Das Gebet um die Zeit des Hahnenschreis
Heinrich Michael Knechten
Der Hahn kräht in Palästina in der Zeit kurz nach Mitternacht bis etwa 2.30 Uhr. Daher heißt die dritte Nachtwache von Mitternacht bis drei Uhr hebräisch qerīáth haggævær, griechisch alektorophōnía, die Zeit des Hahnenschreis (O.Betz).
Diese Zeit mag als Gebetszeit reichlich früh erscheinen. Allerdings wird in Palästina der Arbeitsbeginn für die Weinernte auf drei Uhr morgens festgelegt. Der Zeitraum zwischen Morgendämmerung und Sonnenaufgang wird aufgrund der Lichtverhältnisse in Ländern mit schnell aufsteigender Hitze für die Arbeit genutzt (Th.Hartmann).
Zu diesen praktischen Motiven treten theologische und geistliche, wie die Askese, der Kampf gegen die Dämonen, das engelgleiche Leben (biós angelikós) und das unablässige Gebet (H.Bacht). Der Morgen ist die Zeit der göttlichen Hilfe (Ps 45,6; Ch.Barth).
Das früheste liturgische Zeugnis, das von einem Gebet um die Zeit des Hahnenschreis spricht, ist die Traditio Apostolica.
Traditio Apostolica
Sie wird Ende des 2. Jahrhunderts verfasst. In Abschnitt 41 heißt es: „Beim Hahnenschrei erhebe dich und bete wiederum. Zu dieser Stunde, beim Hahnenschrei, verleugneten die Kinder Israels Christus, den wir durch den Glauben kennengelernt haben. Wir hoffen auf das ewige Licht bei der Auferstehung der Toten und erwarten diesen Tag.“
„Erhebe dich wiederum“. Vorher heißt es: „Erhebe dich um Mitternacht, wasche die Hände mit Wasser und bete. Wenn deine Frau zugegen ist, betet beide gemeinsam. Ist sie aber noch nicht gläubig, geh in ein anderes Zimmer, bete (allein) und kehre dann zurück zu deinem Bett.“
Beim Mitternachtsgebet und beim Gebet um die Zeit des Hahnenschreis handelt es sich um privates, häusliches Gebet. Vom Inhalt des Gebets wird nichts gesagt, wohl aber wird die Wahl dieser Gebetsstunde theologisch begründet: Es ist die Stunde, in der Petrus den Herrn verleugnete (Mk 14,66-72). Das Beten um diese Zeit hat zugleich eine eschatologische Dimension: Die Erwartung des Tages, an dem das Licht nicht verlöscht, und die Hoffnung auf die Auferstehung.
Folgende Schriftstellen verdeutlichen den biblischen Hintergrund: „Deine Sonne wird nicht mehr untergehen und dein Mond wird nicht den Schein verlieren; denn der Herr wird dein ewiges Licht sein und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben“ (Jes 60,20). „Die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offb 21,23). „Es wird keine Nacht mehr geben und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Sonnenlicht; denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten“ (Offb 22,5).
Es handelt sich hier um die älteste Quelle, welche die Gebetsstunden des Tages in den Termini der markinischen Passionserzählung interpretiert, falls die sahidische Übersetzung den griechischen Text der Traditio Apostolica treu wiedergibt (R.Taft).
Es ist zu bedenken, dass die Apostolische Überlieferung die liturgische Tradition verteidigt. Daher werden wohl zum Teil Zustände aus früherer Zeit beschrieben.
Die Traditio Apostolica übt im Westen nur geringen Einfluss aus und wird schließlich vergessen. Der Orient hingegen nimmt sie als Modell an. Dies gilt insbesondere für Ägypten. Sie hat einen großen Einfluss auf die Herausbildung der liturgischen Texte.
