Der
in der Geschichte handelnde Mensch nach den russischen Denkern*
Tomás Špidlík
Die All-Einheit, die fundamentale Idee der russischen Erkenntnistheorie (Gnoseologie), bezeichnet die Vereinigung der Menschen und der Gedanken nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, quer durch die Epochen. Deshalb ist die Wahrheit "historisch". Unsere Philosophie, schreibt Berdjaev, wird also eine Philosophie der Geschichte sein. "Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Völker und die Gesellschaften in der Gegenwart leben; die Gegenwart ist kaum pfändbar, man lebt mehr in der Gewalt der Vergangenheit und in der Anziehung der Zukunft".1)
In der griechischen Philosophie stellte man sich schon die Frage des Werdens und seiner Beziehung zum Sein. Die Tatsache, dass sich alles fortwährend verändert, brachte Heraklit zum Pessimismus. Die klassische Philosophie unterbrach ihr Denken bei dieser Idee: Gott ist unwandelbar, und man muss also in der Geschichte das suchen, was bleibt, das Ewige. Eine solche Philosophie ist also nicht historisch. Sie stellt sich außerhalb der Entwicklung der Welt, sie ist sogenannte Philosophia perennis. Im Gegensatz dazu ist in der Bibel das Heil historisch, und es geschieht in der Geschichte, dass es sich offenbart. Diese Vorstellung stimmt vollkommen mit den Russen überein, die die Wahrheit als lebendig und konkret verstehen. Die Philosophie und die Theologie der Geschichte sind am Ende des 19. Jahrhunderts in Russland sehr beliebt (modern) geworden.
Aber was suchte man zu entdecken? Ein Gesetz oder die Hand der Vorsehung, die die Ereignisse lenkt? Die historischen Erscheinungen wurden wie die Wirklichkeit des sichtbaren Kosmos studiert. Am Anfang sammelt man einfache Fakten, danach sucht man die Gesetze zu entdecken, die sie lenken, "die innere Idee der Evolution". Die Entdeckung der historischen Gesetze (fortschreitende oder zyklische) führt zu gleichen Schlussfolgerungen wie die Entdeckung der kosmischen Gesetze in der Antike: zum Verlust der menschlichen Freiheit. Die Moral, die sich ergibt, ist die Unterwerfung unter das Schicksal. Das war zum Beispiel die Überzeugung von Tolstoj zu der Zeit, als er Krieg und Frieden schrieb: "In den historischen Ereignissen sind die als groß bezeichneten Menschen Etiketten, die einem Ereignis einen Titel geben und, wie Etiketten, sind sie es, die am wenigsten Beziehung zu den Ereignissen selbst haben".2)
Um die Freiheit des Menschen und Gottes zu retten, stellten sich gewisse Denker auf den Standpunkt, die absolute Notwendigkeit der kosmischen Gesetze zu leugnen, ebenso wie man dahin gelangte, die historischen Gesetze zu leugnen und besonders „das Gesetz des Fortschritts“. Ein gewisser Historiker Kareev spricht von der Geschichte wie von einer „chaotischen Folge von Ereignissen“, einer a-logischen Folge, welche die Unabhängigkeit des Individuums nicht berührt.3) Es scheint indessen, dass man gerade diese Folge als eine Art „Gesetz der Geschichte“ begreifen kann.
Diese Überlegungen führen uns zu einer anderen Antinomie: auf der einen Seite muss die historische Evolution zur Vollkommenheit der Humanität führen, also zur Freiheit, denn diese ist Geschichte des Heils, und auf der anderen Seite folgt diese Evolution den Gesetzen der Geschichte, beraubt sie die Individuen der Freiheit, die ihnen eigen ist. S.Frank findet diese Antinomie selbst in den Texten des Evangeliums. Auf der einen Seite bekennt Jesus, dass ihm alle Macht – im Himmel und auf Erden – gegeben ist (Mt 28,17), was für unser Thema bedeutet, dass die Geschichte nach seinem unfehlbaren Willen fortschreitet. Aber zugleich prophezeit er den Aposteln, dass sie leiden werden, denn dies ist das Gesetz der Welt (Joh 16,22). Von dorther kommt das Problem: Ist das allmächtige Göttliche also schwach vor dem Lauf der Geschichte?4)
