Die Lehre der Starzen vom Jesusgebet

Heinrich Michael Knechten

 

Der hl. Serafim von Sarov beim Gebet auf dem Stein

 

 

Ein Bruder wird von seinen Gedanken bedrängt und fragt um Rat. Einer der Wüstenväter antwortet: "Beobachte die Gedanken. Jedes Mal, wenn sie beginnen, dir etwas zu sagen, antworte ihnen nicht, sondern erhebe dich, mache eine Verneigung und bete: Sohn Gottes, erbarme Dich meiner" (Apophthegmata Patrum, Systematische Sammlung V,37). Der Ursprung des Jesusgebets ist also, wie dieses alte Wort zeigt, im Zusammenhang mit dem geistlichen Kampf zu suchen.

 

Dorotheos von Gaza hat seinem Schüler Dositheos übergeben, stets zu sprechen: "Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner" und dazwischen: "Sohn Gottes, erbarme Dich meiner". Um 550 nach Christus ist der ganze Wortlaut des Jesusgebets bekannt, der allerdings in zwei Hälften gesprochen wird. Wichtig ist der Hinweis, dass dies "stets" zu geschehen hat. Es ist also nicht mehr ein Gebet, das nur gesprochen wird, wenn der Mensch in Schwierigkeiten ist, sondern es soll unablässig geschehen.

 

Johannes Klimakos rät, mit dem Gedenken des Todes und dem Einwort-Jesusgebet (monologistos Iesou euche) abends einzuschlafen und morgens wieder aufzuwachen. Wer das Gedenken Jesu mit dem Atem eins werden lässt, wird den Nutzen der Hesychia (Ruhe) kennenlernen. – Spätestens um 650 nach Christus ist im Zusammenhang mit dem Gebet vom Atem die Rede.

 

Der Wortlaut gemäß russischer Überlieferung

 

"Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner des Sünders." In der griechischen Bibel ist Herr die häufigste Bezeichnung für Gott. Wer sich der Herrschaft Gottes unterwirft, wird frei von der Abhängigkeit von Neid, Eifersucht, Kritiksucht, üble Nachrede, Bosheit, Groll, Zorn, Begierde, Genusssucht, Habsucht, Ehrsucht, Hochmut, Trägheit und Angst. Es gibt Menschen, die meinen, von all dem frei zu sein. Allerdings nehmen sie bei anderen diese Fehler deutlich wahr. Der Weg des Gebets hingegen öffnet die Augen für die eigenen Fehler, Vergehen, Nachlässigkeiten und Sünden.

 

Jesus bedeutet Erlöser, Retter, Befreier. Er allein kann dem Menschen helfen, frei zu werden, wenn dieser bereit ist, an sich zu arbeiten. Christus bedeutet Gesalbter, Messias. Er hat den Menschen erlöst, Er ruft ihn im Tod zu sich, Er erscheint am Jüngsten Tag, an dem alles offenbar wird, was bisher verborgen war. Er ist der Sohn Gottes. Der Vater hat Ihm das Gericht übergeben, die Vollmacht, alles in Seinem Namen zu tun.

 

Aus der Heiligen Schrift

 

Das Jesusgebet geht auf Worte der Heiligen Schrift zurück. "Niemand kann sagen: Herr ist Jesus, außer im Heiligen Geist" (1 Kor 12,3). Der Heilige Geist ist in diesem Gebet gegenwärtig. Petrus bekennt: "Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes" (Mt 16,16). Der erste Teil des Jesusgebets ist ein Glaubensbekenntnis sowie Lob Gottes und Dank.

 

Ein blinder Bettler ruft in der Nähe von Jericho: "Jesus, Du Sohn Davids, erbarme dich meiner" (Lk 18,38). Der Zöllner wagt nicht, seine Augen zum Himmel zu erheben, schlägt an seine Brust und sagt: "Gott, sei mir Sünder gnädig" (Lk 18,13). In innerer und äußerer Not ruft der Mensch im zweiten Teil des Jesusgebets um Hilfe und bekennt seine Schuld. Der Zusatz "des Sünders" wird erstmals von Nil Sorskij († 1508) bezeugt. Im 19. Jahrhundert findet sich in Briefen der Starzen von Optina Makarij (Ivanov), Amvrosij (Grenkov) und Anatolij (Zercalov) die adaptierte Fassung "der Sünderin". Amvrosij teilt auch den abgeänderten Wortlaut mit: "erbarme dich unser der Sünder".

 

Der Beginn

 

Das Gebet wird zunächst mündlich gesprochen. Wer allein ist, kann es hörbar beten. In der Heiligen Schrift finden sich unterschiedliche Körperhaltungen beim Gebet: Stehen, Knien, Liegen, Sitzen, Gehen. Dementsprechend kann auch das Jesusgebet in der Haltung geübt werden, die sich aus den jeweiligen Lebensumständen ergibt.

