
dort hörten wir durch das Radio, der Krieg mit Rußland habe begonnen.
Nach der Hochzeitsreise ging die Arbeit
bei Blaupunkt zunächst weiter. Als Werkzeugmacher war ich „unabkömmlich“. Eines
Tages mußte ich aber zur Personalabteilung kommen. Ein Werkzeugmacher war von
der Ostfront zurückgekommen und ich sollte ihn ersetzen. Ich bekam meine
Einberufung zum Frühjahr 1943. Ich hatte mich in der Hans-von-Seeckt-Kaserne in
Lichterfelde zu melden. Die Koffer mit meiner Habe brachte ich nach
Deutsch-Gabel. Johanna hatte sich inzwischen selbständig gemacht und eine
kleine Gärtnerei in Neuland am Roll gepachtet. Hier hatte sie auch ein Haus
bekommen. Sie versuchte, Gemüse anzubauen. Später ist meine Mutter mit meinen
Schwestern Thea und Annemarie nach Neuland gezogen, weil am Niederrhein
Kampfgebiet war. Zurück nach Berlin. In der Kaserne bekamen wir militärischen
Schliff: Marschieren, Schießen, Unterricht.
Zum Abschied kam Johanna nach Berlin. Wir
Soldaten wurden dann in einen Zug verladen und fuhren ostwärts. Hinter
Frankfurt an der Oder wurde alles so eintönig und weitläufig. Man merkte: Hier
beginnt der Osten! In Warschau kamen Kinder an den Zug und bettelten um Brot.
Über Brest
ging es dann nach Weißrußland, bis Beresa-Kartuska.
Dort wurden wir in einer Kaserne untergebracht, die vorher ein
Konzentrationslager gewesen war. Hier ging unsere Ausbildung weiter. Auf dem
Kasernenhof war ein Löschteich. In den hat uns der Spieß oft hineingejagt. Oft
ließ man uns überraschend zum Appell holen. Wir mußten dann feldmarschmäßig auf
dem Kasernenhof antreten. Es wurde kontrolliert, ob man die Erkennungsmarke
umhatte, ob die Uniform alle Knöpfe hatte, ob der Gewehrlauf sauber war.
Eines Tages kam der Marschbefehl. Wir
wurden zum Schutz der Eisenbahnlinie Minsk-Pinsk eingesetzt. Links und
rechts der Eisenbahnlinie war der Wald fünfzig Meter breit abgeholzt. In der
Entfernung von jeweils einem Kilometer hatte man Stützpunkte errichtet. Es
handelte sich um Holzblockhäuser aus ganzen Stämmen, umgeben von einer
Palisadenwand. Außerdem war dort jeweils ein Aussichtsturm errichtet worden.
Unsere Aufgabe bestand darin, Wache zu stehen und die Strecke zu beobachten.
Manchmal ging ich mit dem Stützpunktleiter auf Streife durch die Wälder. Wir
beobachteten versteckte Dörfer. Man sagte uns, dies seien alles Partisanen.
Fast jede Woche fanden wir denn auch eine Sprengladung an den Gleisen. Das
Sprengstoffpaket hatte man durch Schirme getarnt.
Vier Wochen war ich in einem
Pionierregiment. Ich lernte, Sprengladungen zu entschärfen. Ich habe viele
Sprengladungen entfernt. War ich sicher, daß keine Gefahr drohte, baute ich sie
gleich ab. Wenn es den Anschein hatte, als ob eine Zündkapsel gegen das
Aufheben des Sprengstoffs angebracht war, legte ich vorsichtig eine Schnur um
das Sprengstoffpaket und zog sie dann aus der Deckung des Bahndammes heraus.
Waren erst einmal Zündkapsel und Sprengstoff getrennt, bestand keine Gefahr
mehr.
Zum Urlaub mußte ich in voller Ausrüstung
fahren. In Brest wurden wir Soldaten entlaust und unsere Kleider desinfiziert.
Hier sollten wir auf den Kampf in
Stalingrad vorbereitet werden. Wir kamen an einen Ort, der etwa fünfzig Kilometer
von der Grenze entfernt war. Wir waren in einer Schule untergebracht. Unsere
Aufgabe bestand im Exerzierdienst und in Manövern. Wir mußten unsere Waffen
reinigen, die Kleider säubern und ausbessern. Im Sommer durfte man den oberen
Knopf der Uniform nur öffnen, wenn dies befohlen wurde. Alles wurde angeordnet:
Essenszeit, Schlafenszeit, Ausgang.
Ich war bereits am 30.1.1944 zum
Obergrenadier ernannt worden. Am 1.4.1944 wurde ich Gefreiter. Am 1.7.1944
wurde ich zum Offiziersanwärter der Reserve bestellt.
Die Gerüchteküche brodelte. Sollte es
nach Stalingrad gehen? Eines Tages wurden wir Soldaten verladen, wie immer in einen
Personenzug mit Güterwagen. Es ging nach Holland, an die Küste bei Hoek van
Holland. Hier wurden wir ausgeladen. Wir machten uns auf den Weg nach
Frankreich. Dort war inzwischen die Invasion gestartet. Warum ging es nicht mit
der Bahn weiter? Alles war schon ein wenig in Unordnung. Also ab dort jede
Nacht fünfzig Kilometer zu Fuß. Es war eine Tortur! Morgens, wenn die
Ausrüstung abgeschnallt war, kam man sich vor, als schwebe man. Tagsüber
schliefen wir verdeckt wegen der Tiefflieger. Als wichtigsten Artikel hatte ich
immer ein Paar ungestopfte Socken bei mir, die ich täglich wechselte und gleich
wusch. Manche waren schlimm daran, sie liefen regelrecht auf rohem Fleisch. So
kamen wir nach langen Märschen im Frontgebiet an, der Normandie. Unterwegs
hatte sich der Ton der Unteroffiziere, Feldwebel und Stabsgefreiten erstaunlich
geändert. Sie gebrauchten weniger den Befehlston und bemühten sich jetzt mehr
um Kameradschaft.
