Gedichte
Inhalt
Das
Wessobrunner Gebet (um 790)
Andreas
Gryphius (1616-1664), Tränen des Vaterlandes
Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Friedrich
Hölderlin (1770-1843), Hälfte des Lebens
Friedrich
von Hardenberg (Novalis; 1772-1801)
Karoline
von Günderode (1780-1806), Die eine Klage (1804)
Joseph
von Eichendorff (1788-1857), Mondnacht
Annette
von Droste-Hülshoff (1797-1848), Am Turme
Christian
Friedrich Hebbel (1813-1863), Dem Schmerz sein Recht
Theodor
Storm (1817-1888), Die Stadt
Conrad
Ferdinand Meyer (1825-1898), Der römische Brunnen
Marie
von Ebner-Eschenbach, geborene Gräfin Dubsky (1830-1916), Ein kleines Lied
Friedrich
Nietzsche (1844-1900), Venedig
Hugo
von Hofmannsthal (1874-1929), Ballade des äußeren Lebens
Ricarda
Huch (1864-1947), Der Verbannte
Agnes
Miegel (1879-1964), September
Ina
Seidel (1885-1974), Dies und das
Rainer
Maria Rilke (1875-1926), Herbsttag
Else
Lasker-Schüler (1869-1945), Mein blaues Klavier
Elisabeth
Langgässner (1899-1950), Daphne
Marie
Luise Kaschnitz (1901-1974)
Nelly
(Leonie) Sachs (1891-1970)
Ingeborg
Bachmann (1926-1973), Reklame (1956)
Silja
(Cécile) Walter (1919-2011)
Dat gafregin ih mit
firahim firiuuizzo meista Dat ero ni uuas noh
ufhimil noh paum noh pereg ni uuas ni [kazungali] nohheinig
noh sunna ni scein noh mano ni liuhta noh der
mareo seo Da dar niuuiht ni uuas
enteo ni uuenteo enti do uuas der eine
almahtico cot manno miltisto enti dar uuarun auh manake
mit inan cootlihhe geista enti cot heilac […] Cot almahtico du himil
enti erda gauuorahtos enti du mannun so manac coot forgapi forgip mir in dina
ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon uuistom enti spahida enti craft
tiuflun za uuidarstantanne enti arc za piuuisanne enti dinan uuilleon za
gauurchanne |
Das erfuhr ich unter den
Menschen als der Wunder größtes, Daß Erde nicht war noch
Himmel, Noch Baum noch Berg nicht
war Noch irgendein [Stern]
noch die Sonne nicht schien, Noch der Mond nicht
leuchtete noch das herrliche Meer, Als da nichts war von
Enden und Grenzen, Da war der eine
allmächtige Gott, der Menschen mildester, Da waren auch viele göttliche
Geister mit ihm. Und der heilige Gott […] Gott, Allmächtiger, der du
Himmel und Erde erschaffen und den Menschen so viele gute Gaben gegeben hast,
gib mir in deiner Gnade rechten Glauben und guten Willen, Weisheit, Klugheit
und Kraft, dem Teufel zu widerstehen, das Böse zu meiden und deinen Willen zu
verwirklichen. |
Das Wessobrunner Gebet, in:
Sammelhandschrift aus dem Jahre 814, in: Bayerische Staatsbibliothek, München,
Clm 22053, Blatt 65 Vorderseite / 66 Rückseite.
Das Wessobrunner Gebet, in:
Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, herausgegeben von Elias von
Steinmeyer, Band II, Berlin 1916, 16f.
Ernst Heilgardt,
Wessobrunner Schöpfungshymnus und Gebet, in: Althochdeutsche und altsächsische
Literatur, herausgegeben von Rolf Bergmann, Berlin und Boston 2013, 510-515.
Hans Pörnbacher, Das
Wessobrunner Gebet, Lindenberg, 4. Auflage 2011.
Ute Schwab, Die Sternrune im
Wessobrunner Gebet, Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 1,
Amsterdam 1973.
