Pater Erlemann

 

Einführung

Ausgangspunkt dieser Netzseite war der kurze Nachruf in der Zeitschrift „Stadt Gottes“ des Jahres 1920. Diese Lebensbeschreibung wies viele Lücken auf und beantwortete manche Fragen nicht. Daher arbeitete ich mich ein wenig in dieses abgelegene Gebiet der Missiologie ein und wurde bald mit einem Gefühl der Ehrfurcht erfüllt, als ich erfuhr, unter welch ungeheuren Strapazen und Gefahren die Mission in Südshantung aufgebaut worden ist.

Erlemanns Ausbildung

Pater Heinrich Erlemann wurde am 5. März 1852 in Wadersloh (Münsterland) geboren. Sein Vater war Schreiner, so erlernte auch er dieses Handwerk. Darüber hinaus, erhielt er eine architektonische Ausbildung im Baufach, speziell für Kirchenbauten, und für kirchliches Kunsthandwerk. Ein befreundeter Geistlicher vermittelte ihm die Anfangsgründe der lateinischen Sprache.

Erster Zögling der Steyler

Er wollte Priester werden. Da zu dieser Zeit in Deutschland der Kulturkampf tobte, entschloß er sich, bei den Franziskanern in Amerika einzutreten. Er hatte das Reisegeld schon in der Tasche, als ihn ein Priester auf die Gründungspläne Arnold Janssens aufmerksam machte, der zu dieser Zeit noch Schwesternseelsorger in Kempen war.

 Im Alter von 23 Jahren war er im Jahre 1875 der allererste „Zögling“ der Steyler Missionsgesellschaft. Arnold Janssen erhielt eine Geldsumme als Spende und kaufte damit ein altes Wirtshaus an der Maas in Steyl. Es handelte sich um ein ehemaliges Gasthaus für Fuhrleute, die am Steyler Hafen Waren abholten. Für Arnold Janssen war der niedrige Preis des Gebäudes ausschlaggebend, da er nur über wenige Mittel verfügte.

Heinrich Erlemann kam am 25. Juli 1875 nach Steyl,  richtete das Haus ein und schmückte es für den Gründungstag der Steyler Mission am 8. September 1875, dem Fest Mariä Geburt.

Beginn der Bautätigkeit

1876 erfolgte der erste Neubau, der auch eine Kapelle enthielt, die dem heiligen Erzengel Michael geweiht war. Dort wurden sieben Jahre lang Gottesdienste gefeiert.

In der Folgezeit erbaute er das erste größere Studienhaus sowie Unterkunftsräume für die wachsende Zahl der „Zöglinge“ und schließlich die berühmte neugotische Doppelkirche. Er arbeitet mit zehn älteren Mitschülern zusammen, die ein Team am Bau darstellten.

Die ersten Jahre waren wegen seiner Doppelbelastung schwierig: Täglich arbeitete er am Zeichentisch, stand auf dem Maurergerüst und war überall an der Baustelle zu sehen, zugleich aber bemühte er sich, mit seinen Mitstudenten mitzukommen. den Studienstoff in sich aufzunehmen und alle Examina zu bestehen. Am 5. März 1883 legte er die ersten Gelübde ab (für drei Jahre) und am 29. März 1884 wurde er im Alter von 32 Jahren zum Priester geweiht.

Neumissionar in Südshantung

Shantung (Shāndōng) ist eine Provinz an der chinesischen Ostküste.

Bald darauf kam der Gründer der Südshantungmission, Johann Baptist von Anzer (1851-1903; seit 1886 Bischof), nach Steyl und bat, ihm den Baumeister zu überlassen. Am 7. März 1886 erhielt P. Erlemann zusammen mit anderen aus der Hand Pater Anzers das Missionskreuz. Mit vier anderen Mitbrüdern reiste Pater Erlemann ab. Sie hatten am 17. März 1886 eine Audienz bei Papst Leo XIII. Am 19. März 1886 stachen sie in Ancona in See. Am 13. April waren sie in Penang, am 20. April in Hongkong, am am 25. April in Shanghai, am 29 April in Chefou (Yentai) und am 21. Mai 1886 in Tsinanfu.

Am 24. Mai 1886 wurden die Neumissionare im festlich geschmückten Puoli empfangen. Pater Erlemann schrieb: „Nachmittags sahen wir uns die Lehmgebäude der Residenz mit ihren einfachen Dächern und zerrissenen Papierfenstern an. Die architektonischen Formen sind hier nicht sehr verschwenderisch angewendet. Auch hat man nicht viel Papier gebraucht für die Zeichnungen derselbe.“, in: Kleiner Herz-Jesu-Bote 13 (1885/1886), 79,

Am Fest Mariä Himmelfahrt, 15. August 1886, legte Pater Erlemann zeitliche Gelübde für zwei Jahre ab.

In der bischöflichen Residenz Anzers, Puoli, studierte Pater Erlemann die chinesische Sprache. Wegen der Hitze und des ungewohnten Klimas war „fast zu allem vollständig untauglich“. (August Henninghaus, in: Kleiner Herz-Jesu-Bote 14 (1886/1887), 23.

