Russisch-orthodoxe
Spiritualität und indische Weisheit
Klaus Bambauer
Es ist erstaunlich zu bemerken, welche Konvergenzen es bis in den Sprachgebrauch und natürlich damit in den Inhalt hinein zwischen russisch-orthodoxer Spiritualität und indischer Weisheit bzw. Geistigkeit gibt. Dies ist eine Tatsache, die m.E. noch relativ unbemerkt geblieben ist, da man die recht divergenten oder auch unbekannten Quellen kaum verglichen hat. Mit einigen ausgewählten Textstellen können die Übereinstimmungen vorzüglich belegt werden.
Im Kapitel "Von der Einheit der geistigen Welt" schreibt der Interpret des berühmten Athosmönches Starez Siluan (1866-1938), Archimandrit Sophronij: "Das Leben der geistigen Welt sah der Starez als eine untrennbare Einheit. Jedes geistige Geschehen wirkt sich unvermeidlich auf die ganze geistige Welt aus".1) An anderer Stelle beschreibt Archimandrit Sophronij die auf dem spirituellen Wege neu entdeckte bzw. dem Starez geschenkte Struktur des Bewußtseins, das "Überbewußtsein", und ergänzt: "Doch ist dieses Wort allein nicht verständlich und besagt auch nichts weiter als eine Beziehung zwischen unserem reflexiven Bewußtsein und dem, was jenseits von dessen Grenzen liegt".2)
"Der Mensch, der 'im Fleisch in der Welt lebt', wird vor allem die Erfahrung seiner begrenzten Individualität machen. Das Erwachen einer neuen Dimension des Bewußtseins [wir könnten es an dieser Stelle auch das 'Überbewußtsein' nennen] wird er als 'Geburt von oben' (Joh 3,3) erleben, durch die sein Gebet die Grenzen des Materiellen und Zeitlichen überschreitet. Dann wird er mit Macht fühlen, daß er in die göttliche Ewigkeit aufgenommen ist".3) Von großer Bedeutung ist die von der orthodoxen Tradition betonte Tatsache, daß es eine ontologische Verbindung oder die Wesenseinheit aller Menschen gibt. Dies können wir mit folgendem Zitat belegen: "denn der 'ganze Adam' ist die konkreteste Fülle des menschlichen Seins überhaupt. Durch den ontologischen Zusammenhang der Menschheit bereitet jeder Mensch, der das Böse in sich überwindet, dem kosmischen Bösen eine gewaltige Niederlage, deren Folgen sich heilsam auf das Schicksal der ganzen Welt auswirken. Andererseits ist die Natur des kosmischen Bösen von solcher Art, daß, wenn es durch bestimmte menschliche Hypostasen (Personen) eine Niederlage erleidet, dies von einer Bedeutung und einer Größenordnung ist, die in keinem Verhältnis zu der Zahl dieser Personen steht".4)
Wir gehen also nach orthodoxer Lehre davon aus, daß es ursprünglich eine Einheit zwischen Gott und Mensch gab, die von Adam zerstört wurde. Mit Starez Siluan, dem wir später ähnliche Zeugnisse von Aurobindo zur Seite stellen können, halten wir fest: "Dem nicht-spirituellen Menschen erscheint es unglaublich, daß man die Menschheit in ihrer Fülle als eine integrale Existenz empfinden kann, eingeschlossen in die persönliche Existenz eines jeden Menschen, ohne daß man jedoch damit die Andersartigkeit der anderen menschlichen Hypostasen aufheben würde. Aber nach dem Sinn des Gebots Christi "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", kann und soll man die ganze menschliche Welt als einheitliches Sein auffassen, und in das persönliche Sein einschließen. Alles Böse, das in der Welt geschieht, werden wir dann nicht nur als etwas Fremdes, sondern auch als unser Eigenes empfinden. In ähnlicher Weise konnte auch der Apostel Paulus im Römerbrief Kap. 5,12ff. die ontologische Wesenseinheit aller Menschen in Adam bzw. in Christus, dem neuen Adam begründet sehen.
Wenn jede menschliche Person (Hypostase), die nach dem Bild der absoluten göttlichen Hypostase geschaffen ist, die Fähigkeit hat, die ganze Fülle der menschlichen Existenz in sich zu enthalten, wie jede der göttlichen Hypostasen Trägerin der ganzen Fülle des göttlichen Seins ist – und darin liegt der tiefere Sinn des zweiten Gebots, – dann wird jeder von uns den Kampf gegen das Böse, gegen das kosmische Böse, aufnehmen, und er wird damit bei sich selbst beginnen".5)
Die Liebe Christi führte zu dieser ontologischen Einheit "als Gabe des einen Heiligen Geistes, der in allem wirkt" (S. 124). "Wer Gott liebt, wird in das Leben Gottes eingeschlossen, wer den Bruder liebt, schließt dessen Leben in sein persönliches Leben ein, wer die ganze Menschheit liebt, umfängt mit seinem Geist die ganze Welt".6)
An dieser Stelle sei bewußt auf die johanneischen ICH BIN-Worte Jesu Christi hingewiesen, in denen wir das göttliche ICH BIN der Selbstvorstellung Gottes aus Ex 3,14 erkennen. Erst dieses ICH BIN, in das unser kleines menschliches Ich-bin eingeschlossen ist, führt zur erwähnten Erkenntnis der ontologischen Verbundenheit unseres Seins mit dem Sein der Menschheit, m.a.W. wer in dieser ontologischen Gemeinschaft mit Christus lebt, dessen kleines (individuelles) Ich-bin weiß sich vom ICH BIN aufgenommen. Ein ähnlicher Gedanke ließe sich aus philosophischen Überlegungen ableiten, in denen z.B. die spirituelle Wesenseinheit in der Idee des empirischen und des transzendentalen Ich in Kants Kritik der reinen Vernunft eine gewisse Entsprechung fände. Diese obigen theologisch-philosophischen Überlegungen fänden ihre Parallelen in Deutungskategorien analytischer Psychologie, wo – mit C.G. Jung – die psychische Ganzheit des Menschen, die dem Selbst-Symbol Christi bzw. seinem ICH BIN entspricht, darin aufgehoben wird bzw. sich darin wiederfindet, an diesem Prozeß der Sohnschaft teilnimmt und ihn durchläuft. Dieser Prozeß ist das Ergebnis der sich herabneigenden Liebe Gottes, die den Menschen in der Gestalt Christi am ewigen ICH BIN teilhaben läßt.
