Meine Fibel

 

Lehrbücher prägen, vor allem in der Kindheit. Daher habe ich mich gefragt: Was waren das für Lehrbücher? Welche Tendenz verfolgten sie, welchen Charakter und welche Inhalte hatten sie? Gab es Stärken und Schwächen?

Ich war 1955 in die Volksschule gekommen. Unter meinem ersten Schulzeugnis stand folgende Bemerkung: „Heinz ist sehr verspielt und stört häufig den Unterricht.“

Damals war es üblich, mit einer Fibel Lesen und Schreiben zu lernen.

 

 

 

Autor einer weit verbreiteten Fibel war Fritz Gansberg. Er wurde am 9. April 1871 in Bremen geboren. Seine Mutter Elisabeth starb bei der Geburt des siebten Kindes. Sein Vater Friedrich hatte sich vom lohnabhängigen Tabakarbeiter zum Besitzer eines Lebensmittelladens emporgearbeitet. Fritz wuchs in einem strengen und sparsamen, aber auch bildungsbewußten und strebsamen Elternhaus auf. Seine Brüder wurden Kaufleute, während Fritz einen anderen Weg ging. Er war in sich gekehrt und bisweilen verträumt. 1885 bis 1890 besuchte er das Lehrerseminar in Bremen. Anschließend unterrichtete er an der Volksschule in der Birkenstraße in Bremen. Dabei suchte er nach neuen pädagogischen Wegen. Er wollte die schöpferischen Kräfte der Kinder wecken. Nach seiner Meinung können nur diejenigen pädagogisch wirken, welche die Kinder lieben und am Lehrerberuf Interesse haben. Dies legte er in seinem Hauptwerk dar: Demokratische Pädagogik. Ein Weckruf zur Selbstbetätigung im Unterricht, Leipzig 1911.

1914 bis 1918 war er Lehrer in Lettland. Nach dem Ersten Weltkrieg unterrichtete er an verschiedenen Volksschulen in Bremen. Er blieb ledig.

Da er seine Publikationen nicht nationalsozialistisch einfärben wollte, wurde er 1936 in den Ruhestand versetzt. Vor den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg flüchtete er nach Fallingbostel. Nach dem Krieg fand er in Bremen keine Wohnung mehr. Er litt unter der neuen Lehrergeneration. Am 12. Februar 1950 erlag er in Bremen einem Herzschlag.

Der ursprüngliche Titel seiner Fibel lautete:

Bei uns zu Haus. Eine Fibel für kleine Stadtleute, mit Bildern von Arpad Schmidhammer, Leipzig 1905.

Diese Fibel erschien in vierzehnter Auflage 1930 in Leipzig.

1940 und 1942 erschien sie in Bremen unter dem Titel: Meine Fibel. Ein Geschichtenbuch zum Lesenlernen mit Bildern von Herbert Wellmann.

1955 erschien sein Werk in Bremen als Neubearbeitung durch Julius Lübbren und Alex Kleßmann unter dem Titel: „Meine Fibel“.

 

 

Rechts (Seite 7) wird das O gelernt. Da ist eine kopflose Puppe mit Hosenträgerrock dargestellt. Der fehlende Kopf ist nicht zu sehen. Wie geschah dieses Unglück? Fiel die Puppe aus Unachtsamkeit, aus Versehen zu Boden oder ist hier das Ergebnis eines Trotzanfalls zu sehen? Jedenfalls gibt es Betroffenheit und ein langgezogenes O.

 

 

Kleine Kinder unterscheiden nicht zwischen mein und sein. Erwachsene mögen einige dementsprechende Handlungen als Diebstahl empfinden. Seite 13 wird dieser Unterschied eingeübt. Eigentum muß geschützt werden!

 

 

Seite 15: Für Kinder ist es fast unmöglich, leise zu sein. Da der Säugling schläft, ergeht aber die Mahnung, still zu sein und sich mit Malen zu beschäftigen. Dies ist eine notwendige Einübung in die Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer, die besonders bei Einzelkindern angebracht ist: Dein Recht endet dort, wo das Recht eines anderen beginnt!

 

 

Seite 19 ist ein Märchen der Brüder Grimm illustriert. Esel, Hund, Katze und Hahn sind alt geworden und sollen sterben, beschließen aber, Bremer Stadtmusikanten zu werden. Auf dem Weg wird es Abend, sie befinden sich in einen Wald und wollen übernachten. Da sehen sie ein Räuberhaus, sie stellen sich übereinander und erschrecken die Räuber, die daraufhin fliehen. Einer von ihnen schießt in Panik eine Pistole ab. Ein Räuber kommt zurück, um zu prüfen, ob die Luft rein ist, wird aber wieder erschreckt und flieht endgültig. Die vier Tiere bleiben in diesem Haus.