Heinrich Tiefenbach,
Wessobrunner Schöpfungsgeschichte, Reallexikon der germanischen Altertumskunde,
herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer, Band 33,
Berlin und New York 2006, 513-516.
Die Vǫluspá, die
Weissagung der Seherin, ist das bedeutendste Gedicht des nordischen
Mittelalters.
Daß am Anfang nichts war,
wird auch in der Vǫluspá beschrieben, doch die creatio ex nihilo
(Schöpfung aus dem Nichts) ist ein genuin jüdisches und christliches Element.
Möglicherweise gab ein angelsächsischer Missionar den Auftrag, diesen Text zur
Taufvorbereitung der Sachsen zu schreiben.
(*
um 1170, † zwischen 1228 und 1230)
Ich saz ûf eime steine, und dahte bein mit beine: dar ûf satzt ich den ellenbogen: ich hete in mîne hant gesmogen daz kinne und ein mîn wange. dô dâhte ich mir vil ange, wie man zer welte solte leben: deheinen rât kond ich gegeben, wie man driu dinc erwurbe, der keines niht verdurbe. diu zwei sind êre und varnde guot, daz dicke ein ander schaden tuot: daz dritte ist gotes hulde, der zweier übergulde. die wollte ich gerne in einen schrîn. jâ leider desn mac niht gesîn, daz guot und weltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen. stîg unde wege sint in benomen: untriuwe ist in der sâze, gewalt vert ûf der strâze: fride unde reht sind sêre wunt. diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt. |
Ich saß auf einem Steine, und schlug ein Bein auf das andere: darauf setzte ich den Ellenbogen: ich hatte in meine Hand geschmiegt das Kinn und eine meiner Wangen. Da erwog ich eingehend, wie man auf der Welt leben sollte: doch keinen Rat konnte ich finden, wie man drei Dinge erwerben könnte, sodaß keines von ihnen verdürbe. Zwei davon sind Ansehen und Besitz, die sich oft gegenseitig schaden: das Dritte ist Gottes Gnade, welche die beiden anderen übertrifft. Die wollt ich gern in einem Schrein. Doch das kann leider nicht geschehn, daß Besitz und weltliche Ehre und Gottes Gnade dazu zusammen in ein
Herz kommen. Steg und Weg ist ihnen genommen: Untreue (Verrat) lauert im Hinterhalt, Gewalt zieht auf der Straße: Frieden und Recht sind sehr wund. Die drei Dinge haben keinen Schutz, bis diese zwei gesund werden. |
Dies ist die „Reichsklage“ über den um 1200 tobenden
Thronfolgestreit zwischen dem Staufer Philipp von Schwaben (* 1177 in Pavia,
seit 1198 römisch-deutscher König, ermordet 1208 in Bamberg) und dem Welfen
Otto IV. (1175-1218), seit 1209 bis zu seinem Tode Kaiser des römisch-deutschen
Reiches.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 35.
Eric Marzo-Wilhelm, Walther von der Vogelweide.
Zwischen Poesie und Propaganda. Untersuchungen zur Autoritätsproblematik und zu
Legitimationsstrategien eines mittelalterlichen Sangspruchdichters ,
Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B,
Untersuchungen, Band 70, Frankfurt am Main 1998.
Heinz Rölleke, „Ich saz ûf einem steine …“.
Ikonographische und literarische Rezeption des Reichsspruchs Walthers von der
Vogelweide, in: Wirkendes Wort 57 (2007), Nr. 2, 173-183.
Wir sind doch nunmehr ganz, ja ganz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun,
Das vom Blut fette Schwert, die donnernde Karthaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrat aufgezehret.
Die Türme stehn in Glut, die Kirch ist umgekehret,
Das Rathaus liegt im Graus, die Starken sind zerhaun,
Die Jungfraun sind geschändʼt, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest und Tod, der Herz und Geist durchfähret.