Canones Hippolyti
Sie entstehen in Ägypten in der Mitte des 4. Jahrhunderts, beruhen auf der Traditio Apostolica und sind nur arabisch überliefert. Canon 21 lautet: „Bezüglich der täglichen Versammlung aller Priester und des Volkes in der Kirche. Um die Zeit des Hahnenschreis sollen sich täglich die Priester, Diakone, Subdiakone, Lektoren und die ganze Gemeinde in dere Kirche versammeln. Sie sollen das Gebet vollziehen, die Lesung der Schriften und die Gebete.“
In der Mitte des vierten Jahrhunderts findet das Gebet um die Zeit des Hahnenschreis bereits in der Kirche statt. Dazu trägt bei, dass das Ende der Verfolgungszeit gekommen ist. Die ganze Gemeinde kann jetzt daran teilnehmen; es ist kein privates, häusliches Gebet mehr.
Inhaltlich wird mitgeteilt, dass diese Gebetszeit aus Psalmen („das Gebet“), Schriftlesung und Gebeten besteht. Die Psalmen sind eine Antwort auf das Heilswirken Gottes, welche die von ihm ausgehende Bewegung aufnimmt und zu ihrem Ursprung zurückführt (A.Arens).
Die Struktur ist:
Canon 27 weist für diese Gebetszeit auf das Herrenwort hin: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen“ (Mk 13,35). Der Canon folgert: „Dies bedeutet, wir müssen Gott zu jeder Zeit loben“.
In der Traditio Apostolica war die Verleugnung des Petrus als Schriftbeleg für diese Gebetszeit angegeben worden. Hier dagegen finden wir, wiederaus aus dem Markusevangelium, die Mahnung zur Wachsamkeit, weil der Menschensohn auch zur Zeit des Hahnenschreis wiederkommen könnte. Charakterisiert wird diese Gebetszeit als Gotteslob.
Wir stehen in der Mitte des vierten Jahrhunderts und wenden uns nun dem Ende dieses Jahrhunderts zu.
Die Kathedraltradition
Die Ursprünge des Gebets um die Zeit des Hahnenschreis liegen im häuslichen, privaten Bereich. Später wird es in den Bischofs- und Pfarrkirchen unter Beteiligung aller Gläubigen vollzogen. Hier liegt der Ursprung für die Entwicklung der Kathedraltradition.
Egeria stammt wohl aus einem beginenähnlichen Konvent in Galizien. In den Jahren 381-384 ist sie Pilgerin in Jerusalem. Sie berichtet, dass in der Kirche der Auferstehung (der Grabeskirche) täglich das Gebet um die Zeit des Hahnenschreis stattfindet. Über die sonntägliche Kathedralvigil schreibt sie in Kapitel 24:
Zur Zeit des Hahnenschreis steigt der Bischof herab und betritt die Grabeshöhle in der Kirche der Auferstehung. Alle Türen werden geöffnet und die ganze Gemeinde betritt die Kirche, in der schon unendlich viele Lichter brennen. Ein Priester sagt einen Psalm, alle antworten, danach wird ein Gebet gesprochen. Ebenso sagt ein Diakon einen Psalm und ein Gebet folgt. Einer aus dem Klerus sagt einen dritten Psalm, es folgt das dritte Gebet und das Gedächtnis aller (commemoratio omnium).
Danach wird in die Grabeshöhle Weihrauch getragen, sodass sich die ganze Kirche mit Wohlgeruch erfüllt. Der Bischof nimmt innerhalb der Chorschranken (cancelli) das Evangeliar, geht zur Tür der Chorschranken und liest das Evangelium der Auferstehung des Herrn. Sowie er zu lesen beginnt, hört man viel Schreien und Stöhnen aller Menschen. Man sieht viele Tränen, sodass selbst harte Menschen zu Tränen gerührt werden, da der Herr für uns so viel erlitten hat.
Nach der Verlesung des Evangeliums geht der Bischof hinaus und wird unter Psalmengesang zum Kreuz geleitet sowie das ganze Volk mit ihm. Dort wird erneut ein Psalm und ein Gebet gesprochen. Dann segnet er die Gläubigen und entlässt sie. Bei seinem Hinausgehen nähern sie sich seiner Hand (ad manum accedunt), um sie zu küssen.