Pater Erlemann blieb in Puoli und leitete ein provisorisches Baubüro. Er plante den Bau einer Kathedrale: „Gegenwärtig denken wir an den Bau einer neuen Kirche (Kathedrale) in Puoli. Ich hatte den Plan einer kleinen gothischen Kirche gemacht, Zu dessen Ausführung die Summe von 8000 Mark notwendig wäre. Sie gefiel den Christen sehr, und der Bischof meinte, sie würden gut mithelfen. Allein die Mithilfe fällt so spärlich aus, daß dem hochwürdigsten Herrn wieder der Mut schwindet. Er will jetzt eine aus Lehm bauen, und höchstens die Pfeiler, welche die Balken tragen, von Backsteinen machen, In Anbetracht der großen Armut, die überall herrscht, werde ich nicht viel dagegen sagen. Ich bedaure zwar, daß solche ‚Erdbauten‘ keine große Dauerhaftigkeit habenun keineswegs würdig sind, Wohnungen des großen Gottes zu sein; aber was ist zu machen, wenn es an Mitteln fehlt? Hier ist das Brennmaterial zu teuer, sonst könnten wir Ziegelsteine backen. Kohlen kosten hier mehr als das Zehnfache als in Europa. Alles wird mit Kaoliang-Stroh gebrannt. Holz ist mindestens dreimal so teuer wie im Vaterlande; ebenso Kalk wegen Mangels an Brennmaterial … Inzwischen mußte ich meinen Brief unterbrechen und einige andere Pläne machen für die zu bauende Kirche. Der vierte ist soeben fertig geworden, und ich habe alles aufgeboten, aus Erde, Backsteinen und Holz eine möglichst große und möglichst scvhöne Kirche zu bauen. Der hochwürdigste Herr Bischof hatz viel Freude daran, namentlich da ich ihm sagte, sie koste etwa die Hälfte der zuerst geplanten, also etwa 4.000 Mark.“ Brief Erlemanns, Puoli, 31. Dezember 1886, in: Kleiner Herz-Jesu-Bote 14 (1886/1887), 92.94.

Hilfsmittel für den Bau waren kaum vorhanden und seine Arbeiter hatten keine Erfahrung mit der Erbauung größerer Gebäude. Er mußte ihnen jeden Handgriff vormachen und sie bei allem begleiten, was sie taten.

Pater Erlemann litt in der heißen Jahreszeit immer an Geschwüren. Neben seinen Bauplänen machte er mühsame Fortschritte im Chinesischen. Wegen der Übung in der Sprache nahm ihn Bischof Anzer bisweilen auf Reisen mit.

Dazu kommt, daß es Räuberbanden gab. Außerdem wuchs die Fremdenfeindlichkeit. Am 15. November 1887 umringte eine Rotte von fünfhundert Menschen das Haus der Steyler Missionare in Tsining. Sie ließen den Missionaren mitteilen: „Wenn ihr heute nicht augenblicklich diesen Platz verlaßt, so vertreiben wir euch morgen!“ Nach dem Fortgehen der Missionare wurden alle Türen vermauert. Die Menge rief: „Fort mit den europäischen Teufeln! Fort mit ihrer abscheulichen Lehre! Jeder, der einen Chinesen ausliefert, der mit diesen Bastarden Umgang hat, erhält 20 Tiao (40 Mark) Belohnung!“ In: Kleiner Herz-Jesu-Bote 15 (1887/1888), 46f; Stadt Gottes 11 (1888), 220.

1899 bis 1901 war der Boxeraufstand, der diesen Namen nach der Kampfsportausbildung der Aufständischen erhielt. 32.000 christliche Chinesen fielen ihm zum Opfer.

Im Dekanat Ishiu

1888 bis zum 25. März 1894, dem Osterfest, war Pater Erlemann im Dekanat Ishui, das im Osten der Südshantungmission liegt. Größere Missionsstationen waren in Ichowfu und Wangchwang. Erlemann war meist im Bereich Chüchow tätig. Er war Baumeister und Waisenvater, betreute tausend Christen und Katechumenen. Er war meist in den Außengemeinden mit dem Bauen von Kapellen und in der Seelsorge beschäftigt.

Im Sommer 1888 mußte er allerdings ohnmächtig zuschauen, wie die chinesische Regenzeit manche seiner Bauten zu einem Häufchen Elend zusammensinken ließ, darunter auch hundert Meter Gartenmauer, die vier Meter hoch war und aus Bruchsteinen mit Lehm als „Mörtel“ aufgerichtet worden war.

Neben dem Ausbau der bischöflichen Residenz galt seine Hauptsorge den beiden Waisenhäusern für vierzig Mädchen und Jungen. Vgl. Kleiner Herz-Jesu-Bote 16 (1888/1889), 23; Stadt Gottes 11 (1888), 304.

Am 15. August 1889, dem Feste Mariä Himmelfahrt, war Kirchweihe in Puoli. Heinrich Erlemann hatte sie mit dem Schreinermeister Bruder Joseph Overlöper errichtet. Sie hatten es fertiggebracht, mit ganz unkundigen Maurern eine gewölbte Kirche im neugotischen Stile zu erbauen.

1890 wurde Pater Erlemann von Pocken befallen, erholte sich jedoch nach vier Wochen wieder. Als Bischof Anzer diese Missionsstelle visitierte, wurde ein Schmähplakat an die Hoftüre geklebt. Darauf stand, daß sich der Himmel bei der Ankunft des Bischofs verdunkelt habe aus Trauer über das Elend, welches der Bischof über diese Gegend brächte. Vgl. H. Erlemann, in: Kleiner Herz-Jesu-Bote 17 (1889/1890), 79f.

Im Juli 1890 reiste Erlemann zum Abschied des Bischofs Anzer nach Puoli. Darüber berichtete er: „Diesen Weg von 100 Stunden machte ich, noch krank vom kalten Fieber, zu Pferd und mit zwei chinesischen Führern. Elf Tage dauerte die Reise. […] muß man wissen, daß es in China über die Flüsse gewöhnlich keine