Berdjajews Kritik an der Philosophie S.L.Franks

 

Christoph Bambauer

 

 

Im Jahre 1939 veröffentlichte der russische Denker Nikolai Berdjajew in der Zeitschrift "Put'" (Nr. 60) eine Rezension von Semjon L.Franks "Das Unergründliche"(1), in der er neben einer ausdrücklich positiven Würdigung des Werkes hinsichtlich existentieller Ernsthaftigkeit und religiöser Inspiration (2) eine Reihe von systematischen Kritikpunkten an Franks Philosophie anführt, welche grundsätzliche Fragen der Religionsphilosophie und Theologie betreffen und nicht zuletzt aus diesem Grund eine nähere Darstellung und etwaige Metakritik ihrer wichtigsten Aussagen erforderlich machen. Dieser Forderung soll in der vorliegenden Untersuchung nachgekommen werden, wobei neben der Darstellung der Kritik Berdjajews an Frank implizit ein struktureller Vergleich der Philosophien beider russischer Denker thematisch sein wird.

 

Innerhalb der Kritik Berdjajews an Franks Philosophie gilt es zwei Ansatzpunkte zu unterscheiden: Einerseits zweifelt Berdjajew an der Adäquatheit des für Frank grundlegenden und im Anschluss an Solowjow und Nikolaus von Kues (3) angenommenen Prinzips der All-Einheit, d.h. desjenigen Denkmodells, welches besagt, dass das Sein zwar in sich differenziert ist bzw. sich vereinzelt und individuiert, sich dennoch letztlich als eine absolute und alles ausdifferenzierte Seiende integrierende und somit sinnimplizierende Synthese darstellt, in der jedes Einzelseiende durch eine wesensmäßige Teilhabe an der göttlichen All-Einheit charakterisiert wird (4). Dieser Einwand ist also von grundlagentheoretischer bzw. prinzipientheoretischer Natur. Auf der anderen Seite folgen nach Berdjajew aus diesem Grundsatz eine Reihe von konkreten Problemen, die sich vor dem Hintergrund der frankschen Alleinheitsphilosophie keiner plausiblen Lösung zuführen lassen bzw. ihre Existenz diesem Ansatz erst verdanken. Diese Probleme sind insbesondere die menschliche Freiheit, das Prinzip der Person und vor allem das Böse. Darüber hinaus wirft Berdjajew Franks Ansatz der begrifflichen Analyse des Unergründlichen vor, der logisch-konzeptionellen Methode und dem diesem Vorgehen inhärenten Potential bezüglich der Erkenntnis von spiritueller Wahrheit zu große Wichtigkeit beizumessen. In den folgenden Ausführungen wird dementsprechend in einem ersten Teil auf die Grundlagenkritik Berdjajews eingegangen, während in einem zweiten Teil eine Diskussion der Detailfragen stattfindet.

 

1. Berdjajews Kritik an dem Prinzip der All-Einheit in der Philosophie Semjon L.Franks

 

Gleich im ersten Abschnitt der Rezension von "Das Unergründliche" macht Berdjajew auf eine seiner Ansicht nach bestehende Schwäche des in diesem Werk durchgeführten Programms einer ontologischen All-Einheitsphilosophie aufmerksam: "In the book of S.Frank are shown all the contradictions and difficulties ontologically with ontologically oriented philosophy. This is a fine sample of ontology. But the ontologic thought of S.Frank leads once more to thought about the impossibility of ontology. Ontology, grounded always in the underlying hypostasing of the products of thought, in a logical universalism, mustneeds be set in contrast with a philosophy of spirit, of the cognitive within human existence." Um diese Äußerungen Berdjajews angemessen verstehen zu können, muss man wenigstens die allgemeinsten Züge seiner Religionsphilosophie vor Augen haben: Berdjajews Anliegen besteht in allen seinen Werken insbesondere in einer in der Gefolgschaft Kants und J.G.Fichtes getätigten emphatischen Betonung der menschlichen Freiheit, wobei diese durch die Nicht-Gegenständlichkeit des menschlichen Subjekts und somit durch dessen wesenhafte Nicht-Objektivierbarkeit charakterisiert ist (5). Das Leben des Geistes kann nach Berdjajew nicht durch Bezüge zur Natur oder mittels rationaler Begriffe verstanden bzw. gelebt werden, sondern besteht in einer freien und schöpferischen Intuition, welche rein im noumenalen Bereich stattfinden kann, sodass jegliche Hypostasierung von Naturdingen oder Begriffen des rationalen Denkens einen Abfall von der ungegenständlichen und kreativen Freiheit bedeuten würde, da man so diese Entitäten in den Bereich des eminent Wirklichen bzw. dem Realen Zugrundeliegenden integrieren, also über Gebühr aufwerten würde. Im Unterschied zum kantischen Primat des erkennenden Subjekts in seiner theoretischen Philosophie, das sich im der empirischen Objekterfahrung logisch-erkenntnistheoretisch vorgeordneten Bereich der Transzendentalität befindet und so die Objekte mittels der Verstandeskategorien und der Anschauungsformen von Raum und Zeit für das erfahrende Bewusstsein des Menschen konstituiert, legt Berdjajew großen Wert auf den Umstand, dass die Reichhaltigkeit des transzendentalen Subjekts sich keineswegs in der Erkenntnisfunktion erschöpft. Vielmehr ist auch der Wille, das Gefühl und ein genuin schöpferisches Vermögen als dem Gegenstandsbereich vorgeordnet zu betrachten. Berdjajew nimmt also quasi diejenigen Bestimmungen des Subjekts zusammen, welche in der kantischen Philosophie auf den theoretischen und den praktischen Bereich der Philosophie aufgeteilt sind und geht somit nicht mehr nur von einem transzendentalen Erkenntnissubjekt, sondern von einem ganzheitlich verstandenen transzendentalen Menschen aus, der sich durch seine intuitiven geistigen Akte als schöpferisches und freies Wesen auf die Welt der Objekte hin entwirft, welche ihm dualistisch gegenübersteht (6). Die wahre Realität ist für Berdjajew geistig, d.h. sie ist nicht in ein statisches Objekt oder in ein Konglomerat von Objekten zu verwandeln, ohne dass der lebendige Geist der Wahrheit bzw. der Freiheit in diesem Prozess der Vergegenständlichung einer Zerstörung seines Wesens anheimfällt (7).