Hier wird erstmals die Beteiligung des Bischofs am Gebet zur Zeit des Hahnenschreis genannt. Der Bericht bezeugt einen feierlichen Ritus: Die Kirche ist strahlend hell erleuchtet, Weihrauch wird verwendet, das Evangelium verlesen, alles unter großer Beteiligung der Gläubigen.
Nach den Psalmen wird jeweils ein Responsorium gesungen und ein Gebet verrichtet, das im Sinne von Collectae alle Anliegen der Gemeinde zusammenfasst. Das Gedächtnis aller könnte eine Ektenie (Fürbittlitanei) sein, die vom Diakon gesungen wird. Traditionell sind Fürbitten für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können (1 Tim 2,1f). Egeria erwähnt im gleichen Kapitel, in dem sie das Gebet um die Zeit des Hahnenschreis schildert, ein von Kindern immer wiederholtes „Herr, erbarme dich“ (Kyrie eleison).
Der Inzens führt uns zum theologischen Kern dieser Gebetsstunde: Es ist ein Gedächtnis der Myronträgerinnen, die um diese Zeit mit wohlriechenden Salben zum Grab des Herrn gegangen waren (Lk 24,1).
Die Ergriffenheit der Gläubigen deutet darauf hin, dass nicht nur das Auferstehungsevangelium, sondern auch die Leidensgeschichte des Herrn vorgetragen wurde. Leiden, Tod und Auferstehung Christi bilden eine unauflösliche Einheit. Von daher erhält die gesamte Gebetsstunde den Charakter einer Auferstehungsfeier.
Die anschließende Statio beim Kreuz Christi ist das sonntägliche Gedächtnis des Kreuzesleidens Christi. In Jerusalem besteht die Tendenz, die Liturgie zu historisieren (G.Kretschmar).
Der Segen des Bischofs erfolgt wohl nach einem Gebet, bei dem alle ihr Haupt neigen (J.Mateos). Anschließend küssen die Gläubigen dem Bischof die Hand.
Folgende Struktur wird aus diesem Bericht Egerias deutlich:
Im 4. Jahrhundert erfolgt, ausgehend von Jerusalem, ein Aufschwung und eine neue Ausprägung der Liturgie, gefördert durch den Strom der Pilger, der immer mehr anschwillt. In den Lichtern, dem Weihrauch und den kostbaren Gewändern zeigt sich der Reichtum der Heilsgeheimnisse zeichenhaft.
Die Apostolischen Konstitutionen sind zwischen 375 und 400 in Antiochien entstanden. Als Begründung für das Gebet um die Zeit des Hahnenschreis geben sie an:
Betet zur Zeit des Hahnenschreis, weil um diese Stunde die Frohe Botschaft des kommenden Tages verkündet wird, um an ihm die Werke des Lichtes zu tun (Röm 13,12; VIII,34,7). Besonders aber kommt am Tag der Auferstehung des Herrn, am Herrentag, noch eifriger zusammen, um Gott Lob darzubringen, der das All durch Jesus erschaffen hat (Kol 1,16) und Ihn zu uns gesandt hat, der Ihn leiden ließ und von den Toten auferweckte. Denn was will der Gott antworten, der an diesem Tage nicht herbeikommt, um das Wort des Heiles (Apg 13,26) von der Auferstehung zu hören? Da vollenden wir ja drei Gebete stehend im Gedenken an den, der nach drei Tagen auferstand (II,59,3f).
In dieser Anweisung ist eine Mahnung enthalten. Offensichtlich entsprach nicht jeder der Einladung zum frühzeitigen Gebet,
Motive des Gotteslobes sind: Schöpfung durch Jesus und Neuschöpfung durch das Leiden und die Auferstehung Jesu.
R.Zerfass übersetzt spoudaiotérōs durch „frühzeitiger“. Daher beziehen sich diese Angaben wohl auf die Gebetsstunde um die Zeit des Hahnenschreis.
Die drei Gebete entsprechen den drei Psalmen, die in der Kathedralvigil Egerias genannt werden. Als Motiv für ihre Dreizahl wird die Auferstehung Jesu nach dreitägiger Grabesruhe genannt. Die drei Psalmen werden stehend rezitiert.