Hier durch die Schanz und Stadt rinnt allzeit frisches
Blut;
Dreimal sindʼs schon sechs Jahr, als unsrer Ströme Flut,
Von Leichen fast verstopft, sich langsam fortgedrungen;
Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot;
Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.
Die Kartaune ist ein Vorderladergeschütz des 15. und
16. Jahrhunderts, italienisch: quartana bombarda – ein Viertel einer
hundertpfündigen Büchsenkugel.
Die Schanze ist ein als Verteidigungsanlage
aufgeworfener Erdwall.
Der Form nach handelt es sich hier um ein Sonett
(kleines Tonstück; Klanggedicht, von sonare – tönen, klingen): vierzehn
metrisch gegliederte Verszeilen, zunächst zwei Quartette und dann zwei
Terzette.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 112.
Genevieve Mulack, Andreas Gryphius – Tränen des
Vaterlandes. Interpretation, München 2011.
Julia Sailer, Andreas Gryphius – Tränen des
Vaterlandes, München 2001.
Katharina Schweinsberg, Ruinendiskurs in der
Literatur. Andreas Gryphiusʼ „Tränen des Vaterlandes, anno 1636“, München
2017.
Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke
Wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
Uns einander in das Herz zu sehn,
Um durch all die seltenen Gewühle
Unser wahr Verhältnis auszuspähn?
Ach, so viele tausend Menschen kennen,
Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
Schweben zwecklos hin und her und rennen
Hoffnungslos in unversehnem Schmerz;
Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
Unerwartʼte Morgenröte tagt.
Nur uns armen liebevollen beiden
Ist das wechselseitge Glück versagt,
Uns zu lieben, ohn uns zu verstehen,
In dem andern sehn, was er nie war,
Immer frisch auf Traumglück auszugehen
Und zu schwanken auch in Traumgefahr.
Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt!
Glücklich, dem die Ahndung eitel wär!
Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau;
Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
Spähtest, wie die reine Nerve klingt,
Konntest mich mit einem Blicke lesen,
Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt.
Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
Richtetest den wilden, irren Lauf,
Und in deinen Engelsarmen ruhte
Die zerstörte Brust sich wieder auf.
Hieltest zauberleicht ihn angebunden
Und vergaukeltest ihm manchen Tag.
Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
Da er dankbar dir zu Füßen lag,
Fühltʼ sein Herz an deinem Herzen schwellen,
Fühlte sich in deinem Auge gut,
Alle seine Sinnen sich erhellen
Und beruhigen sein brausend Blut.
Und von allem dem schwebt ein Erinnern
Nur noch um das ungewisse Herz,
Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
Und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
Und wir scheinen uns nur halb beseelet,
Dämmernd ist um uns der hellste Tag.
Glücklich, daß das Schicksal, das uns quälet,
Uns doch nicht verändern mag.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 192-194.
Matthew Bell, „Im Herbst, 1775“ and „Warum gabst du
uns die tiefen Blicke“. Estrangement,
Ambiguity, and the Melancholy Voice, in: Publications of the English Goethe
Society, N. S. 76 (2006), Nr. 1, 13-27.
Helmut Koopmann, Liebeszweifel und Selbsterkenntnis im
Gedicht „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“, Gedichte von Johann Wolfgang
Goethe, Stuttgart 2009, 62-76.
Edward Timms
(1937-2018), The Matrix of the Love. „Warum gabst du uns die
tiefen Blicke“, in: German Life and Letters N. S. 36 (1982/1983), Nummer 1 / 2:
Special Goethe number, 49-65.
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 334f.
Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens. Versuch über
Hölderlins Poetik, Berlin 2020.
Peter Utz, Nachreife des fremden Wortes. Hölderlins
„Hälfte des Lebens“ und die Poetik des Übersetzens, Paderborn 2017.
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu rechter Klarheit wieder gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung deutscher Gedichte für
gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur
Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und Kaiserswaldau
(1903-1987), Düsseldorf 1966, 342f.
