Das Studium des Neuen Testamentes in der Orthodoxen Kirche

Kassian (Bezobrazov)

[S. 22] Die Grenzen meines Aufsatzes sind mit dem Titel bezeichnet.1) Da der Kanon der Heiligen Schrift eine Einheit bildet, so müssen die Grundsätze für die Erforschung der Bibel für das Alte und das Neue Testament dieselben sein. Da das Alte Testament aber die Vorbereitung der im Neuen Testament geschehenen Erfüllung ist, so scheinen doch einige Einschränkungen dieser Grundsätze für die Erforschung des Alten Testamentes unvermeidbar zu sein, während sie auf die Erforschung des Neuen Testamentes in vollem Ausmaße angewandt werden können. Wir werden es im folgenden nur mit dem Neuen Testament zu tun haben.

Außerdem muss ich bemerken, dass wir unser Augenmerk nicht auf die Geschichte der Bücher des Neuen Testamentes, sondern auf ihre Auslegung richten werden, denn bevor man die Geschichte rekonstruiert, muss man die Dokumente zu lesen verstehen, die uns für jene als Quellen dienen. In allen christlichen Konfessionen werden diese Dokumente in sehr verschiedener Weise ausgelegt. Die christliche Kirche der alten Zeit kannte die buchstäbliche und allegorische Exegese und eine große Mannigfaltigkeit der praktischen Anwendung. Ich werde mich hier nur mit der historischen Auslegung beschäftigen, deren Ziel es ist, den ursprünglichen Sinn der Texte festzustellen, so wie ihn ihre Verfasser beabsichtigt haben. Ich werde mich fragen, welches die Richtung ist, in der die orthodoxe Exegese forscht, oder, um es genauer zu sagen, auf Grund welcher Voraussetzungen sie diesen ursprünglichen Sinn sucht. Ich lege auf diese nähere Bezeichnung, "unter welchen Voraussetzungen sie sucht", allen Nachdruck. Es handelt sich an erster Stelle um die Grundsätze. Es kann vorkommen, dass die Tatsachen den Grundsätzen widersprechen. Aber nur die in gebührender Weise aufgestellten Grundsätze drücken den Geist und das Wesen der Orthodoxie aus.

In der Tat, wenn wir uns auf die Tatsachen beschränken, so muss man anerkennen, dass die orthodoxe Exegese sehr häufig durch einen ausgesprochenen Konservativismus charakterisiert ist. Dieser hat insbesondere seinen Niederschlag in den exegetischen Werken gefunden, die in Russland vor dem ersten Weltkrieg erschienen sind.

Ich werde nur einige Beispiele für diesen Konservativismus geben, wobei ich stets im Rahmen des Neuen Testamentes bleiben werde. Im Zweiten Brief an die Korinther ist "derjenige, der die Betrübnis verursacht hat" (2,5 vgl. noch 7,12), nicht ein Gegner des Paulus, wie die große Mehrheit der neuzeitlichen Exegeten annimmt, sondern der Blutschänder vom Ersten [S. 23] Korinther 5. Infolgedessen ist der Beleidigte nicht der Apostel Paulus selbst, sondern der Vater des Blutschänders, sei es, dass er noch lebe oder nicht. Diese Auslegung gestattet es, den strengen Brief, von dem im Zweiten Korinther 2,7f die Rede ist, mit dem Ersten Korintherbrief zu identifizieren und die Existenz eines Schreibens anzunehmen, das uns nicht erhalten sein würde. Diese Auslegung2), die in unseren Tagen fast ganz auf gegeben ist, geht bis in das christliche Altertum zurück3) und geht aus der Überzeugung hervor, dass uns keine der apostolischen Schriften verlorengegangen ist4). Was das Geschichtliche anbelangt, so fordert dieser Konservativismus, dass der Hebräerbrief immer noch dem hl. Paulus zugewiesen und dass die traditionelle Überzeugung, die will, dass Petrus und Paulus am selben Tage gestorben seien, in vollem Umfange aufrechterhalten wird5).

Es gibt in der Orthodoxen Kirche keine kritischen Ausgaben des Neuen Testamentes. Die einzige Ausgabe, die mir bekannt ist, ist die von Charilaos Papaioannou (Athen 1936). Das mir vorliegende Werk bietet eine sehr sorgfältige Kollation der Lesarten der alten Handschriften, Übersetzungen u.s.w. Aber es ist doch immer noch der textus receptus, der die Grundlage der neuen Ausgabe bildet, und die betreffenden Lesarten haben nur den Wert von Varianten, die lediglich im Apparat erscheinen.

Die Revision der russischen Übersetzung des Neuen Testamentes, mit der eine besondere Kommission, die ihren Sitz in Paris hat, seit dem Jahre 1951 beauftragt ist, hat ebenfalls mit einer gewissen "Kanonisation" des textus receptus zu rechnen, der in den schon erschienenen Besprechungen als der kirchliche Text betrachtet wird6). Was nun das Kirchenvolk im allgemeinen anbetrifft, so zeichnet sich dieser Konservativismus durch ein gänzliches Fehlen besonderer Kenntnisse aus. Aber gerade an diesem Punkte muss man genau zwischen den Tatsachen und den Grundsätzen unterscheiden. Man fragt sich, ob die Tatsachen, um die es sich hier handelt, die Einstellung der Orthodoxie ausdrücken, ob sie ihr Wesen selbst berühren. In welchem Geist interpretiert die Orthodoxe Kirche die Hl. Schrift, oder will sie sie doch wenigstens interpretiert sehen?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss man zunächst feststellen, dass es keine exegetische Methode gibt, die in formaler Hinsicht durch das Lehramt der Orthodoxen Kirche vorgeschrieben ist. An diesem Punkte besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der Orthodoxen und der Römisch-Katholischen Kirche, in der die Entscheidungen der Bibel-Kommission über strittige Fragen von obligatorischer Bedeutung sind.7) Wie erklärt sich dieses Stillschweigen der Orthodoxen Kirche? Es wäre falsch, der orthodoxen Exegese ein Ungenügen in wissenschaftlicher Hinsicht vorzuwerfen. Die Arbeiten vor Glubokovskij, von Muretov u.a. würden eine solche Behauptung widerlegen. Es handelt sich vielmehr um den Geist der Freiheit der Orthodoxie, der es nicht sucht, dogmatische Entscheidungen anzuhäufen. Es mag überflüssig sein, an die wohlbekannte Tatsache zu erinnern, dass in der Orthodoxie der Wert sogar der konziliaren Entscheidungen in ihrer stillschweigenden Annahme durch das Gesamtbewusstsein der Kirche begründet ist. Es genügt nicht, dass sie von den kanonisch geweihten und in ihrer Gesamtheit die ganze Christenheit repräsentierenden Bischöfen anerkannt worden sind. Man kann sogar solche Fälle anführen, denen jede formale Definition fehlt, [S. 24] ohne dass sie dabei jedes Mal die Gültigkeit des Zeugnisses der Kirche berührt. Einer dieser Fälle, nämlich der des Neutestamentlichen Kanons selbst, gehört zu dem uns beschäftigenden Thema. Für die Abgrenzung des Kanons des Neuen Testamentes kann sich die Römisch-Katholische Kirche auf die Bestimmungen des Konzils von Trient und des Vatikanums beziehen. Die Orthodoxe Kirche kann keine Entscheidungen von Konzilen anführen, denn das sogenannte Trullanum (692) hat nur die alten Kanonsverzeichnisse bestätigt. Wenn in einigen dieser alten Verzeichnisse die Apokalypse fehlt, so haben doch andere wiederum Bücher enthalten, denen das kirchliche Gesamtbewusstsein keinen kanonischen Wert zuerkannt hat. Aber nichtsdestoweniger ist in der Orthodoxen Kirche der Begriff des Kanons des Neuen Testamentes nicht weniger bestimmt als in der Römisch-Katholischen Kirche.

Angesichts dieser Lage der Dinge müssen wir, um die uns gestellte Frage zu beantworten, zu den Quellen der kirchlichen Lehre selbst gehen und von diesen aus auf dem Wege der Deduktion die Antwort, die wir suchen, ableiten.

Die Kirche glaubt an die Inspiration (griechisch Theopneustie) der Hl. Schrift. In bezug auf diesen Punkt steht das Zeugnis des Neuen Testaments fest.