Die Verlesung des Evangeliums wird mit dem Hören des Heilswortes von der Auferstehung bezeichnet.
Die Apostolischen Konstitutionen nennen also wesentliche Elemente der Kathedralvigil Egerias:
Die monastische Tradition in
Ägypten
Johannes Cassian lebt von 380 bis 399 in Ägypten. In den Instituta Coenobiorum, entstanden zwischen 419 und 426, schreibt er über die bei den Mönchen der Skethis übliche Vigil, die zur Zeit des Hahnenschreis beginnt (III,5,2):
Einer stellte sich in die Mitte, um dem Herrn Psalmen zu singen. Alle blieben sitzen, die Aufmerksamkeit ihres Herzens auf die Worte des Psallierenden gerichtet. Als er elf Psalmen gesungen hatte, unterbrochen von Gebeten, während jeder Vers gleichmäßig gesungen wurde, beendete er den 12. mit einem Alleluja-Responsorium.
Die ehrwürdige Versammlung der Väter war überzeugt, dass nicht ohne die Vorsehung des Herrn eine allgemeine Regel für die Versammlungen der Brüder durch die Belehrung eines Engels festgesetzt worden war. So hatten sie beschlossen, dass für die Abend- und Nachtversammlungen diese Zahl eingehalten werden müsse. Daran schlossen sich zwei Lesungen an, eine aus dem Alten, die andere aus dem Neuen Testament. Als eine eigene Überlieferung und als etwas Außerordentliches fügten sie dies an für jene, die es nur wollten und die sich in einer beständigen Meditation darum bemühten, Gedenken (memoria) der göttlichen Schriften zu besitzen. Am Samstag oder Sonntag dagegen rezitieren sie beide Lesungen aus dem Neuen Testament, die eine aus den Apostelbriefen oder der Apostelgeschichte und die andere aus dem Evangelium (II,5,4-6).
„Am Ende des Psalmes singen alle zusammen stehend das Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste“ (II,8).
Als erster Unterschied gegenüber dem Kathedraloffizium fällt die Länge der Psalmodie auf. Die Zwölfzahl der Psalmen geht auf die Anweisung eines Engels an Pachomius zurück: Als Pachomius einmal in seiner Höhle in Tabennesi, einer Nilinsel in Oberägypten, saß, erschien ihm ein Engel und trug ihm auf, junge Einsiedler zu sammeln und ihnen eine Regel aufzuerlegen. Sie sollten tagsüber zwölf Gebete verrichten, ferner je zwölf Gebete beim Luzernarium (en tō luchnikō) und bei der Vigil (en taīs pannychísi) sowie drei Gebete zur Neunten Stunde (Palladios, Historia Lausiaca 32, hg. v. C.Butler, 92; Vita tertia s. Pachomii 29-32, hg. v. F.Halkin, 275-277).
Nach jedem Psalm wird vom Priester ein Kollektengebet gesprochen (II,10,1). Der zwölfte, der Allelujapsalm, wird mit dem Ehre sei dem Vater, von allen gesungen, abgeschlossen.
Der Allelujapsalm kann einer der Hallel-Psalmen (Pss 112-117) sein oder ein Psalm mit Alleluja-Responsorium.
Die folgenden zwei Lesungen wurden zusätzlich vom Senat der Väter eingeführt. Vorher waren die Lesungen eine private Frömmigkeitsübung.
Hier tritt uns folgende Struktur entgegen:
Gegenüber der Kathedraltradition fällt die äußerste Schlichtheit und Einfachheit auf. Ursprünglich gehörten zu dieser frühmorgendlichen Synaxe (II,10,1) nur die zwölf Psalmen. Sicher war es eine fortlaufende Psalmodie, bei der nach und nach der ganze Psalter gebetet wurde (G.Winkler).
Es handelt sich um eine gemeinsame Meditation der Heiligen Schrift. Die Psalmen werden nicht gemeinschaftlich gebetet, sondern angehört: Die Aufmerksamkeit ihres Herzens ist auf die Worte des Psallierenden gerichtet (II,5,5).