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“. Interpretation,
School Scout 2007: Der Frühromantiker Novalis (Friedrich von Hardenberg) ruft
in diesem poetologischen Gedicht die erneuerte Welt mit Hilfe der Poesie an.
Valentin Tanner, Analyse von Novalisʼ Gedicht
„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren“, München 2017.
Wer die tiefste aller Wunden
Hat in Geist und Sinn empfunden,
Bittrer Trennung Schmerz;
Wer geliebt, was er verloren,
Lassen muß, was er erkoren,
Das geliebte Herz.
Der versteht in Lust die Tränen
Und der Liebe ewig Sehnen
Eins in Zwei zu sein,
Eins im andern sich zu finden,
Daß der Zweiheit Grenzen schwinden,
Und des Daseins Pein.
Wer so ganz in Herz und Sinnen
Konnt ein Wesen lieb gewinnen,
Oh! den tröstetʼs nicht,
Daß für Freuden, die verloren,
Neue werden neu geboren:
Jene sindʼs doch nicht.
Das geliebte, süße Leben,
Dieses Nehmen und dies Geben,
Wort und Sinn und Blick,
Dieses Suchen und dies Finden,
Dieses Denken und Empfinden
Gibt kein Gott zurück.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 369f.
Jacqueline von Straelen, Vergleich der Gedichte „Die
eine Klage“ von Karoline von Günderode und „Der Schnee“ von Sarah Kirsch,
München 2016.
Gisela Trahms, Karoline von Günderode: „Die eine
Klage“, in: Frankfurter Anthologie, 22.7.2016.
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Die Luft ging durch die Felder
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus.
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 382f.
Wolfgang Frühwald, Interpretation. Eichendorff,
Mondnacht, Stuttgart 2009.
Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
Und drunten seh ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
Und glänzende Flecken schnellen.
O, springen möcht ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!
Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte;
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöwe streifen.
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 467.
Ulrich Wollheim, Poesie vom hohen Turme. Annette von
Droste-Hülshoff. Eine vielseitig begabte Künstlerin, in: Droste-Jahrbuch 4
(1997/1998), 272-275.
Anonym, Das Frauenbild in Annette von
Droste-Hüllshoffs Gedicht „Am Turme“, München 2019.
Karl-Bernhard Bödeker, Annette von Droste Hülshoff
(1797-1848), „Am Turme“ (1841/1842), in: Poetry Project, herausgegeben von
Florian Krobb, Oxford 2003, 67-71.
Mänaden (griechisch μανία – Raserei)
sind die tanzenden Begleiterinnen der dionysischen Züge.
Fant (italienisch fante – Bursche) bezeichnet einen
jungen, unerfahrenen Mann.
Der Ort des Gedichtes ist der Turm der Merseburg am
Bodensee. Ausgedrückt wird die Sehnsucht nach einem ungebändigten Leben,
uneingeengt durch das comme il faut
einer vorgeschriebenen Rolle.
Viertes
Gedicht von elf Gedichten dieses Zyklusʼ (1836)
Schlafen, Schlafen, nichts als Schlafen!
Kein Erwachen, keinen Traum!
Jener Wehen, die mich trafen,
Leisestes Erinnern kaum,
Daß ich, wenn des Lebens Fülle
Nieder klingt in meine Ruhʼ,
Nur noch tiefer mich verhülle,
Fester zu die Augen tuʼ!
Wolfgang Düsing, Das Martyrium des Dichters Hebbels
lyrischer Zyklus „Dem Schmerz sein Recht“, in: Humanität und Realität im Werk
Friedrich Hebbels, herausgegeben von Ida Koller-Andorf, Wien 2019, 19-45.
Johann Müller, Das Weltbild Friedrich Hebbels,
Habilitationsschrift, Jena 1953.
Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.
Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohnʼ Unterlaß;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.
Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 491.
Paul Bartz (1943-2013), Theodor Storm. Wanderer gegen
Zeit und Welt. Biographie, Berlin 2004.
Jochen Missfeldt, Du graue Stadt am Meer. Der Dichter
Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie, München 2013.