Der Text, auf dem das Dogma der Inspiration beruht, findet sich im Zweiten Brief des Apostel Paulus an Timotheus (3,15-17): "da du von Jugend auf die Hl. Schriften kennst, so können dich dieselben in bezug auf das Heil durch den Glauben an Christus Jesus unterweisen. Alle Schrift ist von Gottes Geist eingegeben und nützlich zur Lehre, zum Tadel, zur Besserung, zur Zucht in der Gerechtigkeit, auf dass ein Mensch Gottes vollkommen sei und zu jedem guten Werk geschickt." Der Grundsatz lautet folgendermaßen: Jede Schrift ist von Gottes Geist eingegeben. Er findet seine praktische Anwendung, aber er ist nicht entwickelt. Die Parallelstelle im Zweiten Brief des hl. Petrus (1,20f) ist fast ebenso allgemein gehalten: "Keine Weissagung der Schrift unterliegt eigener Auslegung. Denn nicht durch menschlichen Willen ward je eine Weissagung hervorgebracht, sondern vom Hl. Geist getrieben, redeten Menschen von Gott aus".

In diesen beiden Texten handelt es sich um die Inspiration des Alten Testamentes. Aber die Kirche hat bei der Aufstellung des Kanons des Neuen Testamentes ihr Zeugnis auch auf die Schriften des Neuen Bundes ausgedehnt. Das ist übrigens die Meinung des Petrus selbst, der am Ende seines Zweiten Briefes die Briefe des Paulus unter die "Schriften" rechnet (3,15f). Diese Erklärung des Petrus ist eines der ersten Zeugnisse zugunsten des Kanons des Neuen Testamentes, was seine Zusammenstellung und Bildung anbelangt.

Aber es genügt nicht, sich auf das Prinzip der Inspiration zu berufen. Man muss es auch auslegen können. Was heißt "Inspiration"? Schließt die Annahme einer Inspiration für ein inspiriertes Buch jede Möglichkeit irgendeines Irrtums oder auch von Unvollkommenheit aus? Das war eine These, die auch ich in meinen Aufsätzen, die in den Jahren 1928 und 1937 in Russisch und in Französisch8) erschienen sind, zu verteidigen mich bemühte. Ich glaube jetzt aber nicht mehr, dass sich diese These für einen orthodoxen Theologen verteidigen lässt.

[S. 25] Der erste Einwand, der sich dagegen erheben lässt, ist rein theologischer Natur. Bedeutet nicht das Behaupten dieser These, dass man von Gott ein Wunder verlangt, mehr noch, dass man ihm das Wesen und die Grenzen dieses Wunders vorschreibt? Gott soll tun, nicht was er zu tun für nötig erachtet, sondern was von ihm die menschlichen Forderungen verlangen.

Der zweite Einwand wiegt ebenso schwer. Das Prinzip, um das es sich handelt, widerspricht den Tatsachen. Ich gehe von dem Grundsatz des Widerspruches aus, wie er durch die formale Logik gelehrt wird: "Es ist unmöglich, dass eine Sache zugleich ist und nicht ist." Ich werde meine Beobachtungen immer nur auf das Neue Testament beschränken.

Es gibt sicherlich Fälle, bei denen ein Ausgleich der verschiedenartigsten Schriftzeugnisse, die auf den ersten Blick einander zu widersprechen scheinen, keine Schwierigkeiten bereitet. So ist z.B. von der ältesten Christenheit an das Johannes-Evangelium als eine Ergänzung zu den Synoptikern in geistlicher Hinsicht angesehen worden. Wenn andererseits der hl. Lukas der einzige ist, der unter den Evangelisten sich der Aufgabe unterzogen hat, die evangelische Geschichte in der chronologischen Abfolge der Ereignisse darzustellen, so würden die Unterschiede der Evangelisten voneinander in chronologischer Hinsicht es keineswes gestatten, dass man auf sie das Prinzip des Widerspruches anwendet. Das ist die These, die ich in meinem Artikel vom Jahre 1928 verteidigt habe. Ich glaube heute nicht mehr, dass es mir gelungen ist, sie zu beweisen. Aber selbst, wenn es mir gelungen sein sollte, so würde es sich dabei um einen vermeintlichen Widerspruch handeln, den zu beseitigen durchaus möglich ist. Manchmal handelt es sich um Einzelfragen. Für den Tag des letzten Mahles Jesu und infolgedessen auch den der Passion, wie er sich aus dem Johannes-Evangelium und aus den Synoptikern ergibt, sind viele Hypothesen in Vorschlag gebracht worden, ohne dass eine einzige von ihnen wirklich befriedigend sein konnte. Aber wenn auch zahlreiche Versuche misslungen sind, bedeutet dieser Fehlschlag, dass der Ausgleich der beiden Chronologien im Prinzip unmöglich ist? Keineswegs, und es scheint in der Tat der von A.Jaubert9) in Vorschlag gebrachte Ausgleich die Schwierigkeit zu lösen. Man könnte noch andere Beispiele anführen, die zeigen, dass eine solche Lösung im Prinzip keineswegs ausgeschlossen ist, mag es sich nun um den Hauptmann von Kapernaum handeln, dessen Geschichte im Luk. 7 mehr Einzelheiten als im Matth. 8 enthält, aber letzterer doch keineswegs widerspricht, oder um die Bitte der Zebedaiden, die sehr wohl durch ihre Mutter vorgebracht worden sein kann, obgleich deren Fürsprache, wie sie im Matth. 20 berichtet wird, in Mark. 10 ausgelassen wird. Man muss anerkennen, dass eine solche Auslassung keineswegs der Historizität von Mk. Eintracht tut, ebenso wie das Vorhandensein dieser Einzelheit keineswegs jene von Matth. in Frage stellt.

Aber es gibt Fälle, bei denen jeder Ausgleich der Widersprüche ausgeschlossen zu sein scheint. Fand die Reinigung des Tempels am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu (Joh. 2) oder am Vorabend der Passion (Matth. 21 u. parr.) statt? Wurde der Blinde von Jericho – nach Mk. und Luk. war es einer, nach Matth. waren es zwei – vom Herrn geheilt, als dieser in die Stadt einzog (Luk. 18) oder als er sie verließ (Matth. 20, Mk. 10)? In welcher Reihenfolge und vor wem hat der hl. Petrus den Herrn verleugnet?

[S. 26] Eine Beseitigung der Widersprüche durch einfaches Aufhäufen der widersprechenden Zeugnisse würde die Zahl der Verleugnungen auf fünf bringen, während doch die Überlieferung der Evangelien nur drei kennt (Matth. 26,34 u. parr.). Dieselbe Schwierigkeit findet sich bei den Erscheinungen des Auferstandenen. Die Evangelien stimmen in Bezug auf das leere Grab und die Tatsache der Erscheinungen durchaus überein. Aber jeder Versuch, sie in eine chronologische Ordnung zu bringen, ist zu verhängnisvollem Scheitern verurteilt.

Noch ein letztes Beispiel: In dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern ist der Sohn des Herrn nach Matth. (21,39) und Luk. (20,15) außerhalb des Weinberges, dagegen nach Mk. (12,8) innerhalb desselben umgebracht worden. Früher habe ich versucht, dieses Widerspruchs dadurch Herr zu werden, dass ich mich auf die Vielfältigkeit des Sinnes bezog, der einer inspirierten Schrift eignen kann. Es ist nun unbestreitbar, dass dieselbe Wahrheit von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden kann. Zwei parallele Formen derselben Lehre könnten zwei verschiedene Aspekte einer göttlichen Wahrheit darstellen. Diese Idee von der Vielfältigkeit des Sinnes schien mir unserer menschlichen Erfahrung zu entsprechen. Wir wissen sehr wohl, dass wir bei jeder neuen Lektüre auch nur einer Seite des Gotteswortes einen neuen Sinn erkennen, der uns zuvor verborgen geblieben ist, der aber keineswegs dem Sinne widerspricht, den wir uns vorher gebildet hatten. Spiegeln so die beiden Formen des Gleichnisses von den Weingärtnern nicht zwei Aspekte seiner Lehre wieder? Das ist sicherlich möglich, jedoch unter der Voraussetzung, dass wir nicht den Versuch machen, den Buchstaben des Gleichnisses in seiner ursprünglichen Gestalt zu rekonstruieren. Es ist absolut sicher, dass das Gleichnis von den bösen Weingärtnern in der Kette der Ereignisse, die sich in Jerusalem zugetragen und schließlich mit der Passion geendet haben, einen ganz bestimmten Platz einnimmt. So kann es doch nur ein einziges Mal gesprochen worden sein, was besagt, dass die beiden Gestalten, unter denen wir es haben, doch nicht zugleich auf die ipsissima verba des Herrn zurückgehen können. Das Gleichnis wurde entweder in der Form von Matth. und Luk. oder in der von Mk. gesprochen oder vielleicht sogar in einer dritten Gestalt, die uns unbekannt geblieben ist, aber es doch jedenfalls nicht in den beiden Formen auf einmal gesprochen worden sei. Das ist durch die elementaren Grundsätze der Logik schlechthin ausgeschlossen.