Nachts kamen wir in Vire an. Man sagte uns, morgens
kämen wir zur Hauptkampflinie. Züge oder Kompanien kamen uns entgegen. Wir
sollten einen Abschnitt ablösen. Das kam mir seltsam vor. Ich sagte: „Wenn die
zurückkommen, stehen wir beim Hellwerden den Amerikanern gegenüber!“ So war es
denn auch. Kaum war es hell geworden, wurden wir vor dem Ort auf Wiesen
plaziert. Wir waren hinter den Erdwällen, die in der Normandie die Wiesen
begrenzten. Die Amerikaner beschossen uns und das Hinterland mit
Schiffsgeschützen. So nahe waren wir an der Küste! An ein Vorgehen unsererseits
war nicht zu denken, da amerikanische Panzer anrückten. Am 5.8.1944 geschah es
dann, nach verstärktem Beschuß mit Schiffsgeschützen und dem Heranrücken der
amerikanischen Panzer. Wir lagen zum Teil noch hinter den Wällen, andere
Einheiten gingen vor. Ich lag an der Böschung und beobachtete den Kampf vor uns
mit einem Fernrohr, das Maschinengewehr hatte ich neben mir. Da bekam ich einen
kräftigen Schlag gegen die Hüfte. Erst dachte ich, Hubert Voß, der neben mir
war, hätte mich gestoßen. Als ich mich zur Seite drehte, sah ich zuerst einen
riesigen Erdtrichter zwanzig Meter hinter uns. Dann bemerkte ich, daß mein
linker Stiefel voller Blut war. Jetzt erst wurde mir klar, daß die Handgranate,
die ich am Lederverschluß der Pistole trug, mitten durchgetrennt war, die
Sprengkapsel lag auf der Erde. Ich hatte eine Verletzung im Beckenknochen.
Sanitäter trugen mich auf einer Zeltplane in den Ort zurück. Dort war in einem
noch unzerstörten Keller eine Verbandsstelle der Kompanie. Am Nachmittag kam
unser Kompaniechef und sagte: „Neunzig Prozent der Leute unserer Kompanie sind
tot!“ Ich hatte ja selber beobachten können: Die Amerikaner gingen immer nur im
Schutz ihrer Panzer vor. Sie hatten zum Teil Panzer mit Flammenwerfern, die
alles seitlich von sich verbrannten, auch unsere Leute in den Erdlöchern.
Für den Abend wurde für beide Seiten eine
Feuerpause vereinbart, damit die Toten und Verwundeten geborgen werden konnten.
Bei uns fuhren Sanitätskraftzeuge vor. Wir wurden zum nächsten
Truppenübungsplatz in die Nähe von Rouen
gefahren. Das Lazarett war in einer Schule. Man stellte die Tragen, auf denen
die Verwundeten lagen, auf dem Hof ab. Die Ärzte operierten und amputierten
ohne Unterbrechung. Ich geriet an einen SS-Feldarzt, der mich operierte. Aus
Zeitmangel wurde nur das Notwendigste getan. Mir wurde aus der Hüfte ein
Granatsplitter entfernt. Er war fünf Zentimeter lang und einen Zentimeter
breit. Ich hatte Glück gehabt! Hätten Pistole und Eierhandgranate nicht den
Splitter gebremst, wäre er durch den Bauch gegangen und hätte die Därme
zerrissen. Das wäre tödlich gewesen; denn im Feldlazarett bestand keine
Möglichkeit, Bauchoperationen vorzunehmen. Es gab ja auch keine Antibiotika.
Wegen der beschränkten Möglichkeiten mußte viel amputiert werden.
Wir konnten in diesem Lazarett nicht
bleiben. Alles war überfüllt und die Front rückte immer näher. Die transportfähigen
Verwundeten wurden in einen Lazarettzug verladen und in ein Lazarett am Rande
von Paris gebracht. Es ging alles sehr schnell. Von dort aus nach einigen Tagen
nach Brüssel, dann weiter nach Aachen ins Lazarett. Auch dort war nun kein Bleiben.
Alles war in Auflösung. Der Vormarsch der Amerikaner und Briten war nicht mehr
aufzuhalten.
Nach wenigen Wochen kam ich in ein
Lazarett in Siegen. Hier wurde ich zum zweiten Mal operiert. Teile der Pistole,
ein kleiner Teil der Rückholfeder und Blechteile der Umrandung steckten ja noch
im Hüftknochen. In Siegen holte man die Feder heraus. Hier besuchte mich
Johanna. Sie wohnte in dieser Zeit bei einer Frau Zamponi. Helferinnen und
Privatleute kümmerten sich um die Patienten.
Sobald es ging, ließ ich mich in mein
Heimatlazarett nach Niemes
verlegen. Doch hier waren die Russen auf dem Vormarsch. So wurden wir
Verwundete wieder in einen Lazarettzug gesetzt und kamen nach Neuburg an der
Donau. Auf dem Bahnhof erschien eine Ärztegruppe und überprüfte bei jedem, ob
noch ein Lazarettaufenthalt notwendig war. Ich gehörte zu denjenigen, die
laufen konnten. So wurde ich mit einem Marschbefehl zum Truppenstandort Kassel
auf die Reise geschickt.
Ich fuhr also los, mit den nötigen
Papieren und Fahrscheinen versehen. In Dresden stieg ich aus und ließ mich beim
Bahnhofskommandanten melden. Ich zeigte ihm meinen vereiterten Hüftverband und
sagte, ich könne nicht bis Kassel fahren. Er hatte ein Einsehen und schickte
mich in ein Reservelazarett nach Coswig, das mit
Verwundeten belegt war. Das war mein Glück; denn gleich in der ersten Nacht
(13./14.2.1945) konnten wir die Feuersäulen über Dresden sehen. Es handelte
sich um den schlimmen Angriff der Alliierten auf Dresden. Mehr als 35.000 Tote.
Dresden war ja voll von Flüchtlingen. Hätte ich noch eine Nacht in Dresden
verbracht, wäre ich wohl auch unter den Toten?
In Coswig konnte ich nicht bleiben. Der
Stabsarzt schickte mich in die Garnisonstadt Leisnig. Dort wurde ich mehrmals
operiert. Tagelang gab es Gerüchte: Wer ist zuerst in Leisnig, die Amerikaner
oder die Russen? Die Amerikaner waren näher, warteten jedoch ab. Es ging wohl
schon um die spätere Demarkationslinie. In Jalta hatten Amerikaner, Engländer
und Russen ja ein Abkommen getroffen. Das erfuhren wir aber erst später. Die
Soldaten hatten die Kaserne bereits verlassen. Mit anderen ging ich zu dieser
Kaserne, um einen Zivilanzug zu finden. Wir sprachen bei der Verwaltung vor,
die sich in einem Gartenhaus befand. Dort ließen wir uns die Soldbücher
abstempeln, damit wir nicht unterwegs von Feldgendarmerien als Deserteure
aufgegriffen würden: „Entlassen Heimat Neuland am 29.5.45“.
