Hades
„Rette mich, Gott; denn Wasser ist bis an die Seele
gekommen. Ich bin versunken in tiefem Schlamm und kein fester Grund ist da.“
(Ps
68,2f nach der Zählung der Septuaginta und Vulgata).
„Lass die Tiefe mich nicht verschlingen und lass die
Grube ihren Mund nicht über mir verschließen“ (Ps 68,16).
In einer solchen Situation liegt die Flucht in
Alkohol, Drogen oder Medikamente nahe. Doch dadurch wird es schlimmer.
Hilfreich ist es dagegen, zu arbeiten, Zeiten der
Stille zu halten, sich mit dem Andrängenden nicht zu identifizieren, sondern es
gleichsam vor sich aufzustellen und es auszuhalten.
Das ist der Gang durch den Hades, ohne den der
Aufstieg zum Berge Thabor nicht möglich ist.
Das Schreckliche verfügt über eine große Macht, die
aber auch Widriges hinwegfegen oder ihm das Zerstörerische nehmen kann.
Rudolf Otto schrieb in seinem Buch „Das Heilige“ vom
mysterium fascinans, bei Lotz symbolisiert durch ein Bild des heiligen
Dominikus, wie er sich der beglückenden Betrachtung hingibt.
Fra
Angelico da Fiesole, Heiliger Dominikus, aus dem Fresko „Verspottung Christi“
in einer Zelle des Klosters San Marco, Florenz (1440-1445)
Otto sprach aber auch vom mysterium tremendum,
aufgewiesen durch Lotz an einer Holzstatue Niklaus’ von Flüe, die sein vom
Blitz des Numens getroffenes, zerfurchtes Angesicht zeigt.
Niklaus
von Flüe, Skulptur aus dem Jahre 1504, heute im Rathaus zu Stans
Wer, bildhaft gesprochen, in einer Grube ist, sollte
nicht graben; denn sonst wird sie tiefer. Dies richtet sich gegen das Grübeln
und Hadern, das die Lage nicht besser macht.
Wenn quälende Erinnerungen oder Bilder der
Vergangenheit auftauchen, nicht kommentieren oder diskutieren, sondern sie
einfach anschauen; also kein inneres Gespräch führen.
Wer sich „verloren“ vorkommt, ist auf dem richtigen
Weg; denn den Weg der Stille gehen nur wenige. Dafür ist der innere Reichtum
da: „Alle Herrlichkeit der Königstochter ist im Inneren“ (Ps 44,14).
„Nichts ist schwer, sind wir nur leicht.“
(Richard
Dehmel, Verklärung, in: Schöne wilde Welt, Berlin 1913, 85).
Kleine Schwierigkeiten klein sein lassen.
Bibliographie
· Blanke,
Fritz (1900-1967), Bruder Klaus von Flüe. Seine innere Geschichte,
Zwingli-Bücherei 55, Zürich 1948, 37: „Über die Ursache dieses Schreckens
pflegte er selber zu sagen, daß er ein durchdringendes Licht gesehen habe, das
ein menschliches Antlitz darstellte. Bei diesem Anblick habe er gefürchtet,
sein Herz würde in kleine Stücke zerspringen, weshalb er auch, überwältigt,
sogleich den Blick abgewendet habe und zur Erde gestürzt sei.“
· Dehmel,
Richard Fëdor Leopold (1863-1920), Schöne wilde Welt. Neue Gedichte und
Sprüche, Berlin 1913.
· Lotz,
Johannes Baptist (1903-1992), Einübung ins Meditieren am Neuen Testamen,
Frankfurt am Main 21967, 15f: „Zwei Bilder sind beigefügt, die nicht
eine besondere Bildmeditation betreffen, sondern das Meditieren als den alle
Übungen umfassenden Vorgang in Gang bringen oder wenigstens erleichtern sollen.
Sie stellen zugleich zwei Grundtypen von Meditierenden dar, die den beiden
Grundweisen der Mitteilung Gottes zugeordnet sind, nämlich dem Anziehenden oder
Hinreißenden (Fascinosum) und dem Erschreckenden oder Erschütternden
(Tremendum).
Das eine Bild zeigt den meditierenden Dominikus von Fra Angelico da Fiesole aus
dem Kloster San Marco in Florenz. Aus diesem Meditierenden strahlt tiefe
Sammlung, unendlicher Friede, selige Beglückung; er ist ganz versunken in die
Geheimnisse Christi, des menschgewordenen Sohnes Gottes, der ihn liebevoll
anzieht oder in sich hineinzieht, der ihn mit sanfter Kraft hinreißt und verwandelt.
Aus dem andern Bild blickt uns eine Skulptur des heiligen Niklaus von Flüe an,
die aus dem Jahre 1504 stammt und sich heute im Rathaus zu Stans befindet; sie
stellt den Heiligen in oder unmittelbar nach seiner Schau des Gotteshauptes am
nächtlichen Himmel dar. Dieser Schauende oder Meditierende ist von dem unsagbar
Erschreckenden oder erschütternden Gottes- oder Christus-Geheimnis überwältigt.
Seine hochgezogenen Augenbrauen, seine weit aufgesperrten Augen, sein offener
Mund zeigen einen Mann, der außer sich ist, über sich hinausgerissen und
aufgerissen in äußerstem Erzittern vor der fast nicht zu ertragenden und
richtenden Übermacht.
Ähnliches hat in grauer Vorzeit Isaias erlitten, wie er im sechsten Kapitel
seiner Prophetie berichtet; ihm drängt sich der Ruf über die Lippen: „Weh mir!
Ich bin verloren!“ (6, 5). –
Im tiefgehenden Meditieren werden sich beide Weisen des Erfahrens immer wieder
ablösen, durchdringen und ergänzen. Nur wer den Schrecken auszuhalten bereit
ist, wird die Seligkeit verkosten, wird in das Licht eingehen, das alles Dunkel
überstrahlt.“
· Otto,
Rudolf (1869-1937), Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des
Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.
© Pfr. Dr. Heinrich Michael Knechten, Horneburg 2021