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 513.
Angela Wieser, Conrad Ferdinand Meyer, Der römische
Brunnen, München 2001.
Gerhard F. Probst, Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Der
römische Brunnen“ und Goethes „Gesang der Geister über den Wassern“, in: The
German Quarterly 47 (1974), Nr. 2, 233-244.
Geborene
Gräfin Dubsky (1830-1916)
Ein kleines Lied. Wie gehtʼs nur an,
Daß man so lieb es haben kann,
Was
liegt darin? Erzähle!
Es liegt darin ein wenig Klang,
Ein wenig Wohllaut und Gesang
Und
eine ganze Seele.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 541f.
Marianne Wintersteiner, Ein kleines Lied, wie fängtʼs
nur an … Das Leben der Marie von Ebner-Eschenbach. Eine erzählende Biographie, Heilbronn
1989.
Marie von Ebner-Eschenbach, Ein kleines Lied.
Österreichische Dichterschulen, Zürich 2013.
An der Brücke stand
Jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
Goldener Tropfen quollʼs
Über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik –
Trunken schwammʼs in die Dämmrung hinaus …
Meine Seele, ein Saitenspiel,
Sang sich, unsichtbar berührt,
Heimlich ein Gondellied dazu,
Zitternd vor bunter Seligkeit …
– Hörte jemand ihr zu?
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 547f.
Sander L. Gilman, „Braune Nacht“. Friedrich Nietzscheʼs
Venetian Poems, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), 247-260.
Kai Kauffmann, Gondeln, Lichter, Musik, in:
Nietzsche-Studien 17 (1988), 158-178.
Michael Karlsson Pedersen, Zittern und Zweifel. Über
musikalischen Eskapismus in Nietzsches „Venedig“-Gedicht, in: Nietzsche und die
Lyrik. Ein Kompendium, herausgegeben von Christian Benne und Claus Zittel,
Stuttgart 2017, 299-309.
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.
Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte …
Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?
Was frommtʼs, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt.
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 609.
Hugo von Hofmannsthal, „Ballade des äußeren Lebens“ im
Vergleich mit „Vorschlag“ von Günter Kunert, School Scout 2006.
Walter Franke, Hugo von Hofmannsthal, Ballade des
äußeren Lebens, in: Wege zum Gedicht 1 (1962), 273-278.
Der Abend grüßt das Tal; ihr feuchtes Schlafgemach
Betritt die Sonne froh auf der vertrauten Bahn.
Zum Ufer wieder lenkt der Schiffer seinen Kahn;
Schon winkt ihm durch das Grün ein wohlbekanntes Dach.
Gern wallt die Herde heim, dem müden Hirten nach.
Die Sorg und Müh und Last, den ruhelosen Wahn
Vergißt die Seele nun, der Heimat Bilder nahn,
Und freudʼge Sehnsucht wird in jedem Busen wach.
Wem aber ewig sich das Vaterland verschlossen,
Der sucht sich andre Wege. Wenn im dunklen Spiegel
Des Sees erloschen schon der Glanz der Silberfirne,
Zieht er noch seinen öden Pfad. Ihm sind Genossen
Nachtvögel nur, die freudlos flattern; denn das Siegel
Der Einsamkeit trägt er auf der umwölkten Stirne.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 575
Cord-Friedrich Berghahn, Jörg Paulus und Jan Röhnert,
Herausgeber, Geschichtsgefühl und Gestaltungskraft.
Fiktionalisierungsverfahren, Gattungspoetik und Autoreflexion bei Ricarda Huch,
Germanisch-romanische Monatsschrift, Beiheft 75, Heidelberg 2016.
Katrin Lemke, Ricarda Huch. Die Summe des Ganzen.
Leben und Werk, Wiesbaden, zweite Auflage 2017.
Dies sind die liebsten Tage mir im Jahr_
Die ersten Astern blühen in den Beeren,
Die Luft ist kirchenstill und blau und klar
Und ganz erfüllt vom Dufte der Reseden.