Vor dem Lazarett standen bereits die
Russen. Mein Kollege und ich liefen durch den Garten des Lazaretts und nahmen
die Richtung auf Dresden. Wir waren in Zivil, hatten Entlassungspapiere und
Geld. Erst ging es zu Fuß von Leisnig bis Döbeln. Niemand hat uns angehalten
oder gefragt, wo wir hin wollten. Vorbei an Westewitz-Großweitzschen;
dort war nach dem Krieg meine Schwägerin Hedi. Wir kamen auch durch das Tal, in
dem Paudritsch liegt; später haben wir hier Bekannte besucht. In Döbeln kauften
wir uns eine Fahrkarte bis Tetschen-Bodenbach. Über Dresden kamen wir wohlbehalten
dorthin. Niemand hat etwas gefragt. Wir sahen nur Russen, die sich irgendwo
Fahrräder besorgt hatten und nun mit ihnen fuhren.
In Tetschen-Bodenbach mußten wir nach
Deutsch-Gabel umsteigen. Ich sah sofort, daß auf der Bahnhofsseite tschechische
Plünderer dabei waren, die Reisenden auszurauben. Die neuen Herren suchten
außerdem ehemalige SS-Angehörige, die ja an der eintätowierten Nummer unter dem
linken Arm kenntlich waren. Mein Kollege, der Tschechisch sprach, hörte, daß
auf dem benachbarten Gleis ein abfahrbereiter Zug Richtung Deutsch-Gabel stand.
Wir stiegen daher nicht an der Bahnhofsseite des Zuges, sondern an der anderen
aus. Es ging hinein in den Zug, der sofort abfuhr. Allerdings hatten wir keine
Fahrkarte. Daher gerieten wir in Streit mit dem Schaffner. Der wollte uns
gleich am nächsten Bahnhof den Behörden übergeben, mein Kollege aber brachte
ihn dazu, dies erst in seinem Heimatort Böhmisch-Leipa zu tun. Dort
telefonierten die Beamten und der Bürgermeister holte uns ab. Dieser aber war
der Schwager meines Kollegen. Der Bürgermeister hielt uns dann in seinem Haus
eine Standpauke, gab mir aber eine Bescheinigung, die besagte, daß ich auf dem
Weg nach Neuland am Roll zu meiner Frau sei. Er riet mir, kein öffentliches
Fahrzeug zu benutzen, sondern zu Fuß zu gehen. So machte ich mich denn am
anderen Tag auf die Socken und marschierte über Feldwege Richtung Niemes. Es
ging auch alles gut. Ich sah nur arbeitende Bauern auf den Feldern: lauter
Sudetendeutsche, die noch nicht wußten, was mit ihnen geschehen würde.
Ich kam ungehindert in Neuland am Roll
an. Hier war es so, als sei nichts geschehen; denn es hatte in dieser Gegend
keine Kampfhandlungen gegeben. Die Russen errichteten in allen Orten
Kommandanturen, die mit Hilfe der örtlichen Behörden Befehle erteilten und
Erlasse herausgaben.
Die Reichsdeutschen mußten als erste die
Tschechoslowakei verlassen. So kehrten meine Mutter und meine beiden jüngsten
Schwestern wieder nach Goch zurück. Das Gerücht hielt sich hartnäckig, alle
Sudetendeutschen müßten die Tschechoslowakei verlassen. Es ist aber schwierig,
auf ein Gerücht hin einfach Haus und Gärtnerei zu verlassen. Wir blieben in der
Hoffnung, daß es uns nicht traf, arbeiteten in der Gärtnerei und taten das
Notwendige. Im August kamen abends drei Leute: Wir hätten uns am nächsten
Morgen mit Handgepäck an einem bestimmten Platz einzufinden.
Wir haben die ganze Nacht gebacken und
gepackt. Mit einem Handleiterwagen fuhren wir am nächsten Morgen zum Sammelplatz.
Dort wurden in einem rüden Ton die Menschen gezählt. Danach ging es zu Fuß
Richtung Petersdorf und Zittau. In einer Waldlichtung wurde Halt geboten. Jeder
Koffer, jeder Sack wurde ausgeschüttet und durchsucht. Die Tschechen nahmen
alles weg, was sie gebrauchen konnten. Meiner Frau schnitten sie unter
spöttischem Hinweis auf Richard Wagners Operngestalt Brunhilde die Zierschnüre
vom Kleid ab. Beim Ausschütten einer unserer Säcke zerbrach ein Teller. Ich
konnte den Mund nicht halten und sagte: „Schisko jedno, vojna“ (Alles egal, es
ist Krieg). Dafür kassierte ich mehrere Ohrfeigen. Unser Geld und die Papiere
fanden sie nicht: Ich hatte sie in meinem Hüftverband.
Schließlich konnten wir alles einpacken
und es ging zu Fuß weiter. Wir kamen zum Bahnhof in Deutsch-Gabel, weil es von
hier aus mit dem Zug weitergehen sollte. Mein Schwiegervater hatte uns
vorbeiziehen sehen und brachte uns einen Leiterwagen mit der Aussteuer meiner
Frau. Kaum war dieser Wagen am Bahnhof, fielen die Tschechen darüber her. Es
blieb uns nichts mehr, nicht einmal der Wagen. Wer meinen Schwiegervater
kannte, hat auch schon einmal sein Kopfschütteln gesehen, wenn ihm etwas
Unrechtes geschah. Tief traurig ging er nach Hause.
Seine Gärtnerei und seine beiden Häuser lagen
nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt. Jahrelang ist mein Schwiegervater
Bürgermeister in Deutsch-Gabel gewesen. Er hat sich sehr für die Armen
eingesetzt. Sein Werk war es auch, in dieser Stadt ein Schwimmbad zu bauen.
1938 erklärte er seinen Rücktritt, weil er mit dem Naziregime nicht einverstanden
war. In unserem Besitz ist noch ein Dankschreiben des damaligen Stadtrates. Was
mag dieser Mann verbittert gewesen sein über die Ausweisung von Menschen aus
ihrer angestammten Heimat?
