Die
Glocken meiner Heimat.
Von
Direktor Fleitmann, Gladbeck
Pfingsten 1926 war es. Nicht das liebliche Fest, von
dem der Dichter singt, war gekommen [siehe Anhang]. Bleischwere Regenwolken
bedeckten den Himmel, und Bindfadenregen ging nieder auf Stadt und Dorf, auf
Feldflur und Wald. Ich stand am Pfingstmontag des Morgens um 8 Uhr an der
Elektrischen. Linie 10 sollte mich mit meiner Frau und meinem vierjährigen
Buben über Buer, Herten nach Recklinghausen und Linie 2 von der alten Kreisstadt
nach dem neuen Erkenschwick bringen; der kurze Weg zu Fuß von da nach der
Heimat Horneburg war schon zu bewältigen, wenn auch der Fall eintreten sollte,
daß der kleine Wilhelm sich quer vor den Vater stellen würde mit der Bitte:
Vater, nimm mich auf den Arm. Mit schwerem Bedenken stiegen wir an der
Erlenstraße [Gladbeck-Ost, südlich der Buerschen Straße] in den Wagen, aber der
Himmel hatte Einsehen, und wir kamen gegen zehn Uhr trocken in Horneburg an,
just in dem Augenblicke, als die Glocken vom Dachreiter des Dorfkirchleins zum
Hochamte riefen.
[Zu
beachten sind das Missionskreuz an der linken Seite und die Umhegung des
Friedhofes rund um die Kirche. Im Dachreiter ist die erste öffentliche Uhr des
Kreises Recklinghausen.]
Mir war es, als gucke ein bekanntes Gesicht aus dem
Fensterlein des Dachreiters, und es stiegen Bilder aus der Vergangenheit vor
mir auf, nebelhaft zuerst, aber dann klarer, bis sie deutlich ohne Schleier vor
meinem Auge standen. Was ich geschaut, das habe ich in stiller Abendstunde
niedergeschrieben als liebe Erinnerung an jene Zeit, wo im Veste noch der
Landmann still seine Furchen zog und nicht qualmende Schlote und eiserne
Förderkörbe sich emporreckten.
Drei Glocken hingen im Dachreiter des Kirchleins zu
Horneburg, die große, die mittlere, die kleine. Alle drei zusammen geben einen
guten Klang, ein feierliches Geläute, wie man heute sagen würde. Aber das
geschah nicht zu oft, , daß alle drei Glocken zusammen geläutet wurden; an
hohen Festtagen, den „veer Hochtieden“ [den vier Hohen Zeiten: Ostern,
Pfingsten, Allerheiligen und Weihnachten], oder wenn in der Kirche das mächtige
Te Deum, das „Großer Gott, wir loben dich!“ erklang, oder wenn am Ludgerusfeste
[26. März] die Erstkommunikanten von der Schule zur Kirche geholt wurden, dann
trugen die drei Glocken Festesstimmung und Festesfreude über das Dorf hinaus
nach den umliegenden Bauerschaften, nach Meckinghoven, Beckum, Erkenschwick und
Rapen, die sich damals noch kirchlich zu Horneburg rechneten, während sie
politisch anderen Gemeinden zugeteilt waren. Oder wenn am Fronleichnamstage
oder am Tage der „groten Proßion“ [der Großen Prozession] die betenden und
singenden Scharen zur Kirche zurückkehrten, dann riefen die drei Glocken den
Großen und den Kleinen, den Fahnen und den Fähnlein den Willkommensgruß
entgegen, so hell und so feierlich, so traut und so warm, daß die Herzen der
frommen Waller [Wallfahrer] höher schlugen und stolz wurden sie dabei, daß
Horneburg ein so festliches Geläute hatte. Wir Knaben waren immer dabei, wenn
es galt, an den Glockensträngen zu ziehen und dem Küster beim Läuten zu helfen.
Als Nachbarn der Kirche glaubten wir ein besonderes Recht, ein Vorrecht zum
Läuten zu haben, und wenn uns das die Knaben aus dem „Ort“ oder aus dem
„Bollwerk“ strittig machen wollten, dann gabs Krach; Püffe und Tritte wurden
ausgeteilt, und formlose Massen wälzten sich am Boden. Ich erinnere mich, wie
eines Tages der selige Pastor Meyer [1853-1891 in Horneburg] uns beim Streiten
überraschte und in seiner gütigen Weise den ausgebrochenen Streit schlichtete.
Nicht alle drei Glocken hatten ein gleich schweres
Amt; eigentlich hatte die mittlere Glocke die anstrengendste Arbeit zu leisten.
Die kleine stand ihr bei, die große aber nahm nur das Wort bei festlichen
Anlässen, sie war also die vornehme unter den dreien.
Zum ersten Male am Tage erhob die mittlere Glocke beim
Tagesgrauen ihre Stimme, wenn von den Tennen ringsumher das taktmäßige
Klipp-Klapp der Dreschflegel erklang. Zuerst drei-mal-drei Schläge der kleinen
Glocke, dann kam die mittlere mit ihrer hellen Stimme und kündete den
Dorfbewohnern, daß der Tag beginne und sie Gott dem Herrn Tag und Werk
empfehlen müßten. Als Junge habe ich den Morgenruf der Glocke selten oder gar
nicht vernommen, da mußte schon das Mütterlein den schlafenden Knaben rütteln,
lange, lange, bis sie ihn zum Bewußtsein gebracht. Aber später, wenn ich auf
der Tenne mit dem Dreschflegel in der Hand in Reih und Glied stand, dann habe
ich das Morgenläuten als Erlösung empfunden, jetzt begann nach der körperlichen
Morgenarbeit die geistige Tagesarbeit in Schule und Studierzimmer, die mir
besser zusagte. Nach einer Weile rief die Glocke zur ersten hl. Messe, und nur
wenige Bewohner, meistens ältere Frauen, darunter immer mein seliges
Mütterchen, folgten ihrem Rufe. Nach 7 Uhr rief die Glocke zur zweiten hl.