Kein Vogelschlag durchklingt den Sonnenschein,
Doch unablässig zirpen die Zikaden, –
Bei ihrem Schwirren in dem Abendschein
Geh, Seele, satt von Welt und Sonne ein,
Ein müdes Kind, zu letzten Schlummers Gnaden.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 590.
Ruth Piezner, Die Natur im Werk Agnes Miegels,
Rostocker Studien 2, Rostock 1937.
Uwe Wolf, Agnes Miegel und das Leben in Quarantäne,
Neustadt an der Orla 2020.
Du und ich, wir hatten dies und das:
Blanke Kiesel, Muscheln, Vogelnester,
Kugeln auch aus bunt gestriemtem Glas,
Und du warst der Bruder, ich die Schwester,
Und wir stritten uns um dies und das:
Um Kastanien, Kolben aus dem Röhricht,
Und wir wurden groß, und es schien töricht,
Es erschien uns alles als ein Spiel,
Als ein Nichts erschien uns dies und das.
Heute nun, da du vor mir des Balles
Müde wardst, und er in meiner Hand
Liegen blieb wie ein vergeßnes Pfand,
Weiß ich: dies und das, ach, es war viel!
Lieber Bruder, dies und das war alles. –
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 597.
Karl August Horst,
Ina Seidel. Wesen und Werk, Stuttgart 1956.
Nina Nowara-Matusik, „da die Tränen der Frauen stark
genug sein werden …“ Zum Bild der Frau im Erzählwerk Ina Seidels, Kattowitz
2016.
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade.
Der reinen Wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
Dort nimm das tiefe gelb. das weiche grau
Von birken und von buchs. der wind ist lau.
Die späten rosen welkten noch nicht ganz.
Erlese küsse sie und flicht den kranz.
Vergiss auch diese letzten astern nicht.
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 601.
Anonym, „Eine Kunst für die Kunst schaffen“. Ästhetik
als höchstes Gebot. Gedichtinterpretation zu Stefan Georges Gedicht „Komm in
den totgesagten park und schau“, München 2007.
Jürgen Egyptien, Stefan George. Werkkommentar, Berlin
und Boston 2017.
Elisabeth Monika Hartmann, Naturlyrik. Eine
Sachanalyse und Didaktikanalyse. „Mailied“ von Goethe. „Nachtlied“ von
Eichendorff. „Komm in den totgesagten park und schau“ von George, München 2018.
Erik Müllers, Stefan George „Komm in den totgesagten
park“, München 2002.
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
Gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
Dränge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 613.
Peter Por, Rilkes „Herbsttag“. Die Aneignung der
Tradition (Pindar, DʼAnnunzio, Symbolismus) zum Kunstwerk, in: Rilke
heute. Der Ort des Dichters in der Moderne, herausgegeben von Vera Hauschild,
Frankfurt am Main 1997, 140-159.
Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.
Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.
Es spielen Sternenhände vier
– Die Mondfrau sang im Boote –
Nun tanzen die Ratten im Geklirr.
Zerbrochen ist die Klaviatür…
Ich beweine die blaue Tote.
Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür –
Auch wider dem Verbote.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 636.
Norbert Oellers, Verluste. Zu Else Lasker-Schülers
Gedicht „Mein blaues Klavier“, in: In meinem Turm in den Wolken, herausgegeben
von Ulla Hahn, Wuppertal 2002, 185-194.
Jürgen Goldstein, Blau, Berlin 2017, 71-74 (Die Ratten
im blauen Klavier der Else Lasker-Schüler).
Georg
Heym (1887-1912), Der Gott der Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.
Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
Die großen Städte knieen um ihn her.
Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.
Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
Der Millionen durch die Straßen laut.
Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.
Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.
Er streckt im Dunkel seine Fleischerfaust.
Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
Baal (בעל
Herr) – Berg-, Wetter- und Fruchtbarkeitsgott in Ugarit, Kanaan und Ägypten.