Schließlich stellte sich heraus, daß wir
doch nicht mit dem Zug fahren konnten, also ging es von Deutsch-Gabel aus zu
Fuß weiter. Wir hatten die Grenze bereits passiert, und noch immer begleiteten
uns die Tschechen. Ich sagte zu Johanna: „Bleib’ mal am Straßenrand stehen und tu
so, als wenn Du nicht weiter laufen kannst!“ Der Treck zog weiter und niemand
kümmerte sich um uns. Familie Göttlich, Kasernenstraße in Zittau, nahm uns
vorläufig auf. Hier aber konnten wir nicht bleiben. Da erinnerten wir uns an
eine Cousine des Schwiegervaters, Selma Clemenz, in Niederoderwitz. Sie
brachte uns in einem kleinen Zimmer unter.
Nach ein paar Tagen sahen wir einen
Flüchtlingstreck, in dem die Schwiegereltern und meine Schwägerin Hedi waren.
Wir holten sie aus dem Treck heraus. Mein Schwiegervater, immer rastlos, suchte
sich Arbeit beim Gärtner Jauch. Ich fuhr nach einiger Zeit mit dem Zug nach
Leisnig. Die Fahrt war schon so eine Sache, denn überall waren die Brücken
gesprengt. Da hieß es dann, vor der Brücke aussteigen und an der anderen Seite
wieder in den Zug. Durch Vermittlung erhielt ich Arbeit beim Gärtner Rokmann in
Leisnig-Fischendorf. Ich fand auch ein Zimmer bei einer Witwe in der
Niederlanggasse 28, nicht weit von der Gärtnerei entfernt. In Niederoderwitz
nahmen wir unseren Leiterwagen, packten alles darauf, und ab ging es nach
Leisnig. Bobby, unser Glatthaar-Terrier, mußte natürlich mit. Durch eine
Zeitungsanzeige fand ich aber nach einem Jahr eine andere Stelle, in der
Gärtnerei Ahnert in Mochau bei Döbeln. Dazu gehörte eine kleine Wohnung, die
halb in den Abhang an der Gärtnerei hineingebaut war.
Mir machten jedoch die politischen
Verhältnisse Sorgen. Wir lebten ja in der russischen Besatzungszone. So packten
wir Anfang Oktober 1946 unsere Habe wieder einmal auf den Leiterwagen. Mit der
Bahn fuhren wir von Mochau bis Sangerhausen. Wir verließen dort den Zug und
gingen zu Fuß über die Sektorengrenze, die von den Russen nur oberflächlich bewacht
wurde. Wir schlossen uns einfach einer der zahlreichen Flüchtlingsgruppen an.
Große Erleichterung, als das Schild „Britische Besatzungszone“ auftauchte! Im
nächsten Ort bestiegen wir einen Zug, der uns über Hannover nach Goch brachte.
Die Freude war natürlich groß, als wir zu Hause auftauchten. Dies war jetzt in
der Asperdener Straße. Man gab uns ein Zimmer. Ich mußte nun wieder Arbeit
suchen.
Am 2.1.1947 fing ich bei der Gärtnerei
van de Loo in Asperden an. Ich erhielt eine Wohnung in der Hervorster Straße.
Es war eine Dachgeschoßwohnung. Auf Bezugsschein gab es einen eisernen Küchenherd
und einen Blechofen zum Heizen. Wir benutzten dazu Holz aus dem Reichswald.
Wegen des Granatenbeschusses im Krieg lag ja genügend zersplittertes Holz herum.
Von der Familie einer Schwägerin erhielten wir einen Tisch und ein
Vertikounterteil (Wohnzimmerschrank). Wir konnten zwei Betten und vier Hocker
aus Eisen kaufen. Fahrräder ließen sich aus vielen einzelnen Teilen
zusammenbauen. Wir mußten die Vollgummireifen für sie aus alten Autoreifen
herausschneiden. Ich bereitetete mich auf die Gesellenprüfung als Gärtner vor.
Dazu mußte ich jeden Sonntag mit dem Fahrrad nach Kleve-Kellen fahren. Ich
machte in zwei Fächern die Prüfung, in Gemüse- und Zierpflanzenbau.
Pfingsten 1947 hatte ich wieder
Beschwerden an meiner Verwundung. Es waren ja noch immer Splitter im Hüftknochen.
Ich kam ins Gocher Krankenhaus, damals noch in der Mühlenstraße, und wurde
wieder operiert, mittlerweile zum siebten Mal! Während meines
Krankenhausaufenthaltes mußte Johanna unseren Garten bewässern. Tagsüber wurde
das Wasser in der Gärtnerei gebraucht, so mußte sie es nachts tun. 1947 war der
trockenste Sommer, den ich erlebt habe. Von Pfingsten bis zum ersten September
regnete es überhaupt nicht. Am 5.11.1947 wurde unsere Tochter Johanna in
Bedburg-Hau geboren. Dort war das Krankenhaus Kleve untergebracht; denn das
Gebäude in Kleve war „ausgebombt“, wie es damals hieß.
Zu dieser Zeit lag noch überall Munition
und Kriegsgerät herum. Wir sammelten Messingkartuschen für Aschenbecher und
Vasen. Im Reichswald fanden wir Granatsplitter, die wir als Buntmetall
verkauften. Damals wurden Metallsucher aber auch verletzt oder kamen sogar um
bei dem Versuch, Blindgänger zu entschärfen.
Ich versuchte mich auch als Besenbinder.
Ich band Birkenreiser zusammen und spreizte sie. Da es nur wenig Straßenbesen
gab, konnte ich meine Besen in den Geschäften verkaufen. Das war aber viel
Arbeit und brachte wenig ein. Johanna hat eine ganze Zeitlang spätabends bei
einem Gärtner in Geldern Kränze gebunden. Die Gemüsegärtnerei wurde in einen
Erikenbetrieb umgewandelt. Es waren die ersten Eriken am Niederrhein, 3.000
Stück.
Das Jahr 1947 war für uns ein
Schicksalsjahr, ein Neubeginn: Übersiedlung in den Westen, neue Stellung und Wohnung,
das erste Kind! Da hieß es dann, für Windeln, die es nicht gab, Ersatz zu finden.