Endlich gibt es noch andere Schriftstellen, die mit ziemlicher Sicherheit zeigen, dass es Fälle gibt, in denen die von den Aposteln ausgesprochenen Ansichten durch den Gang der Ereignisse widerlegt worden sind. Im Ersten Thessalonicherbrief (4,15-17) und im Ersten Korintherbrief (15,52) spricht Paulus von denen, die die Wiederkehr des Herrn noch zu ihren Lebzeiten erfahren werden. Der Gebrauch der ersten Person Plural lässt vermuten, dass er diese Hoffnung teilt. Im Ersten Korintherbrief lautet die Gegenüberstellung: "Die Toten werden auferstehen unverweslich und wir werden verwandelt werden." Im Ersten Thessalonicherbrief ist der Gegensatz mit einer noch größeren Deutlichkeit unterstrichen worden: "Wir, die Lebenden, die wir für die Wiederkehr des Herrn übriggeblieben sind, werden denen nicht zuvorkommen, die entschlafen sind...Diejenigen, die in Christus gestorben sind, werden zuerst auferstehen, dann werden wir, die Lebenden die übrig- [S. 27] geblieben sind, mit ihnen aufgenommen werden." Es ist sicherlich nicht ganz unmöglich, diesen Gebrauch der ersten Person in einem unpersönlichen Sinne zu nehmen. Einige orthodoxe Ausleger tun es10) und die Römisch-Katholische Kirche schreibt es vor11), aber der Kontext der Briefe und die persönliche Ausdrucksweise, die in den Schriften des hl. Paulus so vertraut ist, verlangen, dass diese erste Person ganz wörtlich verstanden wird.

Eine gesunde und verantwortungsbewusste Exegese erblickt darin die Gewissheit, die der hl. Paulus, als er diese Briefe schrieb, hatte, dass auch er noch am Leben sein würde, wenn der Herr in Herrlichkeit wiederkehrte. Aber diese Gewissheit hat sich nicht realisiert, und in seinem letzten Briefe, dem Zweiten Brief an Tim., der sein Testament ist, zweifelt er keineswegs, dass sein Ende nahe ist (4,6-8), und er gibt Tim. Anweisungen, wie er sein Amt fortführen solle. Vielleicht hatte er davon schon ein unbestimmtes Gefühl, als er sich von dem Ältesten von Ephesus in Milet verabschiedete. In jedem Falle glaubte er, dass er sich von ihnen für immer trennen würde (vgl. Apg. 20,25.38), das ist klar. Aber wenn wir diese Auslegung annehmen, die unvermeidbar zu sein scheint, müssen wir doch sehr wahrscheinlich auch anerkennen, dass die Erwartung des hl. Paulus auch in diesem Falle durch die Tatsachen widerlegt worden ist. Wenn wir mit der ständig wachsenden Mehrheit der modernen Ausleger die Echtheit der Pastoralbriefe annehmen, die ja seinen Aufenthalt in Ephesus voraussetzen (I. Tim. 1,3; II. Tim. 1,18; 4,12, vgl. 13,19f), der später ist, als der Abschied von Milet, so müssen wir auch den Schluss ziehen, ganz im Gegensatz zu seinen Erwartungen, dass der hl. Paulus die Ältesten von Ephesus nach seinem Fortgang aus Milet wiedergesehen hat. Das wäre ein zweites Beispiel eines Irrtums von seiten eines Apostels. Von dem Augenblick an, da der Abschied von Milet seinen Platz in dem inspirierten Text der Apostelgeschichte erhalten hat, würde es sich auch um einen tatsächlichen Irrtum in einer inspirierten Schrift handeln.

Diese Beobachtungen reichen hin, um zu beweisen, dass die übliche Auffassung der Inspiration, die jeden Irrtum oder jede Unvollkommenheit in einer inspirierten Schrift ausschließt, nicht nur unhaltbar ist vom rein theologischen Gesichtspunkt aus, sondern auch den Tatsachen widerspricht.

Auch hat die Interpretation der Inspiration selbst eine lange Geschichte seit dem christlichen Altertum. Ich werde nur an die Entwicklung der Lehre von der Inspiration in den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen erinnern. Die persönliche Frömmigkeit und die biblische Theologie der ersten Protestanten haben ein solches Christentum entstehen lassen, dass sie ihm den Charakter einer "Religion des Buches" gaben. Es ist also keineswegs erstaunlich, dass die hervorragende Stelle, die sie der Bibel zugewiesen haben, bei ihnen zu der Annahme einer wörtlichen Inspiration geführt hat. Sie haben diese wörtliche Inspiration auf jedes einzelne Wort, ja sogar auf jeden Buchstaben der Bibel ausgedehnt. Aber diese Theorie hat sich nicht halten lassen und wurde nicht aufrecht erhalten. Das Studium der Bibel hat den Leser vor eine Fülle von Formen des hl. Textes gestellt. Wenn die Heilige Schrift nun bis zum letzten Buchstaben inspiriert ist, so musste diese Fülle der Texte unvermeidlich zur Frage führen: welches ist die Gestalt des hl. Textes, die, im Gegensatz zu jeder anderen Gestalt als wörtlich inspiriert bis zum letzten seiner Buchstaben [S. 28] betrachtet werden kann? Jeder, der das Bibelstudium treibt, sieht sich unvermeidbar vor dieses Problem der Inspiration gestellt. Die Evolution der Lehre von der Inspiration im Protestantismus ist eine Wiederholung der Evolution der Alten Kirche. Für die Apologeten des Zweiten Jahrhunderts handelte es sich auch um eine wörtliche Inspiration. Die Verfasser der Heiligen Schriften waren für sie passive Organe des Hl. Geistes. Sie verglichen sie mit Musikinstrumenten. Diese Auffassung einer wörtlichen Inspiration ist von der Kirche nicht angenommen worden. Im Goldenen Zeitalter der patristischen Literatur betonen die großen Väter des Vierten Jahrhunderts das menschliche Werk der inspirierten Verfasser, ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Aufgabe, mit der sie betraut waren, und die Wahl der Mittel, mit der sie sie durchführten. Sie wurden keineswegs mehr als rein passive Instrumente betrachtet. Die Väter hoben ihre Selbständigkeit und ihr eigenes Wirken hervor12).

Das Ergebnis unserer Beobachtungen ist aber immer noch ein negatives. Die Kirche lehrt die Inspiration der Heiligen Schrift. Aber die Interpretationen der Inspiration, die man gleich in den Anfängen der Kirchengeschichte vertreten hat, sind nicht aufrechterhalten worden und haben auch nicht aufrechterhalten werden können. Und das Lehramt der Kirche hat auch keine Interpretation ausgebildet, die als "verbindlich" vorgeschrieben wurde.

So bleibt uns also auf der Suche nach einem solchen Verständnis, das dem Geist der Orthodoxie entspricht, nichts anderes übrig, als eine Analyse des Begriffes der Inspiration in dem theologischen Kontext, dem sie angehört. Die Lehre von der Inspiration, in der allgemeinen Form, wie sie uns die beiden sie bezeugenden Texte des Neuen Testamentes darbieten, insbesondere der des Zweiten Petrusbriefes, setzt die Wirksamkeit zweier Faktoren voraus, die des göttlichen Faktors in der göttlichen Person des Heiligen Geistes und des menschlichen Faktors in der menschlichen Person des inspirierten Schriftstellers. So handelt es sich um das Phänomen der Gottmenschlichkeit, einer gleichzeitigen Gegenwart und eines Zusammenwirkens von zwei Elementen, des göttlichen und des menschlichen Elementes. Aber dieser Fall von Gottmenschlichkeit ist nicht der einzige, der uns bekannt ist. Im Gegenteil, es gibt andere, die wir besser kennen, die in jedem Falle aufmerksamer studiert worden sind: ich meine die Gottmenschlichkeit der Inkarnation und der Kirche.

