Kirchenslavisch
Mein erster Kontakt mit den Ostkirchen wurde durch folgendes Buch vermittelt:
Nikolaus Liesel (* 1893; Priesterweihe 18. 12. 1916 in Saratov; Sterbedatum unbekannt), Liturgiæ Catholicæ Orientales, Steyl und Kaldenkirchen 1962.
Diesem Buch war eine Schallplatte beigefügt, sodaß die Liturgien der Ostkirchen in Bild und Ton erlebt werden konnten. Nikolaus Liesel war ein Wolgadeutscher. Unter der Bezeichnung „Ostkirchen“ werden orthodoxe, altorientalische und katholische Ostkirchen zusammengefaßt.
Im Studium sang ich dann 1973 bis 1976 in einem ostkirchlichen Chor, wenn die Göttliche Liturgie gefeiert wurde.
Die liturgische Sprache ist das Kirchenslavische. Im ersten Jahr lernte ich die Doxologie (Ehre sei dem Vater…) auswendig, im zweiten das Vater unser, im dritten das Glaubensbekenntnis und später Psalm 50:
Psalm 50, Молитвословъ, St. Petersburg 1879, Blatt 2v.3.
Kyrillos (826/827-869) und Methodios (um 815 bis 886) stammten aus Thessalonich. Für die Slaven übersetzten sie biblische und liturgische Texte. In welche Sprache?
· Da sie aus Thessalonich stammten, das zu Makedonien gehört, könnte diese Sprache als Altmazedonisch bezeichnet werden.
· Da sie später im Großmährischen Reich missionierten, legt sich die Bezeichnung Altmährisch nahe. Kyrillos und Methodios kämpften gegen die „Dreisprachenhäresie“. Ihnen wurde vorgehalten, daß nur Hebräisch, Griechisch und Lateinisch heilige Sprachen seien. Dagegen argumentierten sie, daß Christus seinen Jüngern aufgetragen hatte, allen Völkern das Evangelium zu verkünden, natürlich in deren eigener Sprache; sonst wären sie ja gar nicht verstanden worden.
· Da der Bischof von Regensburg gegen die entstehenden slavischen Gemeinden vorging und die weitere Entwicklung dieser Sprache und Kultur in Bulgarien geschah, wird manchmal die Bezeichnung Altbulgarisch gebraucht.
· Da diese Sprache nur innerhalb der Kirche gebraucht wird, legt sich der Begriff Altkirchenslavisch nahe.
Übrigens erfand Kyrillos nicht die „Kyrillische“ Schrift, sondern die glagolitische, die so heißt, weil глаголъ (glagól) – Wort häufig in den Texten vorkommt:
Glagolitische Schrift, Nikolaos H. Trunte, Ein praktisches Lehrbuch des Kirchenslavischen in 30 Lektionen, Band I; Altkirchenslavisch, München 2003, 263.
Die „kyrillische“ Schrift entstand, weil die glagolitische nicht so leicht lesbar war. Für jeden slavischen Laut, der auch im Griechischen vorhanden war, wurde der entsprechende griechische Buchstabe genommen. Die übrigen Laute wurden durch neu gebildete dargestellt. Dabei erfolgte manchmal ein Rückgriff auf das glagolitische Alphabet:
· э (ė), ф (f), ш (š) und ѳ (th, gesprochen: f) entsprechen den gleichen Buchstaben im glagolitischen Alphabet.
Im Mariä-Verkündigungskloster Supraslʼ (Supraśl), 15 km nordöstlich von Białystok, wird der Codex Suprasliensis aus dem 11. Jahrhundert aufbewahrt. Er stammt aus Bulgarien.
Es handelt sich hierbei um ein Menaion, einen Monatsband. Er enthält 24 Heiligenviten für den Monat März und 23 Homilien, von denen die meisten von Johannes Chrysostomos stammen, sowie ein Gebet. Es ist die umfangreichste erhaltene altkirchenslavische Handschrift.
Codex Suprasliensis: Homilie unseres Vaters, des heiligen Johannes Chrysostomos, zum „viertägigen“ Lazarus. Er wurde so genannt, weil er vier Tage im Grabe lag, während Christus drei Tage im Grabe verbrachte.
Zunächst arbeitete ich mit dem Handbuch Leskiens, das sehr kenntnisreich, aber für Anfänger wenig geeignet ist. Dann veröffentlichte Trunte sein Werk. Damit erhielt ich eine stabile Grundlage.
Zuerst war ich Sänger, dann Lektor und schließlich Zelebrant. Das Kirchenslavische hat in den slavischen Kirchen einen Rang wie das Latein oder Griechisch in den entsprechenden Kirchen.
Die kirchenslavische Sprache ist klangvoll und musikalisch. Übersetzungen der liturgischen Texte in andere Sprachen wirken dagegen manchmal holprig und ungelenk.
Bibliographie
Lehrbücher des Altkirchenslavischen
· Leskien, August (1840-1916), Grammatik der altbulgarischen (altkirchenslavischen) Sprache, Weimar 1871; Weimar 21886; Weimar 31898; Weimar 51910; Heidelberg 61919; Handbuch der altbulgarischen (alkirchenslavischen) Sprache. Grammatik – Texte – Glossar, Heidelberg 71955; Heidelberg 81962; Heidelberg 91969; ergänzt von Johannes Schröpfer, Heidelberg 101990; Norderstedt 2017 (Nachdruck der ersten Auflage: Weimar 1871).