Das Ergebnis dieser umfassenden Liebe ergibt: "Das gewaltige Gebet für die Welt, das der selige Starez Siluan betete, führt zu der Erkenntnis ontologischer Verbundenheit unseres eigenen Seins mit dem Sein der ganzen Menschheit."7) Es ist also mit Starez Siluan so zu sehen, daß unsere sinnliche Wahrnehmung "nicht nur ein subjektives psychologisches Handeln ist, abgetrennt von der objektiven Existenz der Sache selbst, sondern daß diese Sache selbst [philosophisch gesehen: ganz wie im Sinne des Hegelschen objektiven Idealismus] durch ihre tatsächliche, wirkliche Aktivität in unser Bewußtsein dringt, wodurch sich ein ontologischer Kontakt schließt, um wieviel mehr muß man dann von einer ontologischen Gemeinschaft sprechen, wo die göttliche und allgegenwärtige Gnade des Heiligen Geistes handelt, des Schöpfers aller Dinge".8)
Wollen wir die tiefen spirituellen Einsichten des Starez näher für unser Thema – die ontologische Wesenseinheit – fruchtbar machen, so fügen wir noch die Bemerkungen seines Interpreten an: "Durch die ihm zuteil gewordene Erkenntnis Christi belehrt, sah der Starez das im Menschen verborgene Ebenbild Gottes. Für ihn waren alle Menschen zu Kindern Gottes und Trägern des Heiligen Geistes berufen. Der Heilige Geist, Geist und Licht der Wahrheit, lebt bis zu einem gewissen Grad in jedem menschlichen Wesen und erleuchtet es. Wer in der Gnade verbleibt, sieht sie auch in den anderen".9)
So sah es Starez Siluan auch als unzweifelbar erwiesen an, daß dank der ontologischen Einheit des Menschengeschlechts das göttliche Wort eine neue Erfahrung in der menschlichen Seele hervorrufen und dadurch in ihr neues Leben erwecken konnte: "Und wenn das schon in unseren menschlichen Beziehungen so ist, wieviel mehr dann, wenn Gott selbst handelt. Ist die Seele aufnahmebereit, so bringt das göttliche Wort selbst neues Lebens, und zwar das ewige Leben, das in diesem Wort eingeschlossen ist. 'Die Worte die ich rede, sind Geist und Leben' (Joh 6, 63) [a.a.O., S. 189].
Von der ontologischen Wesenseinheit in der
orthodoxen Spiritualität
An dieser Stelle wenden wir uns dem allgemeinen Gedanken der Wesenseinheit – der hypostatischen Union – zu, wie er seit langem im orthodoxen Denken vertreten wird. Gerade auch die trinitarische Verankerung bildet die Basis für diese Wesenheit. So sei D.Staniloae zitiert: "Ein orthodoxer Theologe der Gegenwart sagt: Leontios von Jerusalem muß im Rahmen des Denkens des heiligen Kyrill [und als Nachfolger des Leontios von Byzanz] verstanden werden, wenn er von einer 'gemeinsamen Hypostase' Christi redet: eine Hypostase, die anstatt eine 'besondere', isolierte und individualisierte Hypostase in der Gesamtheit der Hypostasen zu sein, die die menschliche 'Natur' ausmachen, ist im Gegenteil der hypostatische Archetyp der gesamten Menschheit, in dem diese, und nicht bloß ein Individuum 'rekapituliert' wird, der Archetyp, in dem die Vereinigung mit Gott gefunden wird. Dieser Sachverhalt ist nur möglich, wenn die Menschheit Christi nicht die eines 'einfachen' Menschen ist, sondern eine Hypostase, die frei ist von der Begrenztheit des Geschaffenen".10)
An dieser Stelle ist eine weitere, kurze Begriffsklärung angebracht. Wie I.D.Zizioulas es darstellt, wurde in der Frühzeit des christlichen Denkens zwischen den Begriffen des Wesens als ontologischer Kategorie und der Hypostase kein entscheidender Unterschied gemacht, d.h. bei Athanasius und seinen Zeitgenossen bezeichneten ousia (=Wesen) und hypostasis genau dasselbe.11) Dennoch sollte es im Rahmen der trinitarischen Bemühungen zu einer Differenzierung kommen.
Es mußte sich eine schärfere Begriffsklärung einstellen, da der Begriff "Person" nicht ausreichend ontologisch verstanden wurde, die Bezeichnung hypostasis einen stark "thritheistischen Beiklang" hatte. Zizioulas verdeutlicht die weiteren Entscheidungen: "Bis zur Zeit der Kappadozier und ihren Bemühungen um die Trinitätslehre besagte die Gleichsetzung von ousia und hypostasis lediglich, daß die konkrete Einzelexistenz einer Sache (hypostasis) die Tatsache bezeichnet, daß etwas ist (d.h. seine ousia). Dies aber änderte sich nunmehr. Der Begriff hypostasis wurde von dem der ousia abgehoben und nunmehr mit dem Begriff Person (prosopon) gleichgesetzt. Dies aber ist ein Beziehungsbegriff, und als solcher wurde er von der trinitarischen Theologie aufgegriffen. Damit kam zum erstenmal ein Beziehungsbegriff in die Ontologie, während zugleich eine ontologische Kategorie wie hypostasis unter die Beziehungskategorien für die Existenz trat. Das Sein und das Sein in Beziehung wurden damit gleichbedeutend. Für das Sein eines Dings wurden damit zwei Dinge zugleich notwendig: Das Sein selbst (hypostasis) und das Sein in Beziehung (d.h. das Personsein). Nur in der Beziehung erscheint diese Gleichsetzung in ihrer ontologischen Bedeutung, und wenn eine Beziehung nicht eine derartige ontologisch bedeutsame Identität umschloß, konnte es keine Beziehung sein. Zweifellos handelt es sich dabei um eine Ontologie, die aus dem Sein Gottes abgeleitet ist".12) Nach diesem Exkurs zu den Begriffserklärungen wenden wir uns dem weiteren Fortgang zu.