Die Antwort findet sich im christologischen Sinn der Geschichte. Indem Christus sich der Notwendigkeit der Gesetze des Universums unterwirft, hat er uns von der "Versklavung der Elemente" (Gal 4,3) befreit. In gleicher Weise tritt der Retter in die Geschichte ein, unterwirft sich den Ereignissen, um mit ihrem Durchschreiten das Heil zu erfüllen. Deshalb versichern Čaadaev und Solov’ev ausdrücklich, dass allein das Christentum dem Lauf der Ereignisse seinen Sinn gibt.5) Belinskij gelangt auch zu dieser Lösung, aber nach einer schwierigen Periode einer persönlichen Krise. Er studiert zunächst die idealistische Philosophie und fühlt, dass sie seine Liebe des konkreten Lebens vor den Kopf stößt, einer freien "ewigen Veränderlichkeit". "Die Idee des Absoluten, die Hegel vorschlägt, kann den Sinn des Universums erklären, wenn man ihren abstrakten Gedanken akzeptiert und den einfachen Punkt der theoretischen Sicht; aber diese Idee kann die Personen nicht trösten, die leiden und die die geliebten Menschen sterben sehen. Für die menschlichen Kreaturen finden sich der einzige Sinn und das einzige Heil in dem Kreuz Christi und in seiner Auferstehung, die der Zentralpunkt der Geschichte der Humanität ist".6)
Der historische christologische Prozess ist göttlich-menschlich, das heißt, historisch und meta-historisch; er fällt in die Zeit und hat einen ewigen Wert. Die Meta-Historie ist – nach Berdjaev – kontinuierlich anwesend in dem Hintergrund der Geschichte.7) Evdokimov erläutert diesen Gedanken: "Die Geschichte ist, ohne determiniert zu sein, nicht weniger bedingt durch Elemente, die unhistorisch sind. In der Tat ist die Geschichte nicht autonom, sie besitzt ihre paradiesische Urgeschichte, und sie wird ihre Nachgeschichte in dem Königreich haben. Die erste erfüllt sich, indem sie durch die Geschichte schreitet, durch die zweite. Die meta-historischen Kräfte leben in der Geschichte, handeln und beeinflussen ihre Aufgabe. So erscheint es klar, dass, wenn die Eschatologie ihr historisches menschliches Postulat besitzt, sie auch die ganz besondere Teilnahme der himmlischen, engelhaften und dämonischen Mächte einschließt".8)
Dies ist nun die Geschichte, die uns die Bibel darbietet: die Ereignisse geschehen in der Zeit, in "ihrer Zeit", und alles drückt die Erwartung dessen aus, was kommen soll. Es ist diese Erwartung, die den Menschen vom chronos befreit, das heißt, die befreit "von der zyklischen Zeit der Gestirne, die unsere Uhren anzeigen". Die geschlossene Zeit, die des Gottes Chronos, nährt sich von ihren eigenen Kindern – den Augenblicken – er misst kalt, mathematisch die "Wiederholungen", und provoziert die Angst des Absurden, ähnlich der von Pascal vor dem unendlichen Raum. "Die Zeiger, immer in Bewegungen, lenken nirgendwohin".9) Nun ist es nur dort, wo es eine Erwartung des realen und ewigen Königreiches gibt, wo es einen Sinn für Fortschritt der Geschichte gibt, außerhalb dieses Sinns, und ohne ihr Ziel und ohne Sinn.
Indem wir sagen, dass der Sinn der Geschichte christologisch ist, sagen wir zugleich, dass er kirchlich ist. Die Zeit, die der Inkarnation folgt, ist die Zeit der Kirche. "Das Leben der Kirche präsentiert sich wie eine neue Dimension des Lebens, die Möglichkeit einer neuen Qualifikation der Geschichte, weil sie zum Letzten hin geöffnet ist".10)
Der "typisch russische" Christus ist der kenotische Christus. Deshalb decken die Autoren gerne diesen Aspekt in der Entwicklung des historischen Christus auf. Man kann zu diesem Thema eindrucksvolle Seiten in dem Buch Der Sinn des Lebens von Evgenij Trubeckoj lesen: "Die Vision der unzerstörbaren und ewigen Stadt Gottes offenbart sich bei dem hl. Augustinus in den Tagen der vernichtenden Besetzung Roms durch Alarich, zur Zeit des Abstiegs des Römischen Reiches des Westens. Die religiöse Anstrengung Savonarolas und des Fra Angelico wird bestätigt in den Tagen spiritueller Offenbarung des Bösen, zur Zeit des Macchiavelli und des Cesare Borgia... Allein dies ist wahr: das ewige Leben der Welt realisiert sich durch den Tod zeitlicher Formen".11)