Korybanten
(κορύβαντες) –
Vegetationsdämonen und orgiastische Ritualtänzer, welche die Göttin Kybele
(κυβέλη) begleiten.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 644f.
Anonym, „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym. Eine
Gedichtanalyse, München 2018.
Thomas Franz, Die mythisierende Beschwörung der
Großstadt als ein dämonisches Wesen in der frühexpressionistischen Lyrik. Das
Gedicht „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym, München 2018.
Angelina Kalden, Großstadt im Expressionismus. Eine
Untersuchung der Gedichte „Städter“, „Der Gott der Stadt“, „Die Stadt“ und
„Punkt“, Hamburg 2015.
Du siehst, wo sich der Waldhang weitet,
Die Espe zitternd niederwehn,
Dem Brand des Himmels hingebreitet,
Von Gras und Habichtskraut begleitet,
Die ärmlich in den Winter gehen.
Doch auch das Dunkel einer Mauer,
Wenn sie am Saum der Städte lebt,
Berührt oft ihrer Krone Schauer,
An dem du dieser Zeiten Trauer
Ermissest, da sie grundlos bebt.
Sie wurzelt mühsam im Gerölle,
Das sie verfolgt, indem es hält –
Und vor Begrenzung, Maß und Kelle
Flieht Daphne in das Laubgefälle
Und steht am Rande unsrer Welt.
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 686f.
Elisabeth Länggässer, Geist in den Sinnen behaust,
Mainz 1951.
Carsten Dutt, Elisabeth Langgässers Supranaturalismus,
in: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, herausgegeben von
Friederike Reents, Berlin 2009, 151-162.
Niels Kranemann, Wege zur späten Lyrik von Elisabeth
Langgässer. Übersinnliches erfahren im sinnlich Wahrnehmbaren. Frankfurt am
Main 2015.
Marie Luise Freifrau Kaschnitz von Weinberg, geborene
Freiin von Holzing-Berstett
Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig Richtige
Geschweige denn von der Liebe.
Versuche. Gesuche.
Mißlungen
Ungenaue Beschreibung
Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.
Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung
Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich daß
In der letzten Strophe dieses Gedichtes finden
sich zwei Ellipsen, bei welchen die Sätze grammatikalisch nicht vollständig
und somit verkürzt sind. Dies verstärkt die Aussage, da Unwesentliches (oder
auch nicht Aussagbares) weggelassen wird.
Johannes Østbø, Wirklichkeit als Herausforderung des
Wortes. Engagement, poetologische Reflexion und dichterische Kommunikation bei
Marie Luise Kaschnitz, Osloer Beiträge zur Germanistik 17, Frankfurt am Main
1996.
Ulrike Suhr, Poesie als Sprache des Glaubens. Eine
theologische Untersuchung des literarischen Werkes von Marie Luise Kaschnitz,
Praktische Theologie heute 8, Stuttgart 1992.
.Manfred Tender, „Nicht gesagt“. Zum 100. Geburtstag
von Marie Luise Kaschnitz (1901-1974), in: InselSprache – Sprachinsel. Almanach
für und über Literatur, herausgegeben von Gerhard Rademacher, Oberhausen 2003,
137-140.
Diese Kette von Rätseln
um den Hals der Nacht gelegt
Königswort weit fort geschrieben
unlesbar
vielleicht in Kometenfahrt
wenn die aufgerissene Wunde des Himmels
schmerzt
da
in dem Bettler der Raum hat
und auf knieen gehend
ausgemessen hat alle landstraßen
mit seinem leib
denn es muß ausgelitten werden
das Lesbare
und Sterben gelernt
im Geduldigsein –
Manfred Becker, Zu Nelly Sachsʼ Gedicht „Diese
Kette von Rätseln“, in: Sprachen und Kulturen der Welt. Sammelband zum
15jährigen Bestehen des Zentrums für Sprachen und Kulturen an der Universität
Ulm, herausgegeben von Günther Klotz und Christian Timm, Ulmer Sprachstudien
16, Hamburg 2007, 51-68.