 

Vor diesem Hintergrund der radikalen Betonung des Primats des Subjekts in seiner Transnatürlichkeit und somit Transgegenständlichkeit ist aus der Sicht Berdjajews natürlich Philosophie als Ontologie ein Unding, da eine ontologische Philosophie im strengen Sinne die Frage nach der Erkennbarkeit des Seins für das Subjekt beantworten muss, wobei dieses Unternehmen wiederum einen Konnex oder zumindest eine erkenntnisrelevante Affinität von Denken (Subjekt) und Sein bzw. Seiendem (Objekt) präsupponiert. Ohne jeglichen Bezug zu parmenideischen, platonischen oder hegelschen Denkfiguren ist eine philosophische Ontologie nicht konsistent zu konzipieren, ohne eine seiende und daher auch so zu denkende Verbindung von Subjekt und Objekt keine Aussage mit geltungstheoretischem Anspruch über das Sein der Welt möglich.

 

Was nun genauer betrachtet werden muss, ist Berdjajews Aussage, dass jegliche Ontologie eine Hypostasierung des Denkens bzw. von Gedanken zur Voraussetzung hat. Dabei ist zuerst die Berdjajewsche Verwendungsweise des Terminus "Hypostase" zu analysieren, da dieser Begriff mehrere potentielle Konnotationsnuancen beinhaltet. Aufgrund der unter anderem durch den geistigen Einfluss Sergej Bulgakows angeregten Hinwendung Berdjajews zum russisch-orthodoxen Denken und seiner intensiven Beschäftigung mit dem geistigen Gut der Kirchenväter im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts (8) scheint es sinnvoll zu sein, erst einmal von demjenigen Verständnis der Hypostase auszugehen, welches in der russisch-orthodoxen Theologie entwickelt wurde. Dort bezeichnet der Begriff "Hypostase" die Seinsweise der drei göttlichen Personen in der Trinität, welche ja einerseits voneinander unterschieden, andererseits zugleich nicht als getrennte Wesenheiten ohne konstitutive Relationen zueinander gedacht werden können (9). Dabei wird die hypostatische Einheit im Anschluss an Johannes von Damaskus, der diesen Begriff durch seine Christologie in die Theologie der Kirchenväter einführte, durch das Prinzip der Perichorese, d.h. der gegenseitigen (jedoch nicht immer identisch beschaffenen) Durchdringung der göttlichen Personen gestiftet. Die Hypostase in diesem mit der Perichorese verbundenen Verständnis stellt sich also als eine den anderen Hypostasen gegenüber transparente und in einer dynamischen interpersonalen Bewegung inbegriffene und durch diese konstituierte subjektive Struktur dar. Jede Hypostase ist in diesem Sinne sowohl ein bestimmter Aspekt des göttlichen Ganzen als auch dieses Ganze selbst kraft seiner wesenhaften Verwiesenheit auf die anderen göttlichen Subjekte innerhalb der Trinität.