Nun stellt sich eine praktische Frage: Was soll der Mensch vor der Geschichte tun? Er muss kontemplativ und handelnd sein. Während die Griechen Gott im Kosmos wussten, bezeugt die gesamte Bibel die Erfüllung der göttlichen Absichten in der Geschichte. Die Lektüre der Geschichte Israels ist eine Übung, die uns lehren kann, die Geschichte unseres Lebens, die unserer Umwelt und unseres Volkes zu lesen. Evagrius stellt "die Kontemplation der Vorsehung" unter die fünf Arten der theoria.12) Diese Praxis, die nicht mit derjenigen bei den Griechen übereinstimmt, war im Gegenteil Quelle der Inspiration für die Russen, offenbar schon für die Autoren der alten Chroniken. Die Chronik der vergangenen Zeiten könnte den Titel "Geschichte des Christentums in Russland" tragen. Ihr wichtigster Inhalt ist, zu zeigen, wie die Taufe der Rus' in die Geschichte des Heils eingefügt wurde. Mit der Taufe von Olga und Vladimir beginnt für das Volk der Weg der Weisheit und des Lichts, der Kampf gegen die Dunkelheit, ein Weg, der manchmal zum Martyrium zwingt. Für Soloviev ist "die Geschichte das, was Gott von der Menschheit denkt". Man muss also diesen Gedanken wie eine Offenbarung ergreifen, selbst hinsichtlich auf das Schicksal einer bestimmten Nation.13)
Aber vor dem Drama der Geschichte ist der Mensch nicht einfach Zuschauer, sondern auch wichtiger Teilnehmer. Er hat gemäß der üblichen Terminologie bei den Russen einen "theurgischen Auftrag". Berdjaev erinnert daran, dass dieses Thema die Intellektuellen seiner Epoche außerordentlich interessierte: "Der Mensch ist ein historisches Wesen, und diese historische Realität findet sich in ihm".14) Das Drama der Geschichte findet statt, weil er die wechselseitige Handlung Gottes und des Menschen in Szene setzt. Der Mensch lebt "den Prolog im Himmel", am anderen Pol, in der eschatologischen Zukunft ist das Reich Gottes, die vergöttlichte Welt und der freie Mensch. Und in dem Raum befindet sich die Geschichte der Welt, in der drei Kräfte handeln: das Schicksal, Gott und die Freiheit des Menschen. Der Mensch findet dort seine Berufung, seine Einheit mit anderen Menschen und seine eigene messianische Identität.15)
Anmerkungen
* In: Stimme der Orthodoxie 1997, Nr. 3a, Festschrift für Fairy von Lilienfeld, S. 91-93. Übers. v. K.Bambauer.
1) N.Berdiaev, Au seuil de la nouvelle époque [An der Schwelle einer neuen Epoche], Neuchâtel-Paris 1947, S. 99.
2) Guerre et paix,
Vol. IV,1, Paris 1904, S. 9.
3) V.V.Zen'kovskij, Istorija russkoj filosofii [Geschichte der russischen Philosophie] , Paris 1948-50, Vol. I, S. 380.
4) S.Frank, Svet vo t'me [Licht im Dunkel], Paris 1949, S. 177-189.
5) Zen'kovskij, Istorija,
Vol. I, S. 173.
6) V.G.Belinskij, Sočinenija
[Werke],
7) E.Porret, La philosophie chrétienne en Russie. Nicolas Berdiaeff, Neuchâtel 1944, S. 138. [Deutsche Ausgabe: "Nikolaj Berdjajew und die christliche Philosophie in Russland, Heidelberg 1950, S. 172ff.].
8) P.Evdokimov,
L'Orthodoxie, Neuchâtel-Paris 1959, S. 318.
9) Evdokimov, S. 205. [Vgl. zur Problematik des urchristlichen Zeitverständnisses auch: Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt 1995, GA, Bd. 60, bes. S. 87-125].
10) P.Evdokimov, La femme et le salut du monde, Tournai u. Paris 1958, S. 117 [Deutsche Ausgabe: Die Frau und das Heil der Welt, Moers 1989, S. 133].
11) In: S.L.Frank, Iz istorii russkoj mysli konca XIX i načala XX veka, Washington-New York 1965, S. 145ff. [Vgl. zu hier nur angedeuteten Thematik des kenotischen Christus im russischen Denken auch die faszinierende, buddhistische Interpretation bei K.Nishitani, Was ist Religion, Frankfurt 1986, S. 72ff., mit dem Zitat: "Diese Selbst-Entäußerung bedeutet ein In-sich-leer-Werden und daher Knecht-Werden, Leer-Werden (κένωσις). Der Herkunftsort der Inkarnation (sogar in Knechtsgestalt) befindet sich in Gott selber, da, wo er, der Liebende, in sich leer wird; in jenem Ort der kenosis in Gott" (S. 72)].
12) T.Špidlík, La spiritualité del'Orient chrétien. II. La prière, OCA 230, Rom 1988, S. 196ff. [Vgl. auch die instruktive Übersicht der Arbeiten T.Špidlíks zur (insbesondere) russischen Spiritualität bei: H.M.Knechten, Der Weg zum Heil bei Theophan dem Klausner, Diss., Münster 1997, S. 260]. Weiterführend zu Evagrius vgl. Evagrius Pontikus, Briefe aus der Wüste, Übers. v. G.Bunge, Sophia 24, Trier 1986.
13) V.Soloviev, L'idée
russe, Paris 1988, S. 6.
14) Smysl istorii [Der Sinn der Geschichte], Berlin 1923, S. 23.
15) T.Špidlík, L'idée russe. Une autre vision du monde, Troyes 1994, S. 165-194.