Die Haupttatsache ist die Inkarnation: die Fleischwerdung des Gottessohnes. Ihre Analyse zeigt die charakteristischen Merkmale der Gottmenschlichkeit auf. Es gibt deren drei: Die Offenbarung Christi, die Wirksamkeit des Heiligen Geistes und die kenosis, d.h. die Entleerung oder Entäußerung des göttlichen Elementes, das mit dem menschlichen Element vereinigt ist. In der Inkarnation ist der Sohn Gottes in der geschichtlichen Gestalt Jesu Christi Mensch geworden (erstes Kennzeichen), empfangen im Jungfrauenschoß von Maria durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes (zweites Kennzeichen). Die Erzählung von Luk. 1 (vgl. Matth. 1) ist die Grundlage der christlichen Lehre von der Jungfrauengeburt. Man muss damit sofort die Offenbarung in der Eucharistie verbinden, dass das Brot und der Wein zu Leib und Blut Christi durch die Anrufung des Heiligen Geistes werden. Das dritte Kennzeichen ergibt sich ebenso klar aus dem Zeugnis des [S. 29] hl. Paulus im Phulipperbrief 2,7: er hat sich selbst erniedrigt (oder entäußert), in dem er das Dasein (oder die Lebensform) eines Knechtes annahm. Auf diese Stelle beim Apostel Paulus geht insbesondere der Ausdruck kenosis zurück. Die Knechtsgestalt ist also diejenige des Fleischgewordenen.

Es ist nicht schwer zu zeigen, dass diese drei Kennzeichen auch in dem Begriffe der Kirche enthalten sind. Wenn wir die Kirche als den Leib Christi bezeichnen, so ist klar, dass dieses Merkmal dem ersten Kennzeichen entspricht. Christus offenbart sich in der Kirche, insofern diese sein Leib ist. Ich darf für meinen Teil bekennen, dass für mich der Gedanke von der Kirche als dem Leib Christi, nicht eine dogmatische Definition darstellt, sondern ein Bild ist, das trotz seiner Wichtigkeit als kirchliche Lehre, keineswegs andere Bilder ausschließt. Solche sind z.B. beim hl. Paulus, der uns die Theologie des Leibes gegeben hat (vgl. Eph. 1,22f; Kol. 1,18 u.s.w.), die Bilder von dem Bau oder dem Tempel und das wichtigste, das von der Familie Gottes. Kurz, der Gebrauch dieser Bilder setzt ebenfalls die Offenbarung Christi in der Kirche voraus. Er ist es, der der Eckstein der Kirche ist (Eph. 2,20). In dem Bilde von der Familie Gottes, das das wichtigste ist, weil es bis auf die synoptische Überlieferung zurückreicht und seine Vervollständigung in der johannäischen Theologie findet, ist ja gesagt, dass wir durch Ihn, Christus, Zugang zum Vater haben (Eph. 2,18).

Wir werden vom Vater adoptiert, insofern wir in Christus sind. Diese paulinische Redewendung (vgl. Eph. 1) begegnet uns bei Johannes wieder. Sie bezeichnet unsere Vereinigung mit Christus, deren Höchstes die mystische Erfahrung ist. Mit einem Wort, schon in der Taufe haben wir die Offenbarung unserer Vereinigung mit Christus, dem Gestorbenen und Auferstandenen (Röm. 6,3f), und eine neue Geburt (Joh. 3,3-5): das Sakrament der Kindschaft.

Was das zweite Kennzeichen anbetrifft, so ist der Heilige Geist, in dem ganzen, umfassenden Sinne dieses Ausdruckes, der göttliche Faktor für die Offenbarung Christi in der Kirche. Die Anschauung, dass der Heilige Geist die Gegenwart Christi in der Kirche offenbar macht, tritt ja besonders in der johannäischen Theologie hervor. Auf diese Weise muss man auch die unvermeidliche Wiederkehr des in die Herrlichkeit erhobenen Herrn verstehen, die sich von seiner eschatologischen Ankunft unterscheidet (vgl. Joh 14 u. 16). Die Überlieferung bei den Vätern, wie sie z.B. bei Cyrill v. Alexandrien begegnet, wusste diese Unterscheidung zu machen13), die im Mittelalter und in der Neuzeit vergessen wurde und merkwürdigerweise von den Liberalen14) in unserer Generation15) wiedergefunden wurde. Der Heilige Geist, der die Gegenwart Christi in der Kirche oftenbart, ist auch der göttliche Bewirker seiner eschatologischen Wiederkehr. Es ist durchaus gestattet, hinter der kurzen Notiz von Joh. 16,13b den ganzen Inhalt der Apokalypse zu sehen, die ja eine Offenbarung des eschatologischen Kommens Christi ist. Die trinitarische Formel in der Offenbarung des Joh (1,4-6), in welcher der Heilige Geist, in dem Bild der Sieben Geister vor dem Throne Gottes dargestellt, dieselbe Stelle zwischen Gott und Christus einnimmt, die er in der trinitarischen Formel des Ersten Petrusbriefes (1,2) hat, drückt die Anschauung von dem [S. 30] Geiste aus, der Christus offenbar macht. Die heilige Siebenzahl des Geistes welche die erste Siebenzahl der Offenbarung des Joh. ist, die sich ja als eine Aufeinanderfolge von Siebenzahlen darstellt, gibt doch dem Leser den Eindruck, dass es der Heilige Geist ist, der Siebengestaltige Geist, der das eschatologische Kommen Christi in den Visionen der Apokalypse des Joh. offenbart.

Die Anschauung von dem Heiligen Geist, den Christus in der Kirche offenhart, ist auch dem hl. Paulus vollkommen vertraut. Für Paulus steht die Mannigfaltigkeit der Gaben des Geistes fest, der aus uns die verschiedenen Glieder des Leibes Christi macht (l. Kor. 12). Was das Bild von dem Gebäude oder den Tempel anbelangt, so verhält es sich doch so, dass wir durch den Geist eine Behausung Gottes sind (Eph. 2,22), und wenn es sich um den Zugang zum Vater in der Gottesfamilie handelt, so verhält es sich doch so, dass dieser Zugang uns im Geist gegeben ist (Eph. 2,18). Insbesondere ist die Anschauung von dem Geiste als dem göttlichen Bewirker der Kindschaft dem hl. Paulus vertraut (Röm. 8,14-17; Gal. 4,6). Die Lehre von der Kirche ist, selbst im Symbol, auf das engste mit dem Geiste verbunden. Der überraschende Parallelismus, der dort zwischen den Artikeln 2-6 und den Artikeln 8-11 besteht, will besagen, dass der Heilige Geist, der am Pfingsttage auf die Apostel herabgekommen ist, in der Kirche wohnt, so wie er einstmals in dem menschlichen Leibe Christi gewohnt hat.

Was das dritte Kennzeichen anbelangt, das ja in der Kenose besteht, so ist das, was für den Christus seine Inkarnation bedeutete, die sich in seiner Entäußerung, in seiner Erniedrigung bis zum Tode am Kreuze (Phil. 2,7f) vollendete, für die Kirche das gleiche, ihr Weg durch die Geschichte. Die Kirche hat, wie Christus selbst, von ihren Anfängen an, eine blutige Verfolgung erlitten, sie erleidet sie auch jetzt noch und sie wird sie so lange erleiden, wie die Geschichte dauern wird. Und die Teilung der Christen, dieser innere Konflikt, der durch die Jahrhunderte hindurch andauert, stellt er nicht eine neue Demütigung des göttlichen Elementes dar, eine Kenose, welche die Kirche zerreißt?

Wir können uns jetzt fragen, ob diese drei Kennzeichen der Gottmenschlichkeit auch auf die Inspiration der Schrift angewandt werden können. Das gottmenschliche Phänomen der Inspiration macht die bejahende Antwort wahrscheinlich. Unsere Aufmerksamkeit wird sofort auf das erste Kennzeichen gerichtet: Die Schrift bringt Christo Zeugnis dar. Das gilt für das Alte wie für das Neue Testament. Es ist nicht notwendig zu beweisen, dass die Offenbarung des Neuen Testamentes in Christus konzentriert ist, mag es sich um die evangelischen Geschichtsdarstellungen oder um die Christologie der Briefe handeln. Das Verständnis des Neuen Testamentes als Offenbarung Christi steht außer jedem Zweifel fest. Aber nach christlicher Auffassung bildet auch das Alte Testament eine Offenbarung Christi, insoweit, als es seine Erfüllung in Christus gefunden hat. Auch das Alte Testament gibt Zeugnis von Christus, den die Propheten vorhergesagt und der in Vorbildern dargestellt worden ist. Für das Alte Testament liegt das Kommen Christi noch in der Zukunft: Er wird kommen, und gerade diese Erwartung stellt das Alte Testament unter das Zeichen Christi. Indem die Kirche Christi den Kanon des Alten Testaments angenommen hat, hat sie es ihrerseits als [S. 31] ein heiliges Buch anerkannt. Für das Neue Testament ist Christus schon gekommen. Er ist in die himmlische Herrlichkeit zurückgekehrt, bleibt aber unter den Seinen gegenwärtig. So bildet die Inspiration der Schrift vor allem eine Offenbarung des Christus.