Die Mönche der ägyptischen Wüste üben das unablässige Gebet: „Betet ohne Unterlass“ (1 Thess 5,17). „Der wahre Mönch muss unablässig Gebet und Psalmodie in seinem Herzen haben“ (Apophthegmata Patrum, Epiphanios 3, Patrologia Graeca 65, 164C).
Daher gibt es bei ihnen täglich nur zwei Synaxen, bei denen alle in der Kirche zusammenkommen. Die übrige Zeit verbringen sie in ihrem Kellion mit Handarbeit und gleichzeitiger Meditation der Psalmen oder anderer biblischer Texte.
In einer Erzählung über das Gebet der Mönche im Kellion wird mitgeteilt, dass insgesamt zwölf Psalmen rezitiert werden. Fünf Psalmen zu je sechs Versen werden rezitiert, dazu ein Alleluja (Apophthegmata Patrum, Makarios 33, Patrologia Graeca 65, 277A). Mehr teilt die Erzählung nicht vom Inhalt des Gebets um die Morgenfrühe (perí tēn prōían) mit. Möglicherweise folgten danach noch einmal fünf Psalmen und schließlich zwei. Wichtig ist aber die Information, dass die Psalmen jeweils sechs Verse haben, also die Gesamtlänge begrenzt ist. Nach fünf Psalmen folgt ein Alleluja.
Zenon macht zu jedem Psalm eine Kniebeuge und verrichtet ein Gebet (Codex Coislin 283, f. 185).
Es gibt eine monastische Stellungnahme gegen die Form des Kathedraloffiziums. Abbas Paulos von Kappadokien, der vor den Persern in die Nitrische Wüste geflohen ist, beschwert sich, dass sein geistlicher Vater ihn daran hindere, Kanones und Troparien zu singen, die doch jeder zu singen pflegt. Ihm wird geantwortet, dass der Gesang von Kanones und Troparien zu Priestern gehört, die in der Welt Liturgie feiern. Für Mönche, die fern vom Lärm der Welt leben, kann dies aufgrund der erhöhten Sinnenhaftigkeit sogar schädlich sein (Apophthegmata Patrum, Paulos Euergetinos, Bd. 2, 19,5, Athen 61997, 249).
Ein Bruder klagt sich vor Abbas Silvanos an, er könne Psalmen nur mit einer Melodie singen. Dieser antwortet ihm: Die Altväter Paulos der Einfache, Pambo, Apollon und die anderen gotttragenden Väter, die sogar Tote auferweckt haben und große Wunder taten, erhielten die Macht gegen die Dämonen nicht durch Oden, Troparien und verschiedene Tönen, sondern in einem Gebet voller Zerknirschung und im Fasten, in Gottesfurcht und Trauer, die den Menschen von jeder Sünde reinigt und seinen Geist weißer als der Schnee macht (Codex Sinai 448, 726). In diesem Ausspruch ist die Entwicklung zu den acht Kirchentönen angedeutet.
Die Vigil in Bethlehem
Cassian teilt mit, dass die Vollkommenheit der Ägypter und die unnachahmliche Strenge ihrer Disziplin in Bethlehem gemäßigt werde (Instituta Coenobiorum III,1). Der Morgengottesdienst besteht aus den Psalmen 62 sowie 118 und 147f, die vom morgendlichen Gebet sprechen (III,3,10).
Dass bestimmte Psalmen ausgewählt werden, entspricht dem Brauch des Kathedraloffiziums. Die Mäßigung gegenüber der Gebetsordnung in Ägypten besteht darin, dass nicht zwölf, sondern nur vier Psalmen rezitiert werden. Allerdings hat Ps 118 eine beträchtliche Länge.