Staniloae zieht die Konsequenz aus dieser hypostatischen Union: "Deshalb strahlen die göttlichen Energien, die durch seine menschliche Natur hindurchlaufen, nicht aus einer anderen, fremden Hypostase hervor, sondern aus der dieser Natur eigenen Hypostase, die zugleich Hypostase der göttlichen Natur ist, durch die Christus als Mensch durch seine Menschheit, die organisch an uns angeknüpft ist, mit uns verbunden ist und uns alle zugleich als Gott liebend umfaßt. Der Sohn Gottes ist, indem er zur Hypostase einer menschlichen Natur wurde, die nicht in eine eigene menschliche Hypostase eingeschlossen worden ist, eine Art Grundlage für alle menschlichen Hypostasen".13) Durch die Vereinigung mit Christus ergibt sich: "Die Distanz zwischen uns und Gott und zwischen uns untereinander wird somit überwunden".14) Eine genauere Präzisierung fand der Hypostasis-Begriff bei Maximus Confessor und Johannes von Damaskus, während im Westen Boethius in Abhängigkeit von den gleichen Quellen den Personbegriff vorbereitet, der den Subsistenzbegriff der Scholastik in den Blick nimmt.
Es ist mit D.Staniloae davon auszugehen, daß "die Begründung und Vollendung der Gemeinschaft anderer Personen mit Gott und dieser Personen untereinander in Analogie zur innertrinitarischen personalen Gemeinschaft" gesehen werden muß. Das Vorhandensein dieser personalen Gemeinschaft kann nur auf dem trinitarischen Hintergrund gedacht werden, die als Gemeinschaft eine Einheit unverwechselbarer Personen darstellt. Diese Personalgemeinschaft ist – nach D.Staniloae – an das Vorhandensein eines gemeinsamen Wesens bzw. einer gemeinsamen Natur gebunden. In diesem Sinne ist Person im Vollsinne nur in der Wesensgemeinschaft und nicht als gesondertes und abgetrenntes Individuum existent. "Nur wenn zwischen den göttlichen Personen und denen der Menschen eine Einheit der Naturen zustande kommt, ist es möglich, daß die göttlichen Personen mit den menschlichen völlige Gemeinschaft haben, ohne daß sie verwechselt werden und dennoch völlige Einheit zwischen ihnen zustande kommt. Die Vereinigung der menschlichen mit der göttlichen Natur in einer Hypostase bildet die maximale Form der Vereinigung der beiden Naturen. In gewissem Sinne sind wir durch unsere Natur alle in der Hypostase des Logos vereinigt".15)
So kann in der orthodoxen Tradition Menschwerdung im personalen Sinne nur in enger Verbindung mit der Trinität gedacht werden. Der Gedanke nach der Einheit mit anderen Menschen verwirklicht sich durch Christus: "Indem er [Christus] Mensch wird, verwirklicht der Sohn Gottes zugleich die Einheit nach der menschlichen Natur mit den übrigen Menschen. Dieses bedeutet eine tiefere Verbindung mit ihnen als vor der Fleischwerdung. Innerhalb dieser Wesensvereinigung durch die menschliche Natur geschieht eine unmittelbare Beziehung durch ein besonderes Wirken und durch Gnade. Der neue Adam bringt im Rahmen der Menschheit, der er durch seine menschliche Natur angehört, eine neue Wirklichkeit seiner Gottheit zur Geltung, die ihm in personaler Weise eignet. Die Verbindung Gottes mit uns Menschen beruht auf der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur, aber auch auf Kommunikation der göttlichen und menschlichen Natur, die er in sich vereint. So entsteht eben eine direkte Beziehung zwischen dem Gott-Logos und den Menschen. Daß die Menschen miteinander durch die gleiche Natur verbunden sind, ist für sie zugleich die Möglichkeit einer maximalen zwischenpersönlichen Kommunikation gegeben, wobei freilich der Einsatz ihres Willens nicht unnötig ist".16)
Diese von Christus durchdrungene Personalität gibt der menschlichen Natur eine neue Offenheit und Fassungskraft. D.Staniloae erläutert: "Die menschliche Natur besaß in Jesus Christus die gesamte hypostatisch-personale Aktualisierungsmöglichkeit, über die sie auch verfügt, wenn sie in realer Weise als selbständiges Subjekt in den anderen Menschen existiert".16) Nur aufgrund dieser hypostatisch-personalen Aktualisierungsmöglichkeiten war es der Gestalt Jesu Christi möglich, sich in den johanneischen ICH BIN-Aussagen sowohl mit dem ewigen ICH BIN, dem Sein und Namen Gottes zu identifizieren, um so "als selbständiges Subjekt in den anderen Menschen" zu existieren (Staniloae). Insofern kann er [Christus] stets alle anderen Menschen in seine Existenz einschließen, da er – verbunden mit der ewigen Hypostase des göttlichen Seins – die Verbindungen der anderen Menschen mit ihm als solche wußte, die ebenso in der göttlichen Hypostase und damit in ihm selbst eingeschlossen sind. Dieses hypostatische Zentrum – Christus – lebt(e) in Gott, sah und sieht sich zugleich in den Menschen und weiß sich zugleich als das ewige ICH BIN, "von dem mehr an Güte ausstrahlt als aus allen nur menschlichen Zentren" (Staniloae). Erst in ihm "hat unsere leibliche Natur ihre wahre, angemessene Aktivierung erfahren" (Staniloae). Wenn in dem beschriebenen Sinne die menschliche Natur in Christus in ihrer vollen und eigentlichen Authentizität aktiviert worden ist, so aktualisiert der inkarnierte Gott-Logos die menschliche Natur mit ihren Kräften und Strebungen in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Wesen: "Weil er [der Gott-Logos/Christus] diese Strebungen zu vollem Nutzen der anderen Menschen aktualisiert, kann man sagen, daß er die menschliche Natur aufs authentischste personalisiert hat, wenn anders unter 'Person' eine Einheit verstanden wird, die sich immer in positiver Weise auf andere Personen bezieht".18)
Wird so in Christus die menschliche Natur in ihrer Personhaftigkeit, d.h. in ihrer nicht abgesonderten, sondern integralen Individualität gelebt, so wird die Natur vergöttlicht, da die Natur mit ihm durch den inkarnierten Logos in einer Hypostase vereinigt ist, indem Christus (der Logos) "unseren natürlichen Willen in seiner eigenen, göttlichen Natur wiederherstellte" (Staniloae).