Zweitens: Diese Offenbarung geht auf das Wirken des Heiligen Geistes zurück. Das ist der eigentliche Sinn der Inspiration in den beiden klassischen, von uns angeführten Texten. Der göttliche Faktor der Inspiration ist der Geist. Eine ausdrückliche Erwähnung des Heiligen Geistes ist ja auch in dem Zeugnis zugunsten der Inspiration enthalten, das wir aus dem Zweiten Petrusbrief wiedergegeben haben (1,20f). Und der hl. Paulus selbst, obwohl er das Gebot des Herrn seiner eigenen Meinung entgegensetzt, war sich dessen bewusst, dass er den Geist Gottes besitze (1. Kor. 7,40).

Es bleibt uns die Frage zu stellen: Kann auch das dritte Kennzeichen der Gottmenschlichkeit auf die Inspiration angewandt werden? Können wir dort auch die Kenose des göttlichen Elementes beobachten, die wir bei der Inkarnation und in bezug auf die Kirche festgestellt haben? Wir dürfen dies als ganz natürlich erwarten, nachdem wir in der Inspiration die beiden ersten Kennzeichen der Gottmenschlichkeit wiedergefunden haben. Was Christus anbetrifft, so vollendete sich seine Menschwerdung in seinem Tode am Kreuze. Was die Kirche anbetrifft, so bestand ihre Erniedrigung in dem Eintritt in die Geschichte. Was nun die Inspiration anbetrifft, so würde es sich bei dem dritten Kennzeichen um den Ausdruck des Göttlichen durch die Mittel dieser Welt handeln. Ich habe schon davon gesprochen, wie jeder Versuch, die absolute Unfehlbarkeit der Schrift aufrechtzuerhalten, zum Scheitern verurteilt ist. Diese dogmatische Aussage, die ja unter theologischen Gesichtspunkten zweifelhaft erscheint, steht in vollem Widerspruch zu den Tatsachen. Ja, wir können jetzt sogar sagen, dass diese postulierte Unfehlbarkeit dem Wesen der Inspiration selbst als einer Tatsache der Gottmenschlichkeit widerspricht. Die Unvollkommenheiten der schriftlichen Offenbarung sind nichts anderes als die Kenose des göttlichen Elementes, die in der Inspiration ebenso unvermeidbar wie in den anderen Fällen der Gottmenschlichkeit ist. Ich behauptete einstmals, dass die Inspiration der Bibel jede Unvollkommenheit und jeden Irrtum in einer inspirierten Schrift ausschließt. Heute werde ich geradezu das Gegenteil davon sagen: Die Inspiration der Bibel, so wie wir sie verstehen, macht geradezu Unvollkommenheiten und Irrtümer unvermeidlich.

Das orthodoxe Studium der Heiligen Schrift kann nur von diesen Voraussetzungen ausgehen. Hier ist es Zeit, die Frage nach der Methode zu stellen.

Ist ein orthodoxer Exeget ermächtigt, an einem inspirierten Buch die rein menschliche Seite von der göttlichen Seite zu trennen und seine ganzen Kräfte nur auf das Studium der menschlichen Seite und auf nichts anderes als auf die menschliche Seite zu richten? Ohne dass ich mich auf Einzelheiten einlassen möchte, ist dies die Haltung der Abendländer. Sie lässt mich an die Bilder der englischen Präraphaeliten denken, die ich einstmals in den Museen von London so sehr bewundert habe. Ich sehe da in meiner Erinnerung das Kind Jesus in der Werkstatt des Zimmermanns Joseph, oder um einen anderen Gegenstand zu nehmern, die Fußwaschung: Der Herr, der vor dem hl. Petrus [S. 32] niedergekniet ist, um ihm die Füße zu waschen. Alle diese Bilder sind sehr schön, sehr eindrucksvoll, sie strömen von Liebe über, aber sie sind vollkommen, ja ausschließlich menschlich. Kann diese Methode also uns es ermöglichen, das Geheimnis des inspirierten Buches bis in seine letzten Tiefen zu durchdringen? Ist eine orthodoxe lkone nicht viel getreuer in bezug auf die erhabene Wirklichkeit dieses Buches als das schönste Bild der Präraphaeliten und vieler anderer? Wenn es mir gelungen sein sollte zu zeigen, dass die Tatsache der Gottmenschlichkeit der Inspiration allen drei Kennzeichen der Gottmenschlichkeit entspricht, so würde es ganz natürlich sein, zu erwarten, dass auch das Prinzip der Vereinigung des göttlichen und des menschlichen Elementes in der Inspiration dasselbe ist, wie in den anderen Manifestationen der Gottmenschlichkeit. Dieses Prinzip ist von der Kirche allein im Hinblick auf die Grundtatsache der Gottmenschlichkeit, nämlich der Inkarnation, definiert worden. Es handelt sich um die Formel des Vierten Ökumenischen Konzils von Chalcedon von 451. Nach dieser Definition sind in der Person Christi die beiden Elemente, d.h. die beiden Naturen, die göttliche und die menschliche Natur, vereinigt, (weder vermischt noch verwandelt), weder getrennt noch gesondert. Und nun muss gerade der zweite Teil dieser Verneinung unsere ganze Aufmerksamkeit in bezug auf die Frage, die wir untersuchen, beanspruchen. Die beiden Naturen Christi köanen weder getrennt noch voneinander gesondert werden.

Es ist nicht schwer zu zeigen, dass sich dieser Grundsatz auch auf die Kirche anwenden lässt. Es handelt sich dabei um die Einheit der kämpfenden und der triumphierenden Kirche, um die Offenbarungen des Heiligen Geistes im Irdischen, um das Mysterium der Eucharistie, in dem Leib und Blut Christi unter den Gestalten von Brot und Wein dargebracht werden, kurz, um die sakramentale Gnade, die das menschliche Element in Richtung auf seine eschatologische Vollkommenheit durchdringt und umgestaltet.

Wenn man dieses Prinzip auf die inspirierte Schrift anwendet, so nötigt uns die Untrennbarkeit der beiden Elemente, sie als zugleich ganz göttlich und ganz menschlich zu begreifen.

Dieser Schluss ist von weittragenden Folgen. Wenn die Schrift ganz menschlich ist, so sind wir berechtigt – nein, vielmehr sind wir genötigt –, auf ihr Studium die historische Methode anzuwenden, wie sie bei jedem anderen Dokumente der Geschichte zur Anwendung kommt. Die christliche Wissenschaft macht von diesem Recht Gebrauch, ohne notwendigerweise an seine Voraussetzungen zu denken. Aber die Evolution der kritischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage hinein zeigt uns, was eine verantwortungsvolle Anwendung der historischen Methoden auf die Erforschung der Bibel bedeuten kann. Um zu sicheren Ergebnisen zu gelangen, genügte es, für diejenigen, die davon Gebrauch machen wollten, die ganz willkürlichen Voraussetzungen, wie etwa der Hegelianismus der Tübinger Schule aufzugeben und mit Vertrauen das Zeugnis der Kirchenväter anzunehmen und ihre Zuverlässigkeit ebensosehr und -lange vorauszusetzen, als diese nicht durch die Tatsachen in Abrede gestellt wird. Ein Vergleich zweier Werke kann das eben Gesagte verdeutlichen. Ich denke an den Kommentar von Bultmann zum Johannesevangelium [S. 33] der 1941 erschienen ist16) und an das Buch von Dodd über die Auslegung des gleichen Evangeliums (veröffentlicht 1953) 17). Beide wenden auf das Evangelium die Methoden der Religionsgeschichte an. Aber Bultmann, der sich auf seine Intuition verlässt, die nur subjektiv sein kann, glaubt sich ermächtigt, eine vollkommene Umstellung am Text des Evangeliums vornehmen zu können, während Dodd seinen Ausgangspunkt bei dem Text der kritischen Ausgaben genommen hat, der auf der Grundlage der alten Handschriften und anderer Zeugnisse von der ursprünglichen Gestalt der apostolischen Schrift beruht. Der Wert der Ergebnisse, zu denen die beiden Gelehrten gekommen sind, ist natürlich ganz verschiedenartig, und Dodds Erfolg ist eine Veranschaulichung des positiven Resultates, das ein bewährtes Studium krönt. Dieses bewährte und objektive Studium ist ein unveräußerliches Recht und die Pflicht der Wissenschaft als solcher, infolgedessen auch der orthodoxen Wissenschaft, sofern sie nämlich sich der vollkommen menschlichen Natur der inspirierten Schrift bewusst ist.

Aber die inspirierte Schrift ist nicht nur vollkommen menschlich, sie ist auch vollkommen göttlich. Gerade dieser göttliche Charakter setzt der Anwendung der historischen Methode auf die Erforschung der Schrift eine unüberschreitbare Grenze. Es gibt einen Punkt, von dem an die Anwendung der historischen Methode auf die Heilige Schrift ihr Recht verliert. Es handelt sich um die dogmatische Grenze.

