Zum Mysterium der Zeit bei Pavel A.Florenskij
Heinrich Michael Knechten
"Alles
fließt" ist ein Wort, das Heraklit zugeschrieben wird. Dies
entspricht der Wahrnehmung des Menschen: Alles scheint sich ständig zu
verändern, das Tun des Menschen ist "Haschen nach Wind" (vgl. Qoh
1,14). Jeder Augenblick bringt Neues, Altes vergeht.
Pavel
Aleksandrovič Florenskij setzt sich seit seiner Jugendzeit mit dem Problem der
Zeit auseinander. Ihm geht es darum, das Viele (die einzelnen Momente der Zeit)
mit dem Einen zusammenzubringen.
Die
Erfahrung der Vergänglichkeit der Phänomene führt ihn dazu, über den Tod
nachzudenken. Er empfindet die Zeit und das Leben als einen "verlängerten
Tod". Die Realität des Todes erinnert den Menschen daran, dass er in der
Zeit lebt.
Gewöhnlich
wollen die Menschen dies nicht wahrhaben. Bei der Blume sehen sie die Blüte als
wesentlich an, nicht aber das Keimen, Grünen, Knospen und schließlich Vergehen
der Pflanze. Dabei kommt alles darauf an, das Leben in seiner Fülle,
einschließlich aller seiner Aspekte, anzunehmen.
Der
Mensch sollte seine Zeit "organisieren". Um diesen
(missverständlichen) Ausdruck zu erklären, verwendet Florenskij einen
Vergleich: Beim ersten Hören eines Musikstücks hat der Mensch das Empfinden,
einzelne Teile zu erleben. Erst bei mehrmaligem Hören des Werkes wachsen die
Teile zu einem Ganzen zusammen. Der Hörer dringt zur Ebene vor, die gleichsam
hinter der Komposition steht.
Mit
Baruch de Spinoza legt Florenskij dem Menschen nahe, res sub quadam
aeternitatis specie percipere (die Dinge unter einem Gesichtspunkt der
Ewigkeit zu erfassen; Ethica, de mente, propositio XLIV, corollarium II). Er
hat die Aufgabe, zu seiner "ewigen Biographie" vorzudringen, den Weg
von der Quelle zur Mündung des Zeitstromes zu gehen, von der Zukunft zur
Vergangenheit, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, zurück zum Ursprung seiner
Existenz.
Dann
begegnet er der göttlichen Gegenwart, dem ewigen "Heute", demjenigen,
welcher gestern und heute und derselbe in Ewigkeit ist (vgl. Hebr 13,8).
Anmerkungen
von Klaus Bambauer:
Der
Gedanke vom Vielen und vom Einen ist das Zentralthema bei Plotin bzw. im
Neuplatonismus.
Hegel hat darauf verwiesen, dass der Baum nur zusammen mit
seinem Kern, seiner Blüte, seinem Wachstum u.s.w. gesehen werden darf. So kommt
er zu seiner berühmten Aussage: "Nur das Ganze (d.h. in allen seinen Wachstumsstufen)
ist das Wahre." Das Ganze wird dann auf das Wachstum des Begriffs als
lebendige (wachsende) Wesenheit übertragen. Vgl. die Einleitung zu seiner
Phänomenologie des Geistes.
Literaturhinweise
Pavel A. Florenskij, Analiz prostranstvennosti (i vremeni)
v chudožestvenno-izobrazitel'nych proizvedenijach (1924-1926), in: Ders.,
Istorija i filosofija iskusstva, Moskau 2000, 79-389.
Pavel A. Florenskij, Stolp i udverždenie istiny,
Moskau 1914.