· Trubetzkoy, Nikolaus S., Altkirchenslavische Grammatik. Schrift-, Laut- und Formensystem, herausgegeben von Rudolf Jagoditsch, Wien 1954; Graz, Wien und Köln 21968.
· Trunte, Nikolaos H., Ein praktisches Lehrbuch des Kirchenslavischen in 30 Lektionen. Zugleich eine Einführung in die slavische Philologie, Band 1: Altkirchenslavisch, Slavistische Beiträge 264, Studienhilfen 1, München 52003.
Wörterbücher des Altkirchenslavischen
· Alekseev, A. A., A. S. Gerd und Zoe Gauptova, Словарь старославянского языка (Wörterbuch der altslavischenn Sprache), 4 Bände, St. Petersburg 2006.
· Miklošič, Franz von, Lexicon palæoslovenico-græco-latinum, Wien 1862-1865; Aalen 1977.
· Miklošič, Franz von, A. Ch Vostokov, Ja. I. Berednikov und I. S. Kočetov, Словарь древняго славянскаго языка составленный по Остромирову Евангелiю (Wörterbuch der altslavischen Sprache im Evangeliar, das vom Statthalter Ostromir [† 1054 oder 1056/1057 ] in Auftrag gegeben worden war), St. Petersburg 1899; Moskau 2014.
· Sadnik, Linda, und Rudolf Aitzetmüller, Handwörterbuch zu den altkirchenslavischen Texten, Heidelberg 1955; Heidelberg 1989.
Codex Suprasliensis
· Супрасльская рукопись (Die Handschrift von Supraslʼ), herausgegeben von Sergej Severʼjanov, Памятники старославянскаго языка (Denkmäler der altslavischen Sprache), Band 2, zwei Bände, St. Petersburg 1904; Graz 1956.
· Meyer, Karl H., Kirchenslavisch-griechisches Wörterbuch des Codes Suprasliensis, Glückstadt und Hamburg 1935.
Lehrbücher
des Kirchenslavischen
· Alipij (Gamanovič), Грамматика церковно-славянского языка (Grammatik der kirchenslavischen Sprache), Moskau 1991.
· Meyers, Maurice F., A Short Grammar
of Church Slavonic, New York 1956.
· Trunte, Nikolaos H., Ein praktisches Lehrbuch des Kirchenslavischen in 30 Lektionen. Zugleich eine Einführung in die slavische Philologie, Band 2: Mittel- und Neukirchenslavisch. Beiheft: Register und Glossar, Slavistische Beiträge 370, Studienhilfen 9, München 52001.
Wörterbücher
des Kirchenslavischen
· Alekseev, Pëtr Alekseevič (1731-1801), Церковный словарь, или истолкованiе славенскихъ, также маловразумительныхъ древнихъ реченiй (Kirchliches Lexikon, oder Erklärung slavischer, auch wenig verständlicher Ausdrücke), 3 Bände, St. Petersburg 1773-1779; 5 Bände, St. Petersburg 1817-1819; Hildesheim und New York 1976.
· Dalber, Thomas, Aufschriften auf russischen Ikonen, Monumenta linguæ slavicæ dialecti veteris 37, Freiburg im Breisgau 1997.
· Deschler, Jean-Paul, Abkürzungen in kirchenslavischen Texten auf Ikonen, in Handschriften und in liturgischen Texten, mit deutscher Übersetzung, Basel 2008.
· Deschler, Jean-Paul, Kleines Wörterbuch der kirchenslavischen Sprache, Slavistische Beiträge 425, München 32003.
· Dʼjačenko, Grigorij, Полный церковно-славянскiй словарь (Vollständiges kirchenslavisches Wörterbuch), Moskau 1899; 1900; 1993; 1998; 2000; 2002; 2009; 2017; 2020.
· Kraveckij, A. G., und A. A. Pletnevaja, Большой словарь церковнославянского языка нового времени (Großes Wörterbuch der kirchenslavischen Sprache neuerer Zeit), Wörterbücher des XXI. Jahrhunderts, Handwörterbücher der russischen Sprache, Band 1, Moskau 2016.
Literatur
zum Kirchenslavischen
· Horbač, Oleksa, Die vier Ausgaben der kirchenslavischen Grammatik von M. Smotryckyj, Osteuropastudien des Landes Hessen, Reihe 3, Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik, Band 7,Wiesbaden 1964.
· Plähn, Jürgen, Der Gebrauch des modernen russischen Kirchenslavisch in der russischen Kirche mit zahlreichen Notenbeispielen und kirchenslavischen Texten, Hamburg 1978.
· Šachmatov, Aleksej Aleksandrovič, und G. J. Ševelov, Die kirchenslavischen Elemente in der modernen klassischen Literatursprache, Übersetzung von H. J. Zum Winkel, Slavistische Studienbücher I, Wiesbaden 1960.
Slavische
Sprachen
· Derksen, Rick, Etymological
Dictionary of the Slavic Inherited Lexicon, Leiden Indo-European Etymological
Dictionary Series, Band 4, Leiden und Boston 2008.
· Nahtigal, Rajko, Die slavischen Sprachen. Abriß der vergleichenden Grammatik, Bibliotheca Slavica, Wiesbaden 1961.
· Townsend, Charles ., und Laura A. Janda, Gemeinslavisch und Slavisch im Vergleich. Einführung in die Entwicklung von Phonologie und Flexion, Slavistische Beiträge 416, Studienhilfen 12, München 2003.
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2025