Diese Deutungen zur ontologischen Wesenseinheit im orthodoxen Sinne erhalten ihre Ergänzung und Vertiefung durch Ausführungen von I. von Kologriwof. Der Autor sagt, daß der Logos, der menschliche Natur annahm, nicht bloß ein Einzelmensch, also ein Individuum im herkömmlichen Verständnis wurde, "sondern in gewissem Sinne die gesamte Menschheit; genauer gesagt, er hat als Folge seiner Menschwerdung die ganze menschliche Natur ohne jegliche Beschränkung und in ihr den ganzen Kosmos mit sich vereinigt".19) Wie nun dieses umfassende ICH BIN Christi im Sinne einer personhaften Einheit zu verstehen ist, zeigt folgende Interpretation: "Obschon unser Stammvater [Adam] vor dem Sündenfall eine bestimmte Person, ein konkretes Ich war, war er, da er schon die Allheit der Menschheit in sich enthielt, sozusagen ein Allmensch, d.h. der Mensch, der das ganze Menschengeschlecht in sich trug. Trotzdem er ein individuelles Wesen war, besaß er keine 'Individualität' im negativen, beschränkenden Sinne des Wortes, als eine Folge der durch die Sünde zerrissenen Ordnung. 'Durch die Erbsünde ist die Einheit der Natur in tausend Stücke gebrochen', sagt der hl. Maximus der Confessor, und jetzt vernichten wir einander wie wilde Tiere".20)
So hat sich – nach Kologriwof – die gefallene Menschheit "anstatt ein harmonisches Ganzes zu bilden, in unzählige Einzelindividuen mit den entgegengesetzten Strebungen zersplittert. Heute kennen wir keine Person, die nicht zugleich eine abgesondert-einsame Individualität wäre. Sie ist der Gegenstand unseres Hochmutes, denn sie ist das einzige Bild von der Person, das wir uns noch vorstellen können".21)
In diesem Sinne lassen sich auch die Aussagen des Apostels Paulus verstehen: "Der erste Mensch Adam wurde zu einem lebendigen Seelenwesen, der letzte Adam zu einem lebenschaffenden Geisteswesen (1 Kor 15,45). Erst auf dem Hintergrund des Gedankens der Logos-Christologie und auch der Wesenseinheit sind die Aussagen des Apostels Paulus über die Wirklichkeit eines seelischen bzw. eines himmlischen Leibes besser zu verstehen (1 Kor 15,45-49).
An dieser Stelle sei doch ansatzweise auf die Vorstellung des "Urmenschen" oder des "kosmischen Menschen" verwiesen, dessen Idee sich im Hinduismus, Buddhismus, im Islam und im Judentum (Kabbalah) findet. B.Griffiths bringt die Gestalt dieses Urmenschen in Verbindung mit unserem Zusammenhang, wenn er schreibt: "Wenn wir Jesus in diesem Kontext sehen, gewinnen wir ein Bild von ihm, das ihn auf bedeutsame Weise mit der Weltgeschichte und dem Gottesverständnisses des Menschen verbindet".22)
Folgen wir den neutestamentlichen Aussagen des Johnnesevangeliums, die vielfältige Anlässe zu Miß- und Umdeutungen gegeben haben, so legt es sich nahe, den in den genannten Religionen genannten Urmenschen zu identifizieren mit dem, der von sich gesagt hat: "Ich und der Vater sind eins...Denn was der Vater tut, das tut der Sohn in gleicher Weise" (Joh 1,30; 5,19). Hier sieht sich der Logos und Selbstausleger des Vaters zweifellos als der später so bezeichnete kosmische Christus, der die Herrlichkeit des Schöpfers erhielt und von ihm "vor der Grundlegung der Welt" geliebt wurde (Joh 17,24).