Messe, zur Schulmesse, und nun kamen die Schulkinder, einzeln und in Gruppen
zur Kirche, um für ihr Tageswerk den Segen Gottes zu erflehen.
Lieblicher schon klang die Glocke, wenn sie die
Mittagszeit verkündete. Für uns Schulbuben bedeutete diese Glocke Schluß des
Vormittagsunterrichts, für die anderen, die Erwachsenen den Beginn des
Mittagsmahles, das mit dem ersten Glockenschlage auf dem Tisch stehen mußte.
Wie sind wir aus dem Schulhaus gestürmt, denn keiner Mahnung folgt das Kind mit
gesundem Appetit lieber als dem Rufe zum Tisch. Der Glocke Ruf zum Tisch kamen
wir Rangen flinker nach als dem Rufe der Mutter, die zwei-, dreimal und öfters
rufen mußte.
Der Abend senkte sich über das Dorf. Die Glocke rief
zum Abendgebet. Wie schwer war die Trennung vom Spiel; mitten im allerschönsten
Spiel ertönte die Glocke. Wir Knaben wußten, daß nach dem Abendläuten kein
Junge und kein Mädchen auf der Straße sein darf, aber man überhörte den leisen
mahnenden Glockenton, das Spiel ging lauter weiter. Gleich fing die Glocke
wieder an, aber lauter und eindringlicher. Die wenig Kecken unterbrachen das
Spiel, und ehe es wieder richtig weiterging, erklang zum dritten Male die
Glocke, nun ernst, fast drohend; schnurstracks ging es dem Heim zu, weil weder
mit der Glocke noch mit der wartenden Mutter zu spaßen war. Nach
gemeinschaftlichem Abendgebet lag die Jugend bald in festem Schlaf, während
Vater und Mutter noch ernstes Zwiegespräch hielten über die Kinder und den Haushalt,
über Acker und Vieh und andere wichtige Fragen, von denen die eine oder andere
eine schwere Last für die Eltern bedeutete und die Sorgenfalten auf der Stirn
tiefer grub.
Dieselben Glocken, dieselben rufenden Stimmen, und
doch stets ein anderer Klang, ein anderer Inhalt. Heiter und froh in der
Weihnachtsnacht, jubilierend am Ostermorgen. Wehmütig und tröstend gab die
Glocke dem Priester das Geleite, wenn er mit dem Allerheiligsten zum Sterbenden
ging; klagend erklang sie, wenn sie dem Dorfe verkündete, daß einer der
Bewohner das Zeitliche gesegnet und hinübergetreten war in die Ewigkeit, und
die Lebenden zum Gebete für den Toten aufforderte.
Die den Bund der Ehe fürs Leben schließen wollten,
segnete die Glocke auf ihrem Gange zur Kirche, und wenn jemand den letzten
Erdengang antrat, dann begleitete die Glocke den Toten auf dem Wege zur engen
Ruhestätte. Schwer und lang tönte der Glocke Grabgesang.
Wenn die hohen Festtage, [sic] Frieden und Ruhe über
das Dorf breiteten, dann stiegen wir Knaben mit dem Küster hinauf in den
Dachreiter und schlugen die Knöppel an den Glockenrand, wir mußten „beiern“
[mit dem Klöppel (beijart) taktmäßig an den Rand der ruhenden Glocke schlagen,
statt sie im Schwunge zu läuten], und das war besonders schön und klang
feierlicher als das Vollgeläute.
Heute klingen nicht mehr die drei alten Glocken
in ihrer früheren Zusammensetzung; die
kleine und die große Glocke sind dem Kriege zum Opfer gefallen. Zwei neue sind
an ihre Stelle getreten, aber mir will scheinen, daß das alte Geläute inniger,
ergreifender war.
Glocken meiner Heimat! Nur mehr in der Erinnerung höre
ich euch, aber eueren Ruf merkte ich [mir], und was ihr mir sagtet, als ich als
fröhlicher Knabe auf der Dorfstraße oder auf dem Lindenplatze vor dem Kirchlein
spielte oder als Hirtenknabe draußen hinter den Kühen stand, das alles wird
wieder lebendig, und ich danke es euch, wenn das Bild der alten Heimat vor mir
aufsteigt als erlebe ich Jugend und Heimat so unversehrt wie vor mehr als 50
Jahren.
Quelle
Wilhelm Fleitmann, Meiner Heimat Glocken, in:
Vestischer Kalender 5 (1927), 42f.
Er war Leiter der Gladbecker Fortbildungsschulen und Gründer
sowie Vorstandsmitglied des Gladbecker Orts- und Heimatvereins. Er starb 1932,
einen Tag vor seinem siebzigsten Geburtstage.
Anhang
Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es
grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.
Johann
Wolfgang von Goethe, Reineke Fuchs. In zwölf Gesängen (1793 entstanden), Erster
Gesang, Verse 1 bis 5, in: Hamburger Ausgabe, Bd. 2, textkritisch durchgesehen
und kommentiert v. Erich Trunz, München 151994; München 1998
(Deutscher Taschenbuch Verlag), 285.
© Pfr. Dr. Heinrich Michael Knechten, Horneburg 2021