Von unserem Chef Dr. Heimann, dem die
Mühle gehörte, erhielten wir monatlich zehn Pfund Mehl. Dies war uns eine große
Hilfe. Gemüse hatten wir in unserem eigenen Garten, erhielten aber auch einiges
aus der Gärtnerei. Juni 1948 wurde die alte Reichsmark für ungültig erklärt und
es gab an einem Sonntag die neue D-Mark. Jeder erhielt vierzig DM, im August
noch einmal zwanzig. Das Sparguthaben wurde abgewertet, 10 % davon blieb. Es
war wie ein Wunder: am Samstag gab es fast nichts zu kaufen, am Montag fast alles.
Lebensmittelkarten und Bezugsscheine fielen weg. Ich bekam damals 220 DM im
Monat, für elf Stunden Arbeit am Tag.
Im Reichswald wurden drei Dörfer
errichtet: Nierswalde, Rodenwalde und Reichswalde. Der Siedlungsverband für
Bauern und Gärtner hatte dies geplant. Der Wald wurde gerodet. Die Stämme waren
minderwertig, da sie mit Granatsplittern durchsetzt waren. Man schnitt sie
nicht gern zu Brettern, weil dabei die Sägen stark litten. Es entstand eine
Fabrik für Kienöl, das aus den Wurzeln der Tannen und Fichten gewonnen wurde.
Am 25.6.1949 wurde unser Sohn Heinrich
geboren. Die Geburt war diesmal zu Hause. Ich mußte die Hebamme nachts mit dem
Fahrrad abholen. Es ging alles gut. Ich mußte beim Anblick des Kleinen sehr
lachen, weil er aufgeworfene Lippen hatte wie meine Tante Hanna.
Bald bot sich die Gelegenheit, ins Haus
gegenüber zu ziehen. Früher war dieses Gebäude Remise und Stall der Familie
Buff gewesen. Ihr Herrenhaus war ziemlich zerbombt und sie waren verarmt. Heute
ist Villa Buff eine Privatklinik für Plastische Chirurgie. Unser Chef Dr.
Heimann hatte der Familie Buff das Haus Hervorster Straße 13c abgekauft. Im
oberen Stockwerk wohnte ein Gärtnergehilfe, unsere Wohnung war in den unteren
Räumen. Die Decken waren Betongewölbe, wie in Ställen üblich. Auch hier hatten
wir einen Garten.
Weihnachten 1949 wurden die
Eröffnungsfeierlichkeiten für das 25. Heilige Jahr im Rundfunk übertragen. Der
heilige Vater hielt eine Ansprache. Da erwachte in mir der Wunsch, nach Rom zu
reisen. Anfang des Jahres 1950 erschien mir dies noch unmöglich. Dann hörte
Johanna, daß es verbilligte Jugendfahrten gäbe. Wir erhielten schließlich einen
Prospekt von Viersen für eine Fahrt, die von Gaesdonk aus organisiert wurde.
Ich verkaufte die Schafe, um Reisegeld zu bekommen. Gaesdonk besorgte das Visum
und den provisorischen Reisepaß. Es gab noch keine regulären Pässe. Endlich war
es so weit: Die letzten Instruktionen kamen und das Reisefieber nahm jeden Tag
zu. Ich habe ein Reisetagebuch geführt:
Samstag,
9.9.1950.
Pfarrer Mott borgte mir noch einen Mantel und los ging die Fahrt nach Gaesdonk,
mit dem Fahrrad durch strömenden Regen. Die Koffer wurden verladen. Ich
besuchte noch meine Schwester Margret.
Sonntag,
10.9.
Morgens um drei Uhr war es so regnerisch trübe, daß ich dachte, es werde nicht
mehr aufhören zu regnen. Die Schüler von Gaesdonk fuhren in drei Wagen. Ich
fuhr mit ihnen, damit ich nicht mit der Bahn nach Viersen mußte. Um viertel vor
fünf Uhr waren wir in Viersen. In der Kirche St. Joseph wurde das Pilgerhochamt
von den Priestern gefeiert, die uns begleiteten. Alle gingen zur Kommunion.
Dann spendete der dortige Dechant den Pilgersegen. Im Pfarrsaal frühstückten
wir und erhielten noch einmal Belehrungen. Die Wagen standen schon vor der
Kirche fertig. „Alles einsteigen, das Handgepäck unter die Sitze!“ Viertel vor
sieben Uhr ging es los. Um neun Uhr waren wir in Bonn, eine Ehrenrunde um das
Bundeshaus. Jeden Tag sind hier viele Besucher. Um zehn Uhr brach die Sonne
durch. Eine herrlich schöne Fahrt am Rhein entlang, zur Loreley. Über Mainz
kamen wir nach Heidelberg. Besichtigung des Schlosses in dieser alten
Universitätsstadt. Übernachtung im evangelischen Gemeindehaus auf Feldbetten.
Montag,
11.9.
Um halb sechs Uhr Gottesdienst in der Kirche St. Anna, der jetzigen Militärkapelle,
7 Uhr Abfahrt. Wir fuhren durch das herrliche Neckartal zur Autobahn. In Ulm
besichtigten wir das jetzt leider protestantische Münster. In Augsburg waren
schon von weitem die Berge zu sehen. Sie tauchten wie Wolkengebilde am Horizont
auf. Mit Anbruch der Dunkelheit waren wir in Steingaden. Übernachtung in einer
Scheune.
Dienstag,
12.9.
Ich hatte gut im Heu geschlafen, stellte aber fest, daß ein Hauklotz unter
meinem Rücken gewesen war. Ich wusch mich am Trog. Die Sonne ging auf. Erster
klarer Blick auf die nahen Alpen. Es ist, als wenn die Sonne auf den Bergkuppen
läge. Um acht Uhr Heilige Messe, zehn Uhr Abfahrt. Acht Kilometer Fahrt, über
die mächtige Lechtalbrücke, zur Wieskirche: Die schönste Rokokokirche
Deutschlands, erbaut von Dominikus Zimmermann. Oberammergau, Schloß Linderhof:
Maurischer Pavillon, die 32 Meter hohe Fontäne, die Tropfsteinhöhle. Benediktinerkloster
Ettal, Garmisch-Partenkirchen. Die Zugspitze war zu sehen. In Mittenwald
schlugen wir an der Isar unsere Zelte auf, 800 Meter vor der österreichischen
Grenze.
Mittwoch,
13.9.