H.U. von Balthasar schreibt in der Einleitung zu dem von ihm übersetzten Werk "Der versiegelte Quell" von Gregor von Nyssa: "Hier aber wird eine andere Grundlehre Gregors wesentlich, die bisher noch unerwähnt blieb, und die in ihrer Tiefe aufzurollen hier auch nicht der Raum ist, die Lehre von der ontologischen, ja physischen Einheit der Menschennatur. Nach Gregor ist der eigentliche Träger des Gottesbildes nicht die Einzelseele, sondern die eine, einzige Menschennatur, von der die individuellen Menschen nur Ausdruck und Darstellung sind. Christus hat, indem er individueller Mensch wurde, zugleich diese allgemeine Menschennatur angenommen und vergöttlicht, und durch sie stehen alle Menschen gleichsam in unmittelbarer, seinshafter Kommunion mit ihm. So zerbrechen die geschlossenen Monaden und werden von innen geöffnet für den Strom der vergöttlichenden Gnade. Die Menschwerdung wird also erst völlig vollzogen sein, wenn die gesamte Menschennatur, in all ihren Gliedern, durchlässig geworden ist für die Gnade der Menschwerdung, wenn aus dem Leibe 'Adams' der mystische Leib Christi geworden ist".23)
Wie der Gedanke der ontologischen Wesenseinheit ihren poetischen Niederschlag in der russischen Literatur gefunden hat, dafür bietet die Interpretation des Dichters F.Dostojewskij durch seinen Exegeten R.Lauth ein eindrucksvolles Beispiel. In seiner Darstellung "Die Philosophie Dostojewskis" charakterisiert Lauth, der übrigens auch ein international ausgewiesener Fichte-Kenner ist, nicht nur den von dem Dichter besonders herausgestellten Freiheitsgedanken, sondern stellt in seinem Kapitel "Vom Wesen Gottes" dar, wie Dostojoewskij die Einheitswirklichkeit, in der Gott und Mensch untrennbar miteinander verbunden sind, schaute: "Alles kommt von Gott her, alles lebt und geschieht von Gott umschlossen... Alle Menschen und alle Wesen sind von Gott her und stehen in unmittelbarer Verbindung mit ihm. Gottes Existenz ist als die einer unendlichen Person (in Analogie) anzusehen, und nicht als die eines über und in der ganzen Schöpfung ausgegossenen Geistes. Er ist der Schöpfer des Alls und aller seiner Wesen".24) Der Interpret macht darauf aufmerksam, daß in den philosophischen Gottesbegriff des russischen Dichters sehr stark christlich-orthodoxe Glaubenslehren eingeflossen sind. Die Metaphysik Dostojewskijs erkennt in der Liebe allein vollkommene Erkenntnis, denn "in ihrer höchsten Form verbindet sie sich mit der Erkenntnis zu einer Einheit", denn "durch die Liebe, heißt es bei Dostojewski an einer anderen Stelle, erfaßt der Mensch 'das Geheimnis Gottes in den Dingen', das ein Geheimnis des sündlosen [d.h. ungetrennten Seins, der ontologischen Wesenseinheit] ist".25)
"Wenn eine einzige Person ein solches Zentrum darstellt [der in wesenhaftem Einklang mit Gott und allen Menschen stehende Mensch], aus dem Leben und geistige Einigungskräfte ausstrahlen, die unerschöpflich und deren Liebesgewalt nicht den kleinsten Schatten des Egoismus aufkommen läßt, so muß es sich um eine göttliche Person handeln, die in unmittelbarer Beziehung zu uns Menschen getreten ist, als menschliche Person in höchster Vollendung".26) Es mag zweifelhaft erscheinen, ob man mit Griffiths nur aufgrund des Johannes-Zitates "Noch ehe Abraham war, bin ich" (Joh 8,58) schon annehmen kann: "Der ursprüngliche Mensch war vor Abraham und vor allen Menschen, und ich denke, es ist sehr wahrscheinlich, daß Jesus sich mit diesem ursprünglichen oder himmlischen Menschen identifizierte, der vor aller Schöpfung war".27)
Indische Weisheit am Beispiel Sri Aurobindos
Wir erinnern uns an dieser Stelle zunächst noch einmal an ein schon erwähntes Zitat aus der orthodoxen Tradition, um diesem gleich ein ähnliches aus indischer Weisheit gegenüber zu stellen. D.Staniloae schreibt in seiner Dogmatik: "Der Sohn Gottes ist, indem er zur Hypostase einer menschlichen Natur wurde, die nicht in eine eigene menschliche Hypostase eingeschlossen worden ist, eine Art Grundlage für alle menschlichen Hypostasen".28)
S.Aurobindo formuliert in seinem Kapitel "Das Ewige und das Individuum" entsprechend: "Das Welt-Wesen [das kosmische Wesen] schließt stets das individuelle Wesen ein. Darum stehen diese beiden Werdeformen, die kosmische und die individuelle, stets miteinander in Beziehung und sind in ihrem praktischen Verhältnis voneinander abhängig. Wir erkennen aber, das individuelle Wesen kommt schließlich auch so weit, daß es die Welt in sein Bewußtsein einschließt." Vgl. dazu: "Die Liebe Christi als göttliche Kraft, als Gabe des einen Heiligen Geistes, der in allem wirkt, führt zu ontologischer Einheit. Wer Gott liebt, wird in das Leben Gottes eingeschlossen, wer den Bruder liebt, schließt dessen Leben in sein persönliches Leben ein, wer die ganze Menschheit liebt, umfängt mit seinem Geist die ganze Welt", Starez Siluan, Bd. 1, S. 124.