 

Ausgehend von seinen drei transkategorial und somit transmundan gedachten Hauptprinzipien der Person, der Freiheit und des Schöpferischen (10) lehnt Berdjajew jegliche Substantialisierung dieser Aspekte menschlichen Lebens kategorisch ab. Die Kategorie der Substanz wurde bekanntlich auch von Kant in seiner theoretischen Philosophie für das Subjekt abgelehnt, da sie für ihn eine Kategorie der Gegenstandserkenntnis zur transzendentalen Konstitution von Objekten innerhalb des Bereichs der Erfahrungen der Natur war (11). Dementsprechend sind auch die göttlichen Hypostasen nicht als statische Substanzen, sondern als sich lebendig und dynamisch entwerfende Subjekte, als ungegenständliche und geistige Entitäten zu verstehen. Wenn man nun vor diesem Hintergrund zu der Behauptung Berdjajews zurückkehrt, eine ontologische Philosophie hypostasiere die Produkte des Denkens (also die Gedanken), dann stellt sich das fundamentale Problem der logischen und erkenntnistheoretischen Relation von Hypostase und Gedanke, und dies sowohl in der Philosophie Berdjajews als auch in derjenigen Franks. Zwar kann dieses Problem an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden, doch lassen sich einige grundlegende Feststellungen treffen, die diesen Aspekt der berdjajewschen Frank-Kritik aufhellen könnten.

 

Da eine Hypostase dasjenige darstellt, was in der höchsten Weise und im emphatischen Sinne ist, nämlich in der Weise des ungegenständlichen, geistigen Lebens innerhalb der ewigen und schöpferischen Trinität, kann man Berdjajew, der sich an dieser Stelle trotz der immensen systematischen Bedeutung dieses Punktes nur kurz aufhält, auf folgende Art und Weise deuten: Da jegliche Ontologie einen Konnex von denkendem Subjekt und dem Sein der Welt impliziert, wird in Berdjajews Sichtweise durch ontologisches Denken das freie und schöpferische Subjekt in das determinierte Sein gezogen und verliert auf diese Weise seinen eigentlichen, nämlich aus der Unerschaffenheit heraus zu erschließenden Charakter und verfällt dem objektivierenden Zugriff der endlichen und eingrenzenden Rationalität. Damit aber vom Menschen mittels seines begrifflich strukturierten Denkens Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit gemacht werden können, muss das Denken als zur Erkenntnis der höchsten Realität fähig betrachtet und so in den Status einer Hypostase (einer Grundlage der Realität) erhoben, also hypostasiert werden. Für Berdjajew steht jedoch offensichtlich fest, dass dem rationalen Denken prinzipiell eine bestimmte Grenze seiner Reichweite inhäriert und durch seine wesenhafte Bestimmung nur gegenständlich beschaffene Inhalte zugänglich sind (12). Nach Berdjajew kann dem Denken also nicht dieselbe Funktion wie den Hypostasen zukommen, welche als das Zugrundeliegende bzw. der Grund der Realität angesehen werden müssen. Er spricht sich in seinen Werken mit Jakob Böhme und Schellings Freiheitsschrift durchgehend für einen Primat der Freiheit vor dem Sein aus, wobei die Freiheit als ungeschaffene und trotz ihrer Quasi-Immanenz in Gott als das abgründige Irrationale auch nicht von Gott determiniert werden kann und durch diesen Umstand eine Beantwortung der Theodizee-Frage geliefert wird, welche sowohl die Realität des Bösen ernst nimmt, als auch den Gottesbegriff als einen positiven rettet (13). Doch muss an dieser Stelle die Frage erhoben werden, inwieweit Berdjajews Frank-Rezeption und sein methodisches Vorgehen in der Kritik seinem Gegenstand gegenüber adäquat zu nennen ist.

 