Die Grenzformalitäten gingen schnell vonstatten. Wie herrlich die Fahrt über
den Zirler Berg! Abwärts mußten wir laufen. Die steile Martinswand an der
Straße! In Innsbruck hatten wir drei Stunden Zeit für die Stadtbesichtigung.
Ich sah das Goldene Dach, die Hofkirche mit dem Schwarzen Mandl, die
Maria-Theresien-Straße mit dem Denkmal und dem schönen Blick auf die Nordkette.
Ich setzte mich eine Zeitlang an den Inn. Oben auf dem Berg das Seegruber-Hotel,
darüber die Endstation der Seilbahn Haferleka. Dann ging die Fahrt weiter, die
lange Brennerstraße hinauf. Am Kurort Matrei und dem Brennersee vorbei. Der
wilde Inn, der aus den Bergen kommt, ganz nah an der Straße, einmal rechts und
einmal links. An der italienischen Grenze dauerte es geschlagene zwei Stunden,
bis unsere Pässe durchstudiert waren, Namen für Namen. Sie suchten nach
Verbrechern. Ich hörte das erste Mal italienische Sprache. Einige Jungen von
der Gaesdonk haben verstohlen Geld umgetauscht: eine Mark gegen 110 Lire. Ich
sonnte mich auf den Almwiesen. Um halb zwei Uhr ging die Fahrt endlich weiter,
über Brixen durch die Dolomiten, dann durch Bozen. Um sieben Uhr waren wir in
Trient. Hier wurde das Tridentinische Konzil abgehalten. In dieser Stadt steht
auch das berühmte Dantedenkmal. Wir konnten nicht zelten, da es schon zu dunkel
war. Um zehn Uhr fanden wir dann schließlich eine Unterkunft in einem Kloster.
Zum Abendessen gab es Makkaroni mit Tomaten, geriebenem Käse und Butter. Der
Italiener ißt ja fast kaum Kartoffeln. Nachts habe ich auf dem Steinfußboden
geschlafen.
Donnerstag,
14.9.
Um sechs Uhr Hl. Messe. In Riva hohe Paßstraßen. Hier sah ich die ersten
Apfelsinenbäume, Zypressen, Olivenbäume und Palmen. Vor uns lag der Gardasee,
wohl der schönste See Italiens. Wir fuhren am Meerufer über die Bergstraße,
tief unten der blaue See. Immer wieder schroffe Felsen. Zahlreiche Tunnels, die
immer wieder den Blick auf den herrlichen See freigaben. Am Spätnachmittag
begann die Fahrt über den Appenin, sie dauerte zweieinhalb Stunden. Immer in
langen Serpentinen den Berg hinauf. Wenn man dachte, man sei oben, ging es noch
immer weiter hinauf. Die Fahrzeuge wurden aufs äußerste beansprucht. Im Dunkeln
kamen wir am Mittelmeer an. La Spezia, der größte Kriegshafen Italien. Wir
fuhren bis Sarzana und übernachteten in einer Klosterschule. Aus den Betten
nahmen wir das Bettzeug heraus und schliefen auf den Drahtmatrazen.
Freitag,
15.9.
Halb neun Abfahrt, immer am Mittelländischen Meer entlang. In Pisa besichtigten
wir den Schiefen Turm, die Taufkapelle und den Dom. Wenn man unterhalb des
Turmes steht, kann man nicht verstehen, warum er nicht umfällt. Er ist immerhin
47 Meter hoch und hängt 4,25 Meter über. Pisa selbst ist ein kleines Städtchen:
malerisch, verträumt, schmutzig. Um 11 Uhr ging es weiter. Um halb vier badeten
wir bei Citichiano im Meer. Das Wasser war blaßgrün, lauwarm und sehr salzig.
Noch nach zwei Tagen habe ich mir Salz aus den Haaren gekämmt! Um Mitternacht
kamen wir in Rom an, bei strömendem Gewitterregen. Dieser gewaltige Eindruck:
In Rom war nachts alles hell erleuchtet! Wir schliefen in einer schönen
kirchlichen Herberge.
Samstag,
16.9.
Morgens sollte eine Papstaudienz im Petersdom sein, wir fuhren hin, bekamen
aber Bescheid, daß sie erst abends stattfinde. Wir fuhren daher zu unserem
Zeltplatz. Um vier Uhr ging es wieder zum Petersdom. Die Pilger zogen feierlich
ein. Die Deutschen sangen dabei das Lied: „Großer Gott, wir loben Dich“. Ich
konnte vor Rührung kaum noch singen. Rechts und links die Schweizer Garde mit
ihren Hellebarden. Nach vielem Singen und Beten wurde die Basilika strahlend
erleuchtet, Klatschen setzte ein, ein gewaltiges Rufen hub an: „Heiliger Vater,
Heiliger Vater!“ Papst Pius XII. wurde schön langsam an mir vorbeigetragen. Er
grüßte nach allen Seiten. Vorne setzte er sich in den Thronsessel. Er segnete
alle, jeden einzelnen, die Familien, unser Volk.
Sonntag,
17.9.
Früh Heilige Messe und die Gebete des Jubiläumsablasses in St. Paul vor den
Mauern, der schönen Hauptkirche, in der alle Päpste abgebildet sind. Nach dem
Frühstück zur Gewinnung des Ablasses zur herrlichen Kirche Maria-Schnee. In ihr
wird die Krippe aus Bethlehem aufbewahrt. Papst Pius V. liegt dort im Glassarg.
Die Decke dieser Kirche ist mit dem ersten Gold aus Amerika vergoldet.
Wunderbarer Marmor! Am Nachmittag waren wir in St. Johannes. Gegenüber ist die
größte Taufkapelle. An der anderen Seite die Heilige Stiege. Im Vatikan gingen
wir zum Deutschen Friedhof. Anschließend machten wir einen Bummel zur Engelsburg
und zur Kirche des hl. Philipp Neri. Dann zur Mutterkirche der Jesuiten und zu
St. Ignatius. Bei Dunkelheit zum Kolosseum, dem Forum Romanum und zum Denkmal
Viktor Emmanuels. Ein herrlicher Tag in Rom!
Montag,
18.9.