Antiochenischer Brauch
Johannes Chrysostomos verfasste die 14. Homilie über den Ersten Timotheusbrief während seiner Zeit in Antiochien (381-398). Darin sagt er zu unserem Thema:
Sobald der Hahn kräht, weckt der Vorsteher die Mönche. Sie stehen auf und singen stehend prophetische Hymnen, wobei ihre Stimmen gut zusammenklingen und die Melodie rhythmisch bewegt ist. Während des Gesangs von Ps 133 (In den Nächten erhebt eure Hände zu Gott) erheben die Mönche ihre Hände im Gebet. Diesem Psalm folgt Jes 26,9 („Meine Seele sehnt sich nach Dir in der Nacht“).
Danach singen die Mönche die davidischen Gesänge, die viele Tränen hervorquellen lassen. Nun werden zwölf Psalmteile zitiert. Der Psalmengesang zeigt die brennende Liebe der Mönche zu Gott. Dann aber singen sie mit den Engeln: „Lobet den Herrn vom Himmel her“ (Ps 148,1).
Ps 133 und Jes 26,9 stellen offensichtlich ein gleichbleibendes Invitatorium dar.
Die Tränen zeigen den geistlichen Nutzen des Psalmengesangs. Gregor von Nazianz, Oratio 40,9, spricht von der Tränentaufe.
Die Zwölfzahl der Psalmen weist auf Zusammenhang mit dem pachomianischen Brauch hin. Die zwölf Psalmzitate wurden gewählt, um zu zeigen, dass die Psalmen Tränen hervorquellen und brennende Liebe zu Gott entzünden können. Vier Psalmen haben Bußcharakter, die anderen drücken Vertrauen aus. Es handelt sich nicht um feststehende Psalmen. Rezitiert wurde wohl eine fortlaufende Psalmodie.
Ps 148,1 dürfte das Incipit der abschließenden Psalmengruppe 148-150 sein. Dies ist das älteste explizite Zeuignis für den Gesang dieser Psalmen im Offizium.
Das Mitsingen der Engel mit den Menschen und der Menschen mit den Engeln wird durch folgende Verse nahegelegt: Lobet den Herrn vom Himmel her, lobt Ihn, all Seine Engel (Ps 148,1f). Lobet den Herrn, ihr auf der Erde (Ps 148,7). Dass die Engel die irdische Liturgie mitfeiern, bezeugt die Chrysostomos-Liturgie beim Gebet zum Kleinen Einzug und beim Cherubikon.
Folgende Struktur ergibt sich:
Die fortlaufende Psalmodie entspricht der monastischen, die feststehenden Psalmen und der rhythmische Gesang der Kathedraltradition. Johannes Chrysostomos bezeugt also eine Synthese zwischen beiden Traditionen.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Gestaltung dieses Gebets werden in folgender Gesamtübersicht deutlich:
Egeria: Jerusalem |
Apostolische Konstitutionen: Syrien |
Johannes Cassian: Ägypten |
Johannes Cassian: Bethlehem |
Johannes Chrysostomos: Antiochien |
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Invitatorium: Ps 133 und Jes 26,9. |
3 Psalmen mit Responsorien und Kollektengebeten. |
3 Psalmen. |
12 Psalmen mit Kollektengebeten, dann Ehre sei dem Vater. |
Ps 62. Ps 118. Ps 147f. |
Veränderliche Psalmodie (zwölf Psalmen). |
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Ps 148-150. |
Allgemeine Fürbitten. |
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Inzens. |
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Auferstehungsevangelium. |
Auferstehungsevangelium. |
2 Lesungen. |
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Prozession zum Kreuz mit Psalmodie. |
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Stationsgottesdienst am Kreuz: Psalm und Kollektengebet. |
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Segen und Entlassung. |
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Beim Gebet um die Zeit des Hahnenschreis begegnen in den Jahren 380-390 folgende liturgische Elemente:
Um die weitere Entwicklung darzustellen, muss auf die beiden Gebetszeiten eingegangen werden, die vor und nach dem Gebet zur Zeit des Hahnenschreis stattfinden.
Über die Jungfräulichkeit
E. v. d. Goltz hält dies für eine echte Schrift Athanasios’ von Alexandrien. M.Aubineau macht aber darauf aufmerksam, dass die hier geschilderten Gebetszeiten auf Kappadokien weisen. Die Zeit ist um 370.