Zuerst ist hierbei auf die Tatsache aufmerksam zu machen, dass Berdjajew eine der frankschen Philosophie transzendente Kritik liefert; d.h. dass er nicht versucht, durch die Methode immanent verfahrender Kritik das Prinzip des ontologischen Denkens sich von seinen innersten Bestimmungen selbst als fehlerhaft erweisen zu lassen (14), sondern diesen Ansatz bereits aus der eigenen philosophischen Position mit all ihren festgelegten Bestimmungen (unerschaffene Freiheit, Unweltlichkeit des Subjekts, "Gefallenheit" der menschlichen Rationalität, Determiniertheit des Seins etc.) betrachtet. Als eine für die Stichhaltigkeit seiner Kritik nachteilige Folge dieser Annäherung an "Das Unergründliche" ergibt sich schon in der Grundsatzdiskussion über Ontologismus und vor allem Monismus, dass Berdjajew zu keinem wirklichen Verständnis dessen gelangt, was als Fundament der frankschen Philosophie angesehen werden muss (15). Dies zeigt sich in dem Umstand, dass er in der bereits zitierten Passage Elemente und Zielvorgaben der frankschen Philosophie festmacht, die in keinerlei belegbarer Weise zum Programm des Werkes gezählt werden können: Frank ist nicht an einem logischen Universalismus interessiert, der sich nach Berdjajew allein schon aus dem ontologischen Ansatz heraus ergeben soll; vielmehr macht Frank explizit auf die Abhängigkeit der logisch-ideellen Sphäre sowohl in formaler als auch in transzendentaler Hinsicht aufmerksam und betont – wie Berdjajew, nur auf rationaler Grundlage – die eigentümliche Grenze des begrifflichen Wissens (16). Darüber scheint sich Berdjajew in seiner dezidierten Dichotomisierung von Seins- und Geistphilosophie von einem Seinsbegriff leiten zu lassen, der nicht viel mit demjenigen Franks gemein hat, da bei letzterem das Sein in seinem vollsten Verständnis das genaue Gegenteil von objektivierter und toter Statik bedeutet, nämlich gerade den lebendigen, sich selbst transzendierenden und über jeden gegenständlichen Inhalt der Begriffe hinausgehenden und somit unergründlichen Urquell alles Objektivierten. Das Sein ist kein objekthafter und rationalistisch erfassbarer Inhalt und somit ein abstraktes Konstrukt des erkennenden Subjekts, sondern metalogisches und ewiges Leben, das im individuell-existentiellen bzw. unmittelbaren Selbstsein der Person und insbesondere der Personengemeinschaft zu sich selbst kommt. Diese dynamischen Bestimmungen des Seins ergeben sich bei Frank durch seine synthetische Auffassung des Seins als transrationale Einheit von gestaltetem (notwendigem, rationalem) und potentiellem bzw. ungestaltetem (freiem, irrationalem) Sein, während Berdjajew alle Momente der Freiheit dualistisch von der Notwendigkeit isoliert und so keinen Zugang zum frankschen Seinsbegriff entwickeln kann. Doch abgesehen davon besitzt bei Frank sogar das objektivierte Seiende aufgrund seiner apriorischen Teilhabe am Sein noch den Charakter der Unausschöpflichkeit, sodass auch hier ein anderer Begriff von Objektivierung gefunden wird als im Werk Berdjajews.

 

Um die soeben geübte Metakritik weiter zu untermauern, müssen aus der Kritik Berdjajews an der All-Einheit Franks einige weitere charakteristische Stellen seiner Rezension zitiert und analysiert werden: "[...], S.Frank tries however to show, that the ungraspable is graspable. He wants to surmount rationalistic philosophy. But he too much believes in cognition through the conceptual." In diesem Zitat behauptet Berdjajew, dass Frank letztlich doch eine Ergründlichkeit bzw. vollständige Rationalisierung des Unergründlichen angenommen hätte und daher mehr oder weniger ein herkömmlicher Rationalist wäre, obwohl er die Bestrebungen Franks anerkennt, den Rationalismus überwinden zu wollen. Doch nennt Berdjajew an dieser Stelle nicht den Modus des begrifflich erfassten Absoluten bzw. Unergründlichen, d.h. als was oder auf welche Weise das Absolute bei Frank logisch-begrifflich erkannt werden kann, worauf allein es allerdings ankommt, um die Pointe des Gedankens der coincidentia oppositorum sowohl bei Frank als auch schon bei Nikolaus von Kues zu verstehen und von diesem Punkt aus beide Denker adäquat in eine philosophische Denkrichtung einordnen zu können. Das Unergründliche kann ja eben nur als Unergründliches und somit Transrationales erkannt, also nur negativ als alles Bestimmte und Endliche Umfassendes und so immer schon Transzendierendes bestimmt werden, sodass es sich jeglichem rationalen Zugriff a priori entzieht. Doch dass dies sich prinzipiell so verhalten muss und keine willkürliche Empfindung oder ein unbedeutender Zufall ist, soll bei Frank und Cusanus mit dem Aufzeigen der Grenze der logischen Bestimmungen aufgrund rationaler Überlegungen gezeigt werden, was den Vorteil hat, dass durch das konsequente Zu-Ende-Denken der Implikationen der Gegensätze und die Befragung auf ihre Voraussetzungen hin ein Bereich der überrationalen und übergegensätzlichen Schau erreicht wird, welcher jedoch nicht auf eine abstrakte Negation der Rationalität angewiesen ist, um bestehen zu können. Nicht das Unergründliche selbst ist ergründlich oder begründbar, sondern nur dessen Unergründlichkeit, d.h. man kann begründen, warum das Unergründliche unergründlich ist und sein muss. An diesem feinen Unterschied hängt nicht nur das Verständnis von Denkern wie Cusanus oder Frank, sondern einer jeden rationalen Negativen Theologie.

 

Fortsetzung