Da das nicht durch Vernichtung des spirituellen Einzelnen geschieht, sondern dadurch, daß dieser sein volles, weites und vollkommenes Selbst-Bewußtsein [christlich gesprochen: zu seinem ICH BIN gekommen] erlangt, müssen wir annehmen, der Einzelne hat immer den Kosmos in sich enthalten [so wie das ICH BIN Christi den Kosmos in sich enthält, vgl. die johanneischen ICH BIN-Worte]. Nur hat das vordergründige Bewußtsein durch Unwissenheit diese Einbezogenheit des Kosmos in sich nicht als Besitz haben können, da es sich im Ich selbst begrenzte. Wenn wir aber davon sprechen, daß das Kosmische und das Individuelle einander enthalten, die Welt in mir ist, ich in der Welt bin, alle in mir sind, ich in allen bin, – denn das ist die befreite Selbst-Erfahrung, – dann gehen wir offensichtlich über die Sprache der normalen Vernunft hinaus".29)
Aurobindo fährt fort: "Denn der Eine ist die ewige Einheit der Vielen, die sich selbst im Kosmos entwickelt und ausdifferenziert. Das bedeutet, Kosmos und Einzelner sind Offenbarungen eines transzendenten Selbsts, des purusha, der ein unteilbares Wesen ist, auch wenn er zertrennt und verteilt zu sein scheint, der aber nicht wirklich zertrennt und verteilt, sondern unteilbar überall gegenwärtig ist. Darum ist alles in jedem und jeder ist in allen; alles ist in Gott und Gott ist in allen".30)
Fragen wir nun danach, wie sich – gegenüber dem orthodoxen Verständnis und der trinitarischen Deutung – die Wesenseinheit in der indischen Weisheitstradition bestimmt, so erfahren wir zunächst einmal vom individuellen Göttlichen Wesen, jivatman, der Christus-Hypostase vergleichbar, daß diese im Unterschied zum universalen Göttlichen Wesen oder dem einen alles konstituierenden Selbst gesehen werden muß [so wie – theologisch gesehen – der Vater zum Sohn]. Dennoch wird bei Aurobindo zwischen dem individuellen und dem universalen Göttlichen Wesen nicht sehr deutlich unterschieden: "Das universale Göttliche Wesen würde alle Seelen-Gestaltungen als sich selbst anerkennen [Joh 17,6 "dir gehörten sie an"; Joh 17,9 "denn sie sind dein Eigentum"] und trotzdem eine unterschiedliche Beziehung zu jeder getrennt und ebenso auch in jeder zu allen anderen unterhalten. Das individuelle Göttliche Wesen würde sein Sein als eine Seelen-Form und Seelen-Bewegung des Einen [Joh 17,20 "wie du, Vater, in mir bist, und ich in dir bin"] ansehen und einerseits durch das umfassend verstehende Wirken von Bewußtsein seine Einheit mit dem Einen und mit allen Seelen-Gestaltungen genießen [Joh 17,20 "wie du Vater, in mir bist und ich in dir bin, so laß auch sie in uns eins sein"], andererseits auch durch ein nach vorwärts und nach außen gerichtetes wahrnehmendes Wirken seine individuelle Bewegung unterstützen und sich in ihr seiner Beziehungen zu einer freien Unterschiedenheit in Einheit sowohl zu dem Einen wie auch zu allen seinen Gestaltungen erfreuen [Joh 17,22 "Ich habe auch die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins seien, wie wir eins sind"]. Würde unser geläutertes Mental dieses sekundäre Kräfte-Gleichgewicht des Supramentalen widerspiegeln, unsere Seele könnte ihr individuelles Dasein fördern und besitzen und sich gerade darin als das Eine realisieren, das zu allen geworden ist, alle bewohnt und alle in sich enthält".31)
Erstaunliche Parallelen entdecken wir in Aurobindos Ausführungen in Kapitel "Die Göttliche Seele" zu Aussagen des Johannes-Evangeliums sowie zu dem uns interessierenden Thema der Wesenseinheit.32) So begreift die Göttliche Seele [christlich gesprochen: der inkarnierte Christus-Logos] "sich selbst in der ursprünglichen Wahrheit der Dinge" ["Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" Joh 14,6], "in der unveränderlichen Einheit" ["der Vater, der dauernd in mir ist, tut seine Werke", Joh 14,10], "in der Welt ihres eigenen unendlichen Wesens, ...dabei aber fähig, ihre Verschiedenheit von Gott zugleich als Einheit mit ihm zu genießen und im unendlichen Spiel des selbst-vervielfachten Identischen Verschiedenheit und dennoch Einheit mit anderen göttlichen Seelen zugleich zu umfassen" ["und was mein ist, ist ja alles dein, und was dein ist, ist mein, und ich bin in ihnen verherrlicht worden" Joh 17,10, oder: "ich in ihnen und du in mir, auf daß sie zu vollkommener Einheit gelangen Joh 17,23]. So fällt – nach Aurobindo – die Göttliche Seele, unbeirrt durch das Straucheln mentalen Irrtums nie aus Wahrheit und Einssein heraus, "nie aus dem ihr eingeborenen Licht und der natürlichen Harmonie ihres göttlichen Seins" ["Ich bin das Licht der Welt", Joh 8,12]. Nur eine "in ihrer ewigen Selbsterfahrung reine unveränderliche Seligkeit" wäre in der Lage, die "Seligpreisungen" (Mt 5,1-12) weiterzugeben, da die "Göttliche Seele" selbst aus dieser "Harmonie" und "Glückseligkeit" leben kann und muß. Wie die Lebensgeschichte Jesu Christi zeigt, stimmt sie überein mit der Beschreibung, die Aurobindo der "Göttlichen Seele" zumißt, daß sie "in ihrem Wesen unzerteilt, durch unsere Verkehrtheiten wie Abneigung, Haß, Unzufriedenheit und Leiden" nicht blockiert ist, "nicht gehemmt durch Eigenwillen und nicht entstellt durch den ignoranten Antrieb von Verlangen". Die "Göttliche Seele" hätte zwar eine "rein phänomenale Individualität und das Spiel praktischer Differenzierung angenommen", das bedeutet also (phänomenologisch), daß sie unter einem bestimmten Namen an bestimmten Orten lebt, Entscheidungen trifft und die Sprache ihres Landes spricht, philosophisch gesprochen, sich determiniert, da sonst keine Kommunikation erfolgen könnte. Dies ist der Weg des historischen Jesus von Nazareth.
Doch: "In ihrer [der Göttlichen Seele] Selbst-Erfahrung würde sie ewig in der Gegenwart des Absoluten leben". In der Gegenwart des Absoluten war und ist Zeit- und Raumlosigkeit. Deshalb können die Aussagen der Göttlichen Seele, des inkarnierten Logos stets nur auf dieser doppelten Ebene der zeitlich/zeitlosen und räumlich/raumlosen Dimensionen verstanden werden. Mentales Denken freilich ist zunächst an die phänomenologische Ebene gebunden. Der zeitlich und zeitlos Denkende ragt in den Raum des Supramentalen, da das zergliedernde Mental aufgehoben ist – ähnlich wie der Hegelsche zergliedernde Verstand von der Vernunft. Und dennoch steht beides zueinander in einem dialektischen Entsprechungsverhältnis.