Dies ist eine Parabel über das Alter. Gemeinsam sind auch ältere Menschen stark und können sich gegen eine feindliche Umgebung behaupten.

Der Mond raucht in aller Ruhe Pfeife. Das bedeutet: Mit etwas Distanz lassen sich Probleme lösen.

 

Seite 20: Berni fällt kopfüber aus dem Baum und kann sich das Genick brechen, doch nur seine Hand tut weh, Bubi kann sich das Rückgrat verletzen und querschnittsgelähmt sein, doch nur sein Bein tut weh. Mama braucht nicht geholt zu werden.

Seite 29: Während von der Mutter und der Oma immer wieder die Rede ist, kommt der Vater bisher nur als Zigarrenraucher vor.

Links, Seite 32: Das Lied von der Laterne wird beim Umzug zum Martinsfest (11. November) gesungen, davon ist hier aber nicht die Rede. Rechts, Seite 33: Lisa hilft der Mutter und ist ein liebes Kind.

Seite 35: Beim Jahrmarkt drücken die Großen die Kleinen fast platt.

Seite 37: Kasper darf nicht schlafen, weil der Teufel kommt.

Seite 41: Nun taucht der Vater nicht nur als Zigarrenraucher auf, wie auf Seite 29, sondern die kleine Änne streckt ihm die Ärmchen hin.

Seite 42f: Ein Angsttraum und ein Diebstahl. Hier wird also keine heile Welt dargestellt. Bereits auf Seite 19 war die Problematik des Alters angesprochen worden.

Seite 51: Der kalte Fußboden, das überfrorene Waschwasser in der Schüssel, die Not der Vögel im Winter und Hilfe für sie – hier werden Mißbehagen und Mangel, aber auch Hilfe, thematisiert.

 

Seite 52f: Der kleine Otto wird von den älteren Kindern ausgelacht und umgerissen. Das ist Mobbing und er weint. Sein großer Bruder Horst beschützt ihn. Schließlich fallen beide hin. Otto lacht und weint.

 

Seite 66 (ohne Bebilderung):

Hoppe, hoppe Reiter,
wenn er fällt, so schreit er.
Fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben,
fällt er in den Sumpf,
macht der Reiter plumps.

… Fällt er auf die Steine,
tun ihm weh die Beine…

…Fällt er in die Hecken,
fressen ihn die Schnecken…

 

Was für ein Reiter ist das? Ist es ein Soldat? Warum fällt er in den Graben? Wurde er von einem Geschoß getroffen? Er schreit vor Schmerzen, doch niemand hilft ihm. Ist es ein Schlachtfeld, auf dem er stirbt? Keiner beerdigt ihn, sodaß die Aasvögel seinen Leichnam fressen. – Das Lied stammt aus der Zeit um 1800.

Kinder jauchzen normalerweise, wenn der Reiter plumps macht, und fordern eine Wiederholung. In seltsamem Gegensatz dazu steht die Leidens- und Todesthematik des Textes.

 

Seite 69: „Die kleine Hexe“ hat eine Warze auf der Nase und den sogenannten Witwenbuckel (Osteoporose, Knochenschwund), sie arbeitet den ganzen Morgen und kocht zur Mittagszeit Fröschebein, Krebs und Fisch für die Kinder. Hier werden alte Vorurteile transportiert. Auf der folgenden Seite steht das Lied von Hänsel und Gretel mit der alten Hexe, die Hänsel im Ofen braun wie Brot braten will. – Dieses Lied stammt aus dem 19. Jahrhundert.

 

Resumé / Resümee

Dieses Lehrbuch bildet seine Zeit ab: Der Vater tritt wenig in Erscheinung. Die Fibel transportiert Vorurteile über „die alte Hexe“, aber sie spendet auch Trost angesichts kindlicher Ängste und setzt dem Mobbing innere Stärke entgegen. Kleine Probleme des Alltags werden verbalisiert und gelöst, dabei sind auch die Schwierigkeiten des Alters, welche die Kinder bei ihren Großeltern wahrnehmen, nicht ausgeklammert. Es fehlt selbst die Warnung nicht, sich vor dem Teufel in Acht zu nehmen. Das ist negative Religiosität, die Furcht einflößen will, um ihre Art der Moral durchzusetzen.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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