Um acht Uhr Hl. Messe in der Katakombe St. Kalixtus. Danach in die
Vatikanischen Museen und in die Sixtinische Kapelle. Anschließend bestiegen wir
die Kuppel von St. Peter. Herrlicher Rundblick über die Stadt und die Vatikanischen
Gärten! Rom, die Stadt der Sieben Hügel und der 1.200 Kirchen! Dann zur Via
Appia. Ich sah die alte römische Wasserleitung, die aus den Albaner Bergen
kommt. Dann nach Castel Gandolfo, dem Sommersitz des Hl. Vaters. Dieser Ort liegt schön oben auf einem Berg. Man hat
den Blick auf den Albaner See. Ein riesiges Gedränge durch das enge Tor von
Castel Gandolfo. Im Innnenhof konnte ich aber gut stehen, direkt unter dem
Balkon des Hl. Vaters. An diesem Tag war auch der Kölner Gesangverein hierhin
gekommen. Alle sangen das Glaubensbekenntnis in Latein. Als der Hl. Vater auf
dem Balkon erschien, ertönte ein gewaltiger Jubelruf. Dann sang der Chor aus
Köln, mächtig erscholl das „Rühmet die Himmel“ von Schubert. Der Heilige Vater
nickte beifällig. Nachher klatschte er Beifall und sagte: „Wir danken dem
Männergesangverein Köln für das schöne Ständchen und das herrliche Lied, Wir
segnen Euch besonders.“ Danach begrüßte er die verschiedenen Städte und
Abordnungen aus Italien und fragte, ob sie auch alle vier Hauptkirchen besucht
hätten. Auf deutsch sagte er: „Wir begrüßen Euch alle recht herzlich, grüßt mir
alle eure Familien und Bekannten. Wir segnen Euch, vor allem Eure lieben Kinder
und Familien, die Kranken und Notleidenden und Euer liebes Vaterland.“ Danach
kam der Große Segen. Tief beeindruckt verließen wir den Platz und fuhren nach
San Giorgio zurück. Dies war der schönste Tag, der Höhepunkt der Fahrt!
Dienstag,
19.9.
Früh fuhren wir in die Stadt, besuchten das Kolosseum und den Tempel der Venus
und Roma. Wir waren in den Kirchen der hl. Franziska, des St. Ignatius, der hl.
Maria. Dann zum Forum Trajanum mit den Märkten. Zum Pantheon, das 27 vor
Christus erbaut wurde. Zur Kirche der hl. Agnes, noch einmal zur Engelsburg.
Wir sahen den Tiber, die Via Pius X. und zum letzten Mal den Petersdom. Wir
nahmen Abschied.
Mittwoch,
20.9.
Früh um drei Uhr bauten wir die Zelte ab. Im Dunkeln sahen wir noch einmal
einen Teil Roms, dann waren wir schnell außerhalb der Stadt. Wir fuhren nach
Assisi. In der Kirche St. Klara waren wir am Glassarg der Heiligen, in der
Kirche des hl. Franziskus sahen wir sein Grab in der Unterkirche. Im
Vorbeifahren war noch die Portiunkula-Kirche zu sehen. Wieder über den Appenin.
Um drei Uhr hatten wir die Adriatische Küste erreicht. Herrlich konnte ich hier
baden. Die Wellen schlugen nur so über mir zusammen! Unterkunft gab es in einem
Erholungsheim für Kinder.
Donnerstag,
21.9.
Zeitig ging es weiter. An Padua vorbei, kamen wir um halb zwölf Uhr nach
Venedig. Wir besichtigten die Kanäle und engen Gassen und gingen zum Markusdom.
Wir bewunderten den Dogenpalast und fuhren mit dem Schiff wieder zurück zum
Parkplatz. Um halb acht Uhr abends waren wir wieder in dem Kloster in Trient,
das von der Hinfahrt bereits bekannt war.
Freitag,
22.9.
Früh um halb acht Uhr ging es weiter zum Brenner. Dort waren wir um halb eins
Uhr. In höheren Lagen sahen wir hier bereits Schnee! Die Grenzformalitäten
waren diesmal in gut einer Stunde erledigt. Wir fuhren über Innsbruck nach
Rattenberg, der ältesten Stadt Österreichs. Kufstein. Die deutsche Grenzkontrolle
war streng; nur ein Liter Wein war erlaubt. Im Dunkeln nach Rosenheim. Dort
schliefen wir im Gesellenhaus.
Samstag,
23.9.
Rückfahrt über Viersen und Gaesdonk nach Asperden.
Soweit mein damaliges Reisetagebuch. Mit
vielen Eindrücken kam ich von der Romreise zurück. Ich hielt über diese Reise
auch einen Vortrag bei der Katholischen Arbeiterbewegung in Kranenburg.
Inzwischen war meine Frau wieder
schwanger. Unser drittes Kind kündigte sich an. Maria wurde am 17.4.1951 geboren.
Auch sie zu Hause, mit Hilfe der Hebamme. Maria wuchs gut heran, obwohl anfangs
Schwierigkeiten waren. Der Arzt sagte nämlich: „Die verhungert Euch!“ Wir gaben
zur Ernährung durch Muttermilch Beikost, da ging es dann gut.
Es war schwierig, bei drei Kindern Wäsche
zu waschen. So kaufte ich schon damals eine Waschmaschine. Es war eine der
ersten, die es nach der Währungsreform gab.
Meine Frau ging einmal in Kur. Zu dieser
Zeit versorgten die Eheleute Koch aus Krefeld den Haushalt. Bei einer zweiten
Kur kamen sie nicht mehr. Da hat denn eine Familienpflegerein der Caritas den
Haushalt versorgt.
Wir hatten aber jetzt ordentliche
Fahrräder. Damit fuhren wir nach Kevelaer. Ich hatte ein Kind vorne, eins
hinten auf dem Rad, meine Frau hatte das dritte. Sonntags gingen wir im nahen Reichswald
spazieren oder badeten in der Niers, von der Gärtnerei aus. Bobby war immer
noch bei uns. Die Kinder konnten draußen sehr schön spielen; das war gut so.
Auf diese Weise wuchsen sie gesund heran.
Nun zog der Geselle aus der oberen
Wohnung aus und wir konnten sie mieten. Die unteren Räume wurden von der Gärtnerei
aus zugänglich gemacht. Man baute sie zu Aufenthaltsräumen aus.
Einmal bekamen Johanna und Heinrich
Scharlach. Sie mußten in die Isolierstation des Klever Krankenhauses, das noch
immer in Bedburg-Hau war. Es gefiel ihnen dort so gut, daß sie die ganze
Station in Aufruhr versetzten. Die Schwestern waren heilfroh, als die beiden
Kinder wieder nach Hause gehen konnten.