Die soeben erwähnte ewige Gegenwart des Absoluten findet sich in vielen Selbst-Aussagen der Selbst-Erfahrung des inkarnierten Logos wie z.B.: "Ehe Abraham ward, bin ich" (Joh 8,58). Insofern konnte die Göttliche Seele, in der die Wahrheit der Dinge [in der Nicht-Dualität] lebte ["Ich bin die Wahrheit", Joh 14,6], "immer sich selbst bewußt als Manifestation des Absoluten empfinden". "Sie würde ihres unveränderlichen Seins als der ursprünglichen "Selbst-Form", svarupa, jenes Transzendenten, des saccidananda, innesein. Sie würde ihr Spiel bewußten Wesens gewahren als eine Manifestation von Jenem in Formen von saccidananda". Ein Spiel als Manifestation von Jenem schaute die Göttliche Seele z.B. in ihrem Blick in die Natur, auf die Vögel und die Blumen (Mt 6,26-30), "zugleich aber auch eine Form des bewußten Lebens ihres Selbst der Transzendenz, "die sich selbst umarmt". Die Göttliche Seele würde ständig in der Gegenwart des Absoluten leben, "sie [diese Gegenwart] wäre vielmehr die eigentliche Grundlage ihres Wesens sowohl in der Einheit wie in der Verschiedenheit. "Sie [die Gegenwart des Absoluten] wäre ihr gegenwärtig bei allem Erkennen, Wollen, Tun und Genießen, nie von ihr abwesend: weder von ihrem zeitlosen Selbst noch von irgendeinem Augenblick in der Zeit, weder von ihrem raumlosen Wesen noch von irgendwelcher Bestimmung ihres raumlosen Daseins...Diese ständige Gegenwart des Absoluten wäre also die Basis ihrer unendlichen Freiheit und Seligkeit. Sie würde ihre Sicherheit im Spiel gewiß machen und ihr Wurzel, Saft und Essenz ihres göttlichen Wesens gewähren".33)
Schluß
Wie können wir die Begriffe der Wesenseinheit im christlich-orthodoxen und im neo-hinduistischen Verständnis einander näherbringen? Wo gibt es Berührungspunkte, Konvergenzen oder Parallelen? Die Antworten werden je nach spiritueller Erfahrung und Kulturraum, in dem sie entstanden sind, unterschiedlich ausfallen. Dennoch lohnt sich ein Vergleich, der hier nur einen bescheidenen Annäherungscharakter besitzt.
"Sie [die Göttliche Seele] wird in göttlicher Weise alle Dinge als das Selbst begreifen [im Sinne der Wesenseinheit], verstehen und erfühlen, als ihr eigenes Selbst, als das eine Selbst aller, als das eine Selbst-Seiende und Selbst-Werden, jedoch nicht aufgeteilt in seinen Werdeformen, da sie, losgetrennt von seinem eigenen Selbst-Bewußtsein, kein Dasein besitzen. Sie wird in göttlicher Weise alle Wesen im Dasein begreifen, verstehen und erfühlen als Seelen-Gestaltungen des Einen, von denen jedes sein eigenes Wesen im Einen hat, seinen eigenen festen Stand im Einen, seine eigenen Beziehungen zu allen anderen existierenden Wesen, die die unendliche Einheit bevölkern, aber alle von dem Einen abhängen, eine bewußte Form von Ihm in Seiner eigenen Unendlichkeit. Die Seele wird in göttlicher Weise all diese Seienden begreifen, verstehen und erfüllen können in ihrer Individualität, an ihrem besonderen Ort lebend als das Individuelle Göttliche Wesen, jedes den innewohnenden Einen und Höchsten besitzend."34)
S.Aurobindo beschreibt die drei Aspekte des Einen Seins, von denen der dritte unsere besondere Aufmerksamkeit erfordert: "Der dritte Aspekt des Einen Seins wird beschrieben als das Sehen des Selbst in allen existierenden Wesen. Das Selbst, das zu allen existierenden Wesen wird, ist die Grundlage unseres Einsseins mit allen. Das Selbst, das alle Existenzen in sich enthält, ist die Basis für unser Einssein mit ihnen in der Verschiedenheit. Das Selbst, das alle bewohnt, ist die Grundlage für unsere Individualität im Universalen".35)
In diesem Zusammenhang wird sich der christliche Leser nicht nur an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) erinnern, sondern vor allem auch an die Gerichtsrede Mt 25,31-46. Gerade die Gerichtsrede ist eine exemplarische Geschichte für die Tatsache, wie das Selbst sich in allen existierenden Wesen erkennt. Denn dort spricht die "Göttliche Seele": "Alles, was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40). Dieses mir ist im Sinne Aurobindos das ewige Selbst in allen existierenden Wesen. Hier ist das göttliche Selbst in die Individualität(en) im Universalen der gesamten Menschheit eingegangen. "In den Beziehungen zu ihrem höchsten Selbst, zu Gott, wird die Göttliche Seele dieses Gefühl des Einsseins des transzendenten und universalen Göttlichen Wesens mit ihrem eigenen Wesen haben. Sie wird sich an diesem Einssein Gottes mit ihr in der eigenen Individualität und mit ihren anderen Selbsten in der Universalität erfreuen".
Starez Siluan: "Wenn Gott den Menschen diese Herrlichkeit [Joh 17,22] gibt, so wird damit der Mensch, obwohl er seinem Wesen nach Geschöpf bleibt, ein Gott, das heißt, er empfängt Teilnahme an der göttlichen Existenz".36) "Nicht Raum und Zeit, nicht Geburt und Tod, nicht Alter und Geschlecht, keine soziale oder hierarchische Stellung, nichts von den Verhältnissen der Welt ist noch belangvoll. Gekommen ist der Herr. – Das ewige Licht, das Licht des Lebens, kehrt ein in die bereite Seele".37)
Anmerkungen
Zusätze des Verfassers sind in [...] gesetzt.
1) Starez Siluan – Mönch vom Berg Athos, Bd. 1, Düsseldorf 1980, S. 95. Zit. Starez Siluan, Bd. 1.
2) Starez Siluan, Bd. 1, S. 101.
3) Starez Siluan, Bd. 1, S. 108.