Paul Kersten, Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly
Sachs, Geistes- und sozialwissenschaftliche Dissertationen 7, Hamburg 1970.
Florian Strob, Schreiben und Lesen im Zeichen des
Todes. Zur späten Prosa von Nelly Sachs, Heidelberg 2016.
Wohin aber gehen wir
ohne
sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei
ohne sorge
aber
mit
Musik
was sollen wir tun
heiter
und mit Musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit
Musik
und wohin tragen wir
am
besten
unsre Fragen und den Schatten aller Jahre
in
die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am
besten
wenn Totenstille
eintritt
Ernst Theodor Echtermeyer (1805-1844), Mustersammlung
deutscher Gedichte für gelehrte Schulen, Halle 1836; Deutsche Gedichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Benno Georg Leopold von Wiese und
Kaiserswaldau (1903-1987), Düsseldorf 1966, 697.
Ingeborg Bachmann, Reklame, School Scout 2006.
Clara Lösel, „Reklame“ von Ingeborg Bachmann und
„Freizeit“ von Enzensberger-Umgang. Ereignisse des Zweites Weltkrieges in zwei
ausgewählten Gedichten der deutschen Nachkriegslyrik, München 2021.
Monika Albrecht und Dirk Göttsche, Herausgeber,
Bachmann-Handbuch. Leben. Werk. Wirkung, Stuttgart und Weimar 2002.
Marion Schmaus, Ingeborg Bachmann. Epoche. Werk.
Wirkung, München 2013.
Schwester Maria Hedwig, Benediktinerin (OSB)
Wo hab ich es her, daß ich weiß, dass du bist?
Ich weiß es nicht. Niemand weiß, warum ich das weiß.
Wie kam ich darauf, daß du mich liebst? Ich weiß es nicht.
Niemand weiß, warum ich das weiß.
Du bist, und du liebst mich.
Das weiß ich an allem Nichtwissen vorbei.
Ich bin nämlich kein Stern, von dir geworfen ins All,
Dich zu umkreisen, bis er verlöscht.
Doch brennen muss ich wie er, an deinem Feuer aufbrennen zu dir.
Es geht nicht anders.
Daß ich dich liebe, mein Gott, das weiß ich.
Silja Walter, Gesamtausgabe, herausgegeben von Ulrike
Wolitz, Freiburg im Üechtland 2022.
Silja Walter, Autobiografisches, herausgegeben von
Ulrike Wolitz, Silja Walter, Gesamtausgabe 12, Einsiedeln 2022.
Jean-Claude Goldschmidt, Silja Walters mystische
Chronikspiele. Zwischen Tradition und Moderne, Freiburg im Üechtland 2013.
Toni Kramer, Der Mensch zwischen Individuum und
Kollektiv. Das Menschenbild im Werk Silja Walters, Studien zur Germanistik,
Anglistik und Komparatistik 62, Bonn 1977.
Max Röthlisberger, Silja Walters Zeugnis, Studien zur
Germanistik, Anglistik und Komparatistik 34, Bonn 1977.
Ulrike Wolitz, Dich kommen sehen und singen.
Erinnerungen an Silja Walter, Einsiedeln 2019.
Gedichte zeichnen sich durch hohe Ausdruckskraft aus, sie
sprechen in dichter Weise von ihrem Gegenstand, meist subjektiv, jedoch
prägnant und verhältnismäßig knapp.
Daher erschließen sich Gedichte nicht beim
oberflächlichen Lesen oder Hören; sie sind in diesem Falle wie eine Nuß, die
nicht aufgeknackt ist. Nur wenn Poesie im Herzen erwogen wird, eröffnet sich
ein Zugang. Es geht nicht darum, möglichst viele Texte zu bewältigen. Vielmehr
ist es fruchtbringend, über einzelne Worte und Sätze nachzusinnen.
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Düsseldorf 2023