Einmal besuchte uns mein Schwiegervater.
Er tat sich aus Versehen Salz statt Zucker in den Kaffee. Aus lauter Sparsamkeit
hat er diesen versalzenen Kaffee dann auch noch getrunken! Ich meinte es gut
mit ihm und forderte ihn auf, das Rosinenbrot mit Butter zu bestreichen und mit
Käse zu belegen. Er aber war der Ansicht, das sei Verschwendung! Wie alle
Sudetendeutschen war er sparsam und genügsam.
Ich habe meinen Schwiegervater auch
einmal in Niederoderwitz besucht. Das war schwierig; denn man brauchte von
dort eine Aufenthalts- und Besuchsgenehmigung. Er schickte sie mir. Ich fuhr
mit der Bahn. Der Grenzübergang in Helmstedt war sehr umständlich und
schwierig. Man mußte mit dem Gepäck den Zug verlassen und durch diverse
Kontrollräume gehen. Ostmark durfte weder ein- noch ausgeführt werden. Bei der
Kontrolle mußte ich mich buchstäblich ausziehen, weil keiner glaubte, daß ich
außer Westgeld kein anderes bei mir hatte. Immer wieder fragten sie mich, wovon
ich denn leben wollte. Ich sagte: „Mein Schwiegervater hat mich eingeladen. Bei
ihm bekomme ich Essen und Wohnung.“ Endlich ließ man mich ziehen. Im Zug aber
hatte ich Durst und keine Ostmark. Da haben mir mitleidige Menschen ein paar
Mark geschenkt, damit ich mir ein Bier leisten konnte. Dafür habe ich mir deren
Adresse geben lassen. Später habe ich ihnen ein Päckchen mit Margarine geschickt.
War erst einmal die Grenze passiert, konnte man ziemlich frei reisen. Mein
Schwiegervater wohnte in einem Feierabendheim, der früheren Villa Kosa. Ihr
Eigentümer war in den Westen gegangen. Der ehemalige Gärtner, Adolf Jaschke,
war Verwalter geworden. Er nahm mich freundlich auf. Diese Reise werde ich mein
Lebtag nicht vergessen!
1955 wurden Johanna und Heinrich
eingeschult. Im ersten Schuljahr waren sie bei Fräulein Eva Altaner. Einmal war
Volksmission. Wir gingen zu den Abendveranstaltungen. Die Kinder ließen wir
allein zu Hause. Nach der Predigt waren wir auf dem Heimweg. Wer kommt uns da
entgegen? Unser Sohn Heinrich, in Nachthemd und Gummistiefeln!
1956 war Katholikentag in Köln. Ich bin
mit Heinrich dorthin gefahren. Wir übernachteten in Großzelten. Von der Deutzer
Brücke aus sahen wir uns die Schiffsprozession an.
Ich hatte schon lange vor, mich zu
verändern. Eines Tages nahm ich dann eine Stelle bei der Gärtnerei Rogmann in Kevelaer an. Er sagte mir eine
Wohnung zu, die aber noch nicht frei war, weil die damaligen Bewohner bauen wollten.
So bin ich eine Zeitlang mit einem Fahrrad mit Hilfsmotor zwischen Asperden und
Kevelaer gependelt. Ich hatte auch Sonntagsdienst, wie das in Gärtnereien
üblich war: Lüften, Gießen, die Heizung entschlacken. Als die zugesagte Wohnung
immer noch nicht frei wurde, mußte ich handeln. Ich ging also zum Wohnungsamt
in Kevelaer und erhielt eine Notwohnung im Wassertum der Stadt an der
Kroatenstraße.
Umgezogen sind wir dann mit einem
Pferdefuhrwerk. Das war eine lustige Sache, vor allem für die Kinder; denn wir
hatten seit einiger Zeit eine Katze! (Sie hieß Anna.) Dann die halbrunden,
hohen Räume im Wasserturm! Dort haben wir gar nicht schlecht gewohnt. Johanna
und Heinrich feierten hier ihre Erstkommunion. Maria wurde an der Hubertusschule
eingeschult.
1959 wurde endlich die Wohnung
Römerstraße 27 frei. Diesmal zogen wir in vielen Abschnitten mit einem großen Handwagen
um. Es war ein zweirädriger Platten-Handkarren. Man sieht solche Wagen heute
nicht mehr, weil alles und jedes mit dem Lieferwagen transportiert wird. Ein
Kollege half mir zu tapezieren. Das Haus hatte unten Wohnzimmer, Küche, Waschküche
und Flur. Oben gab es zwei große und ein kleines Schlafzimmer. Als Bad mußte
die Waschküche dienen. Die Toilette war auf dem Hof. Heizung hatten wir in
diesem Haus auch nicht. Wir heizten und kochten mit Holz und Kohle. Wir holten
die Briketts bei der Kohlenhandlung Peters, direkt neben dem Klarissenkloster.
Damals kostete der Zentner noch 2,50 DM. Wir holten nach Bedarf mit dem
Handwagen.
Um 1955 waren die ersten Fernseher
aufgekommen. Unsere Nachbarin Bubath hatte sich einen angeschafft. Dorthin
gingen wir öfter. Ich erinnere mich noch besonders an den Film: „Soweit die
Füße tragen“.
Ich hatte einen Bausparvertrag
abgeschlossen und war einer Familienheimbewegung beigetreten. Die Kirche
stellte Erbpachtgrundstücke auf der Weezer Straße zur Verfügung. Im Sommer 1962
konnte es dann losgehen. Wir brachten viel Eigenleistung auf und fertigten den
Fußboden des Kellers, den Estrich auf dem Söller, bewerkstelligten den gesamten
Innenverputz, den Anstrich und das Tapezieren. Im Mai 1964 sind wir eingezogen.
Der Umzug geschah wieder mit einem geliehenen Handwagen. Nunmehr wohnen wir
hier seit 29 Jahren. 1965 ging ich zur Gärtnerei Gesthüsen als Gehilfe. Von
1975 an war ich zwölf Jahre lang im Stadtrat Kevelaer tätig. Am 29.6.1991
feierten wir unsere Goldhochzeit.
Damit beende ich meine Aufzeichnungen.
Sie sind sicher nicht vollständig. Aber vielleicht beschreiben die Kinder
einmal die Jahre nach ihrer Schulentlassung aus ihrer Sicht?