4) Starez Siluan, Bd. 1. S. 229f. Vgl. auch zur Adam-Christus-Typologie unter besonderer Berücksichtigung der Textauslegung durch Theophan den Klausner den Abschnitt "Der Mensch von Natur und als Sünder, bei. H.M.Knechten, Der Weg zum Heil bei Theophan dem Klausner, Theol. Diss., Münster 1997, S. 50-71. Zit. H.M.Knechten, Der Weg zum Heil.
5) Starez Siluan, Bd. 1, S. 123.
6. Starez Siluan, Bd. 1, S. 124.
7) Starez Siluan, Bd. 1, S. 124.
8) Starez Siluan, Bd. 1, S. 124.
9) Starez Siluan, Bd. 1, S. 95.
10) D.Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, Bd. 1, Zürich 1985, S. 193f, mit der Aufnahme eines Zitates von J.Meyendorff, Le Christ dans la théologie byzantine, Paris 1969, S. 100. Zit. Staniloae, Dogmatik, Bd. 1. Hier trifft sich J.Meyendorff mit den Gedanken C.G.Jungs, vgl. C.G.Jung, Christus, ein Symbol des Selbst, in: Aion, Olten 1976, S. 46ff. H. Le Saux deutet diese Wesenseinheit sehr schön: "Mit jedem Menschen habe ich Kommunion in der geheimnisvollen circumincessio (wechselseitige Durchdringung) und circuminsessio (Koinhärenz), die das Charakteristikum des einen ungeteilten Lebens der Heiligen Dreifaltigkeit ist", in: H. Le Saux, Wege der Glückseligkeit, Begegnung indischer und christlicher Mystik, München 1995, S. 153.
11) I.D.Zizioulas, Wahrheit und Gemeinschaft in der Sicht der griechischen Kirchenväter, in: Kerygma und Dogma 1993, S. 2-49. Zit. Zizioulas, Wahrheit und Gemeinschaft.
12) Zizioulas, Wahrheit und Gemeinschaft, S. 19.
13) Staniloae, Dogmatik, Bd. 1, S. 194.
14) Staniloae, Dogmatik, Bd. 1, S. 194.
15) Staniloae, Dogmatik, Bd. 1, S. 84. Auf diese obenerwähnte Analogie hat auch N.Berdjajew aufmerksam gemacht, wenn er sagt; "daß all das, was in der oberen Welt stattfindet, auch in der unteren Welt stattfindet. Sogar die gottheitliche Trinität wird überall wiederholt in der Welt". Dieses Berdjajew-Zitat findet seine Erläuterung bei P.C.Murdoch, Der Sakramentalphilosophische Aspekt im Denken Nikolaj Aleksandrovitsch Berdjaevs, Erlangen 1981: "Hier geht es u.a. um die Analogie des göttlichen Lebens zum menschlichen Leben. Hier ist nichts zu spüren von dem Gedanken des "ganz Anderen", im Gegenteil. Der Mensch erhält seine Prägung von Gott her (a.a.O., S. 106).
16) D.Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, Bd. 2, Zürich 1990, S. 39f. Zit. Staniloae, Dogmatik, Bd. 2.
17) Staniloae, Dogmatik, Bd. 2, S. 36. Im Blick auf die historischen und theologischen Entwicklungen der Trinitätslehre aus der Perspektive des 20. Jhdts. vgl. W.Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 283-364.
18) Staniloae, Dogmatik, Bd. 2, S. 37.
19) I. von Kologriwof, Das Wort des Lebens, Regensburg 1938, S. 100. Zit. Kologriwof, Das Wort.
20) Kologriwof, Das Wort, S. 103. Vgl. auch H.M.Knechten, Der Weg zum Heil, S. 50ff.
21) Kologriwof, Das Wort, S. 103f.
22) B.Griffiths, Göttliche Gegenwart, Augsburg 1997, S. 87. Zit. Griffiths, Göttliche Gegenwart. Vgl. zu dem Gesamtthema: M.Fox, Vision vom kosmischen Christus – Aufbruch in das dritte Jahrtausend, Stuttgart 1991. Von bemerkenswerter Überzeugungskraft ist Teil III "Von der Suche nach dem historischen Jesus zur Suche nach dem Kosmischen Christus", S. 115-192. Auf die weiterführende Veröffentlichung von H. Le Saux, Wege der Glückseligkeit-Begegnung indischer und christlicher Mystik, München 1995 (s. o.), kann nur empfehlend hingewiesen werden.
23) Gregor von Nyssa, Der versiegelte Quell, Einsiedeln 1954, S. 20f.
24) R.Lauth, Die Philosophie Dostojewskis, München 1950, S. 470. Zit. Lauth, Dostojewski.
25) Lauth, Dostojewski, S. 408.
26) Staniloae, Dogmatik, Bd. 2, S. 39.
27) Griffiths, Göttliche Gegenwart, S. 87.
28) Staniloae, Dogmatik, Bd. 1, S. 194.
29) S.Aurobindo, Das Göttliche Leben II, 1, Gladenbach 1991, S. 92. Zit. Aurobindo, Das Göttliche Leben II, 1.
30) Aurobindo, Das Göttliche Leben II, 1, S. 92.
31) S.Aurobindo, Das Göttliche Leben I, Gladenbach 1991, S. 172. Zit. Aurobindo, Das Göttliche Leben I.
32) Aurobindo, Das Göttliche Leben I, S. 177.
33) Aurobindo, Das Göttliche Leben I, S. 178f.
34) Aurobindo, Das Göttliche Leben I, S. 180.
35) Aurobindo, Das Göttliche Leben I, S. 181.
36) Starez Siluan, Bd. 1, S. 92. Vgl. zu diesem Thema die weiterführende Studie von K.Savvidis, Die Lehre von der Vergöttlichung bei Maximos dem Bekenner und ihre Rezeption durch Gregor Palamas, St. Ottilien, 1997. Vgl. auch den Gedanken der Vergöttlichung bei Theophan der Klausner bei: H.M.Knechten, Der Weg zum Heil, S. 118ff.
37) Starez Siluan, Bd. 1, S. 197.