 

Wenn ablenkende Gedanken kommen, wird das Gebet ruhig wiederholt. Es ist wichtig, nicht gegen die Gedanken selbst zu kämpfen, sondern dem Herrn das Gebet zu übergeben. Geduld und Ausdauer sind notwendig, wenn der Friede nicht gleich eintritt. Die Welt kann diesen Frieden nicht geben (vgl. Joh 14,27).

 

Es gibt zahlreiche Missverständnisse; daher muss gesagt werden, was das Gebet nicht ist. Es ist kein Denkvorgang, keine intellektuelle Anstrengung oder gar Gedankenspielerei. Es ist keine Selbsthypnose. Es ist kein Talisman, der Glück bringt und vor allen Gefahren schützt. Es ist kein Mechanismus, der nach einer genau kalkulierbaren Zeit zum Erfolg führt.

 

Manche Menschen interessieren sich brennend für höhere Gebetsstufen, für das Herzensgebet und für das geistgewirkte Gebet. Sie sind aber nicht in der Lage, stillzusitzen und sich eine Zeitlang mit Hingabe dem mündlichen Gebet zu widmen. Sie können Kränkungen nicht verzeihen und kreisen nur um sich selbst. Sie wollen den hundertsten Schritt im Gebet vor dem ersten tun.

 

Beten bedeutet, sich der Hand Gottes zu überlassen (vgl. Ps 30,6 Septuaginta). Er entscheidet, wie der Weg des Gebets verläuft. Wenn es viele Jahre dauert, bis sich Ruhe und Friede einstellen, ist dies Seine Sache. Der Mensch sollte allerdings dafür sorgen, soweit dies in seiner Verfügung steht, sein Leben so zu gestalten, dass das Gebet im Mittelpunkt steht. Dies bedeutet nicht unbedingt, einen großen Teil des Tages dem Gebet zu widmen. Den meisten Menschen ist dies ja gar nicht möglich. Im Laufe des Tages kann immer wieder das Jesusgebet gesprochen werden. Dies erinnert an den Ursprung und das Ziel des Menschen: Er geht von Gott aus und kehrt zu Ihm zurück. Dann wird auch der Alltag mehr und mehr vom Gebet geprägt.

 

Kirche

 

Wer betet, wird bald auf Schwierigkeiten treffen, die er allein nicht lösen kann. Hier sind der Rat und die Führung Erfahrener notwendig. Wer niemanden findet, mit dem sich über diese Situation sprechen lässt, sollte Bücher lesen, in denen von der Kirche und vom Gebet die Rede ist. Wer nie oder nur selten zur Kirche geht, wird auch nicht im Gebet vorwärtskommen. Gott ist keine unpersönliche Energie. Notwendig sind geistliche Lesung (Heilige Schrift, geistliche Werke), das gemeinsame liturgische Gebet, der Empfang der Heiligen Sakramente und der Versuch, mit Gottes Hilfe Fehler zu verbessern.

 

Hesychia

 

Bei der Hesychia geht es nicht um Apathie oder Quietismus. Vielmehr ist es ein Hinhören auf Gott. Der Mensch trägt Ihm nicht kluge Gedanken vor, sondern wird still vor Ihm. Er hört auf, sich mit den Fehlern anderer Menschen oder mit seinen eigenen Problemen zu beschäftigen und öffnet sich Gott. Er tut nicht tausend Dinge gleichzeitig, sondern wird aufmerksam auf das, was Gott mit ihm und mit anderen vorhat. Er ist nicht überschwänglich; denn er weiß um seine Schwächen. Er ist aber auch nicht verzagt; denn er vertraut darauf, dass Gott es gut meint.

 

Glaube an die Allmacht Gottes

 

Manche meinen aber, Gebet sei Zeitverschwendung. In einer Notsituation sagen sie: Da hilft nur noch Beten! Damit wollen sie ausdrücken, dass jetzt keinerlei Hoffnung mehr besteht. Andere fürchten, wenn sie sich auf Gott einlassen, auf vieles verzichten zu müssen, was ihnen für ihr Wohlbefinden notwendig erscheint. Sie sehen den Weg des Glaubens als Verlust an Menschlichkeit.

 

Beten bedeutet aber, mit Gott in Verbindung zu treten. Was Menschen unmöglich ist, das ist Gott möglich (vgl. Lk 18,27). Ihm kann man übermäßige Sorgen anvertrauen und ruhig das tun, was jetzt möglich ist. Es ist Gottes Sache, alles zu schenken, was zur Führung eines christlichen Lebens notwendig ist. Durch die Befreiung von der Selbstsucht wird der Mensch fähig, seinem Nächsten zu dienen. Er findet Frieden, den der Heilige Geist denen schenkt, die Ihn wirken lassen.

 

Quellen

 

 

Weiterführende Literatur

 

 

Jesusgebet (Wikipedia)

 

D.Tibi, Einführung zum Jesusgebet

 

A.S.Rossi, Jesus Prayer

 

Prière de Jésus

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