Das orthodoxe Studium der Bibel kann niemals zu Schlüssen kommen, die mit den dogmatischen Lehren der Kirche im Widerspruch stehen. Praktisch gesprochen heißt das, dass, wenn ein Zeugnis der Schrift auf zwei oder drei verschiedene Weisen ausgelegt werden kann, der orthodoxe Ausleger von diesen Exegesen nur diejenige annehmen kann, die nicht zur Lehre der Kirche im Widerspruch steht. Zum Beweis für diese Behauptung mögen zwei Beispiele dienen.

Das erste bezieht sich auf "die Brüder des Herrn", die mehrmals im Neuen Testament erwähnt werden (Matth. 13, Mark. 6, Joh. 7 u.s.w.). Wer sind sie? Die orthodoxe Exegese erkennt darin meistens die Söhne des hl. Joseph, die in seiner ersten Ehe geboren wurden. Die Römisch-Katholische Exegese zieht es vor, sie als Vettern des Herrn zu betrachten. Aber schon im Christlichen Altertum wurde eine Theorie vorgetragen, die der hl. Hieronymus bekämpft hat, nämlich dass es die Söhne von Joseph und Maria waren, die nach Jesus zur Welt kamen. Nun wird diese Theorie von der protestantischen Exegese angenommen, selbst von ihren konservativen Vertretern. Die Argumente, die für diese Theorie sprechen, sind nicht überzeugender als diejenigen, die man zugunsten der beiden ersten anführen kann. Die evangelischen Texte selbst erwecken den Eindruck, dass die Brüder Jesu älter waren als er selbst. Die Charakteristik, die im Johannisevangelium gegeben wird: "seine Brüder glaubten nicht an ihn" (7,5), das auch durch einige Einzelzüge bei den Synoptikern unterstützt wird, lässt eher an die Einstellung von Älteren gegenüber Jüngeren denken. Auf alle Fälle ist eines gewiss: der orthodoxe Exeget kann nicht die dritte Theorie annehmen, weil es dem Dogma von der immerwährenden Jungfrauenschaft der Maria widerspricht, wie es die Kirche bekennt. Er kann zwischen den beiden ersten Theorien wählen oder eine andere aufstellen, aber die Annahme der dritten ist ihm untersagt.

[S. 34] Das zweite Beispiel ist das Wort Jesu, das in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums aufbewahrt wird (14,28: Der Vater ist größer als ich). Dieses Wort kann auf verschiedene Weise interpretiert werden, wie es tatsächlich die Väter getan haben. Es könnte z.B. hier vom Vater als Quelle und Prinzip der Gottheit die Rede sein18) oder auch als einem reinen Geist in Beziehung zum Fleischgewordenen Sohn. Aber es gibt eine Auslegung, die ein orthodoxer Exeget keineswegs annehmen kann: das ist die Anschauung von der Unterordnung des Sohnes. Auch kann man in diesem Zusammenhang bemerken, dass diese Auslegung keineswegs die wahrscheinlichste ist, weil der eigentliche Gedanke des Johannesevangeliums der einer vollkommenen Einheit zwischen Vater und Sohn ist. Diese aber setzt ihre vollkommene Gleichheit voraus. Die göttliche Würde des Sohnes, die der des Vaters gleicht, ist ja die im vierten Evangelium verteidigte dogmatische These. Aber selbst wenn die drei Auslegungen nach dem Kontext im Evangelium in gleicher Weise möglich wären, so wäre es doch einem orthodoxen Exegeten aus dogmatischen Gründen verwehrt, die dritte anzunehmen. Das Vorhandensein dieser dogmatischen Grenze ist eine unvermeidbare Folge, die sich aus der hier vorgetragenen Auffassung der Inspiration ergibt. Die inspirierte Heilige Schrift ist nicht nur vollkommen menschlich, sie ist zur gleichen Zeit auch vollkommen göttlich. Und gerade dieser göttliche Charakter ist es, der eine solche Grenze setzt. Eine allgemeine Beobachtung könnte als Schlussfolgerung für die beiden Beispiele einer dogmatischen Grenze dienen, die ich eben angeführt habe. Ich kenne kein einziges Beispiel, das uns zwingen würde, diese Grenze im Hinblick auf eine durch die Wissenschaft aufgestellte Tatsache in Abrede zu stellen. Ich wäre dankbar, wenn mir jemand auch nur ein Beispiel nennen könnte.

Ich habe mich bisher auf die Exegese des Neuen Testamentes beschränkt. Ich habe unseren Blick nicht auf die Geschichte seiner Schriften gerichtet. Jetzt zum Schluss scheint es mir gut, einen Blick auf diese Geschichte zu werfen. Es handelt sich immer dabei um die dogmatische Grenze für das Bibelstudium. Aber diesmal genauer um die Geschichte der Bücher, die die Bibel bilden. Diese Grenze wird durch die Kenntnis des Kanons der Bibel aufgerichtet, insbesondere in unserem Fall des Kanons des Neuen Testamentes. Es ist schon gesagt worden, dass es eine formelle Definition des Inhaltes des Kanons des Neuen Testamentes, die etwa der des Konzils von Trient und des Vatikanums entsprechen würde, in der orthodoxen Kirche nicht gibt. Jedoch macht der unausgesprochene "Konsensus" des orthodoxen Bewusstseins für einen orthodoxen Christen den Inhalt des Kanons ebenso unantastbar wie für einen Katholiken. Man weiß wohl, dass Luther im Jakobusbrief eine "stroherne Epistel" sah, die nicht unter die Bücher der Heiligen Schriften gezählt werden sollte. Ein solches Vorgehen wäre einem Orthodoxen nicht gestattet. Um es noch einmal zu sagen, es gibt für ihn eine dogmatische Grenze, die zu überschreiten er nicht berechtigt ist.

Aber der Begriff des Kanons setzt nicht nur eine bestimmte Anzahl Heiliger Schriften voraus, sondern auch die Abfassung derselben durch inspirierte Verfasser. Wir kehren zu der gottmenschlichen Natur der Inspiration zurück. Wenn das Dogma der Inspiration das Zusammenwirken des göttlichen und des menschlichen Elementes behauptet, so ist es uns keineswegs [S. 35] gestattet, das Letztere als eine reine Abstraktion zu interpretieren, ganz im Gegenteil, soweit es sich um einen inspirierten Verfasser handelt, kann doch nur von einer ganz konkreten Persönlichkeit die Rede sein, die der Geschichte angehört und sich in den absolut individuellen Gegebenheiten von Raum und Zeit manifestiert. Ein Urteil über die menschliche Beurteilung der Verfasser der inspirierten Schriften ist also in der Lehre von der Inspiration mit enthalten. Es ist, genau gesprochen, das menschliche Bemühen dieser Schriftsteller, das sein Siegel, das gleichsam ein individuelles ist, auf die inspirierten Bücher setzt und die Unvollkommenheiten und Irrtümer, von denen die Rede war, unvermeidlich macht.

Die Namen dieser Schriftsteller werden durch die Tradition bezeugt, die für die Titel der Heiligen Schriften verantwortlich ist. In dieser Bezeugung ist der Anteil der Tradition nicht immer der gleiche. Manchmal bezeugt der Titel nur das Zeugnis der betreffenden Urkunden. Das trifft auf die dreizehn Briefe des Ap. Paulus und auf die beiden Briefe des hl. Petrus zu. Die erste christliche Generation kannte nur einen einzigen Paulus und einen einzigen Petrus. Ihre Namen finden sich im Texte der Briefe selbst, und die Überlieferung, die diese Namen in die Überschriften setzte, bekräftigte damit nur die Behauptung dieser Briefe. Sie versicherte ihre Authentizität. In anderen Fällen handelt es sich um einen Kommentar. Es gab mehr als einen Jakobus und mehr als einen Judas in der ersten christlichen Generation. Und so sind es gerade die alten Väter der Kirche, die uns sagen, welcher Jakobus und welcher Judas die Verfasser dieser beiden katholischen Briefe gewesen, die diese beiden Namen tragen. Das gleiche gilt für Johannes. Der Name war sehr verbreitet. Es ist wahrscheinlich, dass es sogar in Ephesus zwei Träger Namens Johannes gab. Wenn der Seher der Apokalypse sich Johannes nannte (1,1.4), so ist das stets das Zeugnis der Tradition, das uns gestattet, ja das uns nötigt, ihn mit dem Sohn des Zebedäus zu identifizieren. Es ist auch noch die Tradition, die uns sagt, dass dieser selbe Verfasser den Namen "Der Älteste" in den beiden kleinen Briefen angenommen hat, die in unserem Kanon den Namen des Johannes tragen. Die Tradition lässt uns auch die Namen der Verfasser der Evangelien, der Ap. Geschichte, des Ersten Briefes des Johannes und des Hebräerbriefes wissen. Im Texte dieser Schriften kommen die Namen nicht vor. Die Überschriften aber, die wir haben, gehen auf die Tradition zurück. Was den Hebräerbrief anbelangt, so macht uns die Tradition nicht nur den Absender, sondern auch die Empfänger des Briefes bekannt, ohne jedesmal genau zu sagen. wer diese "Hebräer" sind oder wo sie sich befinden. Es ist uns nicht gestattet, dieses Zeugnis der Tradition, das sich in den Titeln der neutestamentlichen Schriften ausdrückt, zu verwerfen.

Aber dieses Zeugnis gibt und fordert sogar häufig eine Auslegung, z.B.: Ist die Rolle des hl. Paulus bei der Abfassung des Hebr.-Briefes die gleiche wie bei den anderen Briefen, die seinen Namen tragen? Das ist sehr wenig wahrscheinlich. Die Analyse des Briefes und die Zeugnisse des christlichen Altertums fordern dies keineswegs. Aber die erste Person singularis, die von 13,18 an erscheint und bis zum Schluss des Briefes nicht wieder verschwindet, ist sicher die des hl. Paulus. man fragt sich, ob er sich nicht unter den italischen Christen befindet (vgl. 13,24), die die verantwortlichen Absender des Briefes [S. 36] wären und diese Verantwortlichkeit durch den Gebrauch der ersten Person pluralis kenntlich gemacht haben würden, wie man sie auch durch den ganzen Brief hindurch feststellen kann19).

Ist der zweite Petrusbrief von dem Apostel verfasst in seiner jetzigen Form, oder war es ein authentischer Brief Petri, der von Judas umgearbeitet wurde, und der Brief des letzteren von dem endgültigen Redaktor der heutigen Secunda Petri benutzt wurde? Diese Deutung, welche ihren Petrinischen Ursprung aufrechterhält, würde als solche der Tradition nicht widersprechen.

Endlich gestattet die Theorie von Roller über "Das Formular der Paulinischen Briefe"20), die Authenzität des ganzen Corpus Paulinum zu verteidigen, wenn man nämlich die Komposition der Briefe im Lichte der antiken Epistolographie sieht. Ja, der hl. Paulus hat seine Briefe so verfasst, wie man im Altertum verfahren ist. Diese Art ist von der unsrigen verschieden. Um es noch einmal zu sagen, es handelt sich um eine Auslegung, die uns nicht immer vertraut ist, aber sie unterstützt die Tradition.

Man könnte noch andere Beispiele geben. Der orthodoxe Historiker hat nicht das Recht, das Zeugnis der Tradition zu verwerfen. Aber er hat das Recht und sogar die Pflicht, sie dort auszulegen, wo das Zeugnis dunkel ist, oder den Historiker in Widersprüche verwickelt. Um es noch einmal zu sagen, ich kenne keinen Fall, wo das Zeugnis der Tradition, ausgelegt oder nicht, weniger wahrscheinlich ist als die liberalen Theorien, die ihm entgegengesetzt werden. Diese dogmatische Grenze für die historische Forschung der Bücher des Neuen Testamentes scheint mir ebenso unverletzlich wie die für die Exegese bestehende, von der soeben die Rede war.

Innerhalb dieser Grenzen hat sich der orthodoxe Historiker zu bemühen, die Geschichte der Abfassung der siebenundzwanzig Bücher, die das Neue Testament enthält, zu rekonstruieren. Der Weg, den er dabei verfolgt, kann in großen Linien konstruiert werden. Die Tradition gibt ihm die Namen der Heiligen Schriftsteller, aber sie sagt nichts weiteres. Nichtsdestoweniger bildet die Kenntnis der Namen den Ausgangspunkt für ein historisches Studium, das nun seinem Weg folgt. Das erste Erfordernis eines solchen Studiums ist es, sich eine Arbeitshypothese zu bilden. Es handelt sich um den Ursprung eines jeden der Bücher des Neuen Testamentes. Die Arbeitshypothese antwortet auf diese Frage zunächst nur vorläufig. Wie in jeder anderen historischen Wissenschaft ist diese Hypothese mit Hilfe des Materials, über das der Historiker verfügt, gebildet worden. Er versucht nun, wo er kann, Informationen über den Autor zu gewinnen, dessen Name durch die Tradition bezeugt ist. Er bemüht sich, durch Intuition sich eine allgemeine Vorstellung vor dem Buche, das er studiert, zu bilden. Nachdem er sich diese Arbeitshypothese gebildet hat, wendet sich der Historiker dem Buche selbst zu. Das ist die Erprobung der Hypothese, ihr Beweis. Der Historiker muss sich fragen, ob seine Hypothese ihm eine hinreichende Erklärung des Buches gibt, und zwar sowohl in bezug auf das Ganze als auch hinsichtlich seiner einzelnen Züge. Wenn das Resultat positiv ist, wird die bewiesene Hypothese eine historische Wahrheit. Sie geht in den wissenschaftlichen Gebrauch über. Diese Art des Vorgehens ist jeder historischen Forschung gemein. Was sie von dieser unterscheidet, und was ihre Besonderheit ausmacht, ist, dass sie, soweit es sich um die Bücher des Neuen Testamentes handelt, durch die Lehre von der [S. 37] Inspiration gestützt wird, so wie wir diese verstanden haben. Es nimmt seinen Ausgangspunkt in dem Zeugnis der Tradition über die Verfasser der Heiligen Schriften, welches den Begriff der Inspiration voraussetzt. So ist es immer die Tatsache der Inspiration, die eine dogmatische Grenze bezeichnet, die die historische Wissenschaft zu überschreiten keinesfalls berechtigt ist.

Diese Überlegungen lassen uns noch einmal zu dem Problem der Exegese zurückkehren. Es ist vielleicht nützlich, zum Abschluss einige Beispiele für eine neutestamentliche Exegese zu geben, die sich bewusst oder unbewusst von den Grundsätzen, von denen wir eben gesprochen haben, anregen lässt. Die Beispiele ließen sich unbegrenzt vermehren. Ich werde mich auf drei beschränken, die die Perspektiven deutlich machen, die sich für eine orthodoxe Exegese auftun.

Mein erstes Beispiel wird das Fragment Matth. 1f sein. Hier ist von der Geburt Jesu die Rede. Aber man muss sich fragen, ob dieses Fragment als eine Einheit betrachtet werden kann, und wenn ja, wodurch diese Einheit konstituiert wird. Das Thema ist durch die Genealogie (l,1-17) gegeben. Das Band, das Jesus mit der königlichen Linie von David verbindet, ist Joseph, aber Joseph ist nicht sein Vater dem Fleische nach (vgl. 1,18 ff.). Die These, die also bewiesen werden musste, ist die Vaterschaft von Joseph trotz der Jungfrauengeburt. In der Tat, das ganze Fragment steht unter dem Zeichen von Joseph. Vom rein literarischen Gesichtspunkte aus gesehen, ist diese Beobachtung unwiderleglich. Sie stellt die Einheit des Fragmentes her, ja noch mehr, dass der Akzent auf Joseph gesetzt wird, entspricht dem jüdischen Charakter, der dem ersten Evangelium eigen ist. So wird der Leser schon von Anfang des Buches an in die judenchristliche Vorstellungswelt eingeführt, die einen der Pole des apostolischen Christentums und der neutestamentlichen Offenbarung bildet. Diese Analyse lässt sich bis in die Einzelheiten hin verfolgen. Aber der orthodoxe Exeget kann den Vers 1,25 nicht in dem Sinne interpretieren, dass nach der wunderbaren Geburt des ersten Sohnes Joseph und Maria noch andere Kinder hatten, die auf natürliche Weise empfangen sind. Der Buchstabe fordert es keineswegs, und die dogmatische Grenze untersagt es.

Das zweite Beispiel für die orthodoxe Exegese, das ich gern behandeln möchte, ist die Analyse des Vaterunsers in der Form, wie es das Matth. Evangelium darbietet (6,9-13). Ich habe diese Analyse in einem Artikel im Jahre 1951 gegeben21), dabei von der Beobachtung ausgehend, dass das Gebet des Herrn in dieser Form einen Chiasmus von je drei Gliedern darbietet, und zwar sowohl in seinem aufsteigenden Teile (Bitten 1 bis 3), als auch in seinem absteigenden (Bitten 5 bis 7), die durch die Bitte 4 verbunden sind, die in der Mitte der beiden Teile steht, bin ich dazu gekommen, das ganze Gebet als ein eucharistisches Gebet aufzufassen. Die Argumentation kann diskutiert werden, doch würde sie, wenn man sie anerkennt, die interessanten Schlussfolgerungen rechtfertigen, die man in bezug auf die Anfänge des christlichen Gottesdienstes und der ursprünglichen kirchlichen Lehre aufstellen kann. Sie würde durch ein ganz objektives Studium begründet werden und keineswegs zur Tradition der Kirche im Widerspruch stehen.

Das letzte Beispiel ist ein Versuch, den ich in einer Arbeit unternommen habe, die noch nicht veröffentlicht worden ist. Ausgehend von dem dreifachen [S. 38] Zeugnis im Ersten Joh.-Brief 5,6 versuche ich wahrscheinlich zu machen, dass auch das ganze vierte Evangelium sich in drei Teile zerlegen lässt, die nacheinander der göttlichen Bezeugung durch das Wasser (1 bis 10), durch das Blut (11,1-20,8) und durch den Geist (20,9 bis zum Schluss des Buches) entsprechen. Ohne andere, schon vorgeschlagene und mehr oder weniger allgemein angenommene Teilungen auszuschließen, würde die von mir in Vorschlag gebrachte dreifache Teilung eine Gesamtschau der Johanneischen Theologie geben, die bisher unbeachtet geblieben ist. Sie würde aber vollkommen mit der dogmatischen Lehre der Kirche übereinstimmen. Sie würde auch in diesem Falle das Ergebnis einer ganz objektiven Forschung sein, ohne dass es nötig wäre, ihr eine dogmatische Grenze entgegenzusetzen.

Wir sind am Ende unserer Untersuchung. Ich hatte Gelegenheit, in dieser Darlegung über Fragen zu sprechen, die zur Debatte stehen, und zwar zu Zuhörern, die ebensowohl katholisch als auch orthodox sind. Ihre Reaktion war eher negativ. Das ist nicht erstaunlich, wenn es von seiten der katholischen Theologen kommt, die ihre eigene Lehre von der Inspiration haben23). Ich bin mir aber vollkommen klar darüber, dass gewisse Punkte meines Exposés auch für die Protestanten unhaltbar sind. Aber was die orthodoxe Reaktion anbelangt, so verstehe ich sie vielmehr als den Ausdruck ihres Konservativismus, von dem schon die Rede war. Soweit ich weiß, ist die These, die ich vorgetragen habe, noch nicht von einem orthodoxen Theologen verteidigt worden, und ihre Neuartigkeit könnte in Schrecken versetzen. Nichtsdestoweniger bin ich zutiefst davon überzeugt, dass sie dem Geiste der Orthodoxie entspricht, soweit dieser seinen dogmatischen Ausdruck in dem Bekenntnis von Chalcedon gefunden hat. Meiner Meinung nach ist diese These die einzige, die innerhalb des orthodoxen Systems der dogmatischen Theologie verteidigt werden und in der Praxis auf das Studium des Neuen Testamentes von einem orthodoxen Exegesen angewandt werden kann.

Aus: Kyrios 1960/61, S. 22-39.

Anmerkungen

1) Vorstehender Beitrag ist ein Vortrag, der im Dezember 1955 an der Freien Fakultät für protestantische Theologie in Paris gehalten wurde. Die Arbeit wurde zum ersten Male in der von der Fakultät herausgegebenen Zeitschrift Bulletin de la faculté libre de Théologie Protestante de Paris, XlXe Année; (1956, Seite 29 bis 44) veröffentlicht.

2) Vgl. Bischof Theophanos [Feofan] der Einsiedler, Kommentar zum II. Korintherbrief. 2. Ausgabe Moskau 1894 (Russisch), Seite 63, vgl. Seite 263. – Die Heilige Schrift mit Erläuterungen, hrsg. von den Nachfolgern von Lopoukhine, Bd. XI, St. Petersburg 1913 (Russisch), Seite 139 und Seite 158.

3) Vgl. St. Joh. Chrysostomos, Homilie über II. Kor. 4,3; 15,2.

4) Vgl. D.Bogdaschewsky, der Kanon des Neuen Testamentes in: Enzyklopädie der Orthodoxen Theologie, Bd. VII, St. Petersburg, 1907 (Russisch), Sp. 294ff.

5). Eine zu allen in Frage stehenden Punkten abweichende Meinung, die ich in meinem Buche zu erweisen versuche: Christus und die erste christliche Generation (Paris 1950, Russisch), stellt eine Ausnahme in der orthodoxen theologischen Lieratur dar.

6) Vgl. z.B. die Artikel von Alexejew und von Iwanow im Journal des Moskauer Patriarchats (Russisch 1954, 2 und 1954, 2.3.4.5; 1956.3)

[S. 39] 7) Vgl. Cornely und Merk, Manuel de l’Introduction à toutes les Saintes Ecritures, französische Übersetzung von P.Mazoyer, Nouveau Testament, 2e édition, Paris 1930, S. 502-517)

8) Vgl. insbesondere: "Die Evangelisten als Historiker" in: "Orthodoxer Gedanke", Arbeiten aus dem Institut für orthodoxe Theologie in Paris, Heft 1, 1928 (Russisch) und ferner, "L'Eglise du Christ et la paròle de Dieu", in: Die Kirche Jesu Christi und das Wort Gottes. Ein Studienbuch über das Wort als Lebensgrund und Lebensform der Kirche, herausgegeben von W.Zöllner und W.Stählin, Berlin 1937, S. 61-67. – Introduction spéciale au Nouveau Testament (remarques de Méthodologie)" in: Procès-Verbaux du Premier Congrès de Théologie Orthodoxe à Athènes, 1936, Athen 1939, S. 185-193.

9) Vgl. A.Jaubert, « La date de la dernière Céne, » in : « Revue de l’Histoire des Religions », 146, 1954, pp. 140-173.

10) Vgl. Theophanos, Kommentar zum 1. Thess., 2. Aufl. Moskau 1895 (Russisch, Seite 353) – Dgl. Kommentar zum 1. Kor., 2. Aufl. Moskau 1893, S. 599.

11) Vgl. Buzy in: "La Sainte Bible" von Pirot-Clamer, Bd. XIII, Paris 1946, S. 160f. und den offiziellen Teil bei Cornely u. Merk, a.a.O., S. 517.

12) Zur Geschichte der Idee der Inspiration, vgl. die Artikel "Inspiration de l’Ecriture", in: "Dictionnaire de Théologie Catholique", VII, 2, (1923, Sp. 2068 ff.) und "Inspiration" in: "Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche", 3. Auflage IX (1901, S. 183 ff.).

13) Vgl. Cyrill von Alexandrien, In Joh. IX, PG 74, 261, und XI, ebd., 453 f.

14) Vgl. z.B. Heitmüller in: "Schriften des Neuen Testamentes, neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt", Bd. IV, 3. Auflage 1918, S. 151 f.; 160 f.

15) Vgl. auch mein Buch: "La Pentecôte Johannique (Joh. 20,19-23), Valence-sur-Rhône 1939, und P.N.Trembelas, Athen 1954, S. 522, 524, 572.

16) R.Bultmann, "Das Evangelium des Joh.", in: Meyers Exegetischer Kommentar, II, 13. Aufl. 1953.

17) The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge, 1953.

18) Vgl. Basilius von Cäsarea, Contra Eun. I,25 (PG 29, 568). – Gregor von Nazianz, oratio I. 15, II. 7 (PG 36,93); oratio 30,7 (ebd. 112 f.). Johannes Chrysostomos, In Joh. hom. 75, 4 (PG 59,408).

19) Vgl. meinen Aufsatz: "Das Testament des Judenchristentums" in: La Pensée Orthodoxe", Heft II, Paris 1930 (Russisch), § IV.

20) O.Roller: "Das Formular der Paulinischen Briefe. Ein Beitrag zur Lehre vom antiken Brief", Stuttgart, 1933.

21) Vgl. meinen Aufsatz: « Sur la question de la structure de l'Oraison Dominicale », in: « La Pensée Orthodoxe », Heft VIII, Paris 1951 (vgl. einen früheren Aufsatz : « Sur l’Oraison Dominicale » ebd. ,Heft 7, 1949, beide Artikel in Russisch).

22) "Durch Wasser, Blut und Geist (zur Interpretation des Joh. Evangeliums)", Paris 1946 (Russisch).

23) Vgl. Cornely und Merk: "Inspiration Divine des Saintes Ecritures", a.a.O., S. 439f., und für das einzelne: "Dictionnaire de Théologie Catholique", a.a.O.

Literaturhinweise (H.M.Knechten)

Hauptseite