Das Mitternachtsoffizium (Mesonyktikon) hat die Struktur:
Das Morgenoffizium (der Orthros):
Basileios der Große
Brief 2 an Gregor von Nazianz stammt aus dem Jahr 358, Brief 207 an den Klerus von Neocäsarea aus dem Jahr 375.
Das Mesonyktion:
Der Orthros:
Das urbane Mönchtum Kappadokiens setzt die morgendliche Gebetsstunde auf den Tagesbeginn fest, um sie allen zugänglich zu machen. Um der monastischen Bedürfnisse der Gemeinschaft willen wird das Mesonyktikon festgesetzt.
Der Hymnus ist eine Lobpreisung Gottes in metrischer oder stilisierter prosaischer Diktion (J.Kroll). Die Fülle liturgischer Poesie durchflechtet die biblischen Texte wie ein Rankenwerk (A.Baumstark).
Im folgenden Vergleich werden die Ähnlichkeiten deutlich:
Über die Jungfräulichkeit |
Basileios |
Byzantinischer Sonntagsorthros |
Mesonyktikon: Invitatorium (Ps 118,62 und Ps 50). Variable Psalmodie. |
Mesonyktikon: Invitatorium (Jes 26,9 und Ps 118). Variable Psalmodie. |
Beginn: Hexapsalm, Morgengebete. Große Synapte (Ektenie). Ps 117 mit Antwortgesang. Troparien. Variable Psalmodie: 1. Psalmenkathisma. Kleine Synapte. Poesie. 2. Psalmenkathisma. Kleine Synapte. Poesie. |
Orthros: Ps 62. Ps 148-150? Benedicite. Gloria in Excelsis. |
Orthros: Ps 50. Hymnen und Oden. |
Abschluss: Ps 50. Poetischer Kanon. Heilig ist der Herr. Exapostilarion. Ps 148-150 und Stichiren. Gloria in excelsis. Troparien. Ektenien. Hauptneigungsgebet. Segen und Entlassung. |
Der mittlere Teil des Byzantinischen Sonntagsorthros beruht im Wesentlichen auf der Kathedralvigil Jerusalems, wie Egeria sie beschreibt (J.Mateos). Dies zeigt folgende Übersicht:
Kathedralvigil Jerusalems (Egeria) |
Byzantinischer Sonntagsorthros (Mittlerer Teil) |
3 Psalmen mit Responsorien und Kollektengebeten. Allgemeine Fürbitten. Inzens. Auferstehungsevangelium. Prozession zum Kreuz mit Psalmodie. Psalm und Kollektengebet am Kreuz. Segen und Entlassung. |
Ps 134-136. Kleine Synapte. Inzens. Hypakoe. Gradualpsalmen (Pss 119-133). Prokeimenon. Ps 150. Auferstehungsevangelium. Auferstehungshymnus. (Zum Abschluss: Segen und Entlassung.) |
Die These von M.Arranz, das Byzantinische Offizium sei ein Amalgam aus dem des urbanen Basileianischen Mönchtum und aus dem des anachoretischen Mönchtums von Ägypten und Palästina berücksichtigt nicht die Kathedralelemente im Byzantinischen Offizium.
Es ist erstaunlich, dass die Kathedraltradition über die Jahrhunderte hinweg in wesentlichen Elementen bewahrt werden konnte, da es von monastischer Seite aus gegen sie Widerstand gab. Am Sinai wird im 6./7. Jahrhundert die Auffassung von Abbas Silvanos wiederholt, für Mönche zieme es sich nicht, Tropraien zu singen, sie sollten vielmehr ihre Sünden beweinen (Abbas Johannes und Sophronios).
In der Hagia Sophia (Konstantinopel) entwickelt sich eine reich ornamentierte Psalmodie. Diese asmatische Tradition findet in Symeon von Thessalonich † 1429) ihren letzten Vertreter.
„Über das Zeugnis der Liturgie erkennt man die Tradition der Kirche“ (M.Ma Garijo Guembe). Im Orthros werden zwei einander entgegengesetzte Auffassungen wie die monastische und die Kathedraltradition integriert. Das meditative wie das festliche Element prägen diese Gebetszeit gleichermaßen.
Ein kurzer Blick auf die westliche Tradition zeigt ihre Verbindung mit der östlichen. Im Ambrosianischen Ritus wird zu Beginn der Nokturn ein Teil des Canticums der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan 3,52-56) gesungen (Hanssens, Nature, 24).
Zur Nokturn gehört der ambrosianische Hymnus „Aeterna rerum conditor“, bezeugt durch Augustinus, Retractationes I,21. Hilarius von Poitiers († 367) ist der erste Hymnendichter des Abendlandes. Doch erst Ambrosius von Mailand († 397) kann den Gesang der Gemeinde einführen. Ambrosius hat enge Beziehungen zum Osten. Dort liegen die Wurzeln für Hymnus und Antiphonie (A.Baumstark). Im Jahre 386 ist der Hymnengesang und zugleich der antiphonische Psalmengesang eine feststehende Einrichtung der Mailänder Kirche. Von Mailand aus hat sich diese Art des Gesangs über das ganze Abendland verbreitet.
Der Inhalt des Hymnus „Aeterne rerum conditor“ weist auf den Beginn der Nokturn zur Zeit des Hahnenschreis hin:
Aeterne rerum Conditor, Noctem diemque qui regis, Et temporum das tempora, Ut alleves fastidium. |
Ewiger Schöpfer aller Welt, Du lenkst die Nacht und auch den Tag, Bestimmst den Wechsel aller Zeit Dass nie entstehe Einerlei. |
Nocturna lux viantibus A nocte noctem segregans, Praeco diei iam sonat, Iubarque solis evocat. |
Du bist des Wanderers nächtlich Licht Das alle Nacht zum Ende führt, Schon tönt des Hahnes Morgenruf Und lockt hervor der Sonne Strahl. |
Hoc excitatus lucifer Solvit polum caligine, Hoc omnis erronum cohors Viam nocendi deserit. |
Sein Ruf erweckt den Morgenstern, Macht frei die Welt von Finsternis, Da weicht der dunklen Mächte Schar Vom Weg des Unheils scheu zurück. |
Hoc nauta vires colligit, Pontique mitescunt freta: Hoc, ipsa petra Ecclesiae, Canente, culpam diluit. |
Der Seemann schöpft nun neuen Mut, Die Meereswogen glätten sich, Der Fels der Kirche, Petrus, weint, Bereut die Schuld beim Hahnenschrei. |
Surgamus ergo strenue Gallus iacentes excitat, Et somnolentos increpat, Gallus negantes arguit. |
So stehet rasch vom Schlafe auf, Die Schlummernden erweckt der Hahn, Der Hahn bedrängt, die säumig sind, Der Hahn klagt die Verleugner an. |
Gallo canente spes redit, Aegris salus refunditur, Mucro latronis conditur, Lapsis fides revertitur. |
Beim Hahnenschrei zieht Hoffnung ein, Genesung strömt dem Kranken zu, Der Räuber steckt den Dolch jetzt ein Gefallene vertrauen neu. |
Iesu labentes respice, Et nos videndo corrige: Si respicis, labes cadunt, Fletuque culpa solvitur. |
Die Fallenden sieh, Jesus, an, Durch Deinen Blick führ uns zurück, Es sinke unsere Sündenlast, In Tränen löse sich die Schuld. |
Tu lux refulge sensibus, Mentisque somnum discute: Te nostra vox primum sonet, Et vota solvamus tibi. |
Du Licht, erleuchte unser Herz, Von unsrem Geist vertreib den Schlaf, Dir sei das erste Lob geweiht, Was Dir versprochen, halten wir. |
Deo Patri sit gloria, Eiusque soli Filio, Cum Spiritu Paraclito, Nunc, et per omne saeculum. Amen. |
Lob sei dem Vater auf dem Thron Und Seinem eingebornen Sohn, Dem Heiligen Geist auch allezeit Von nun an bis in Ewigkeit. Amen. |
Quellen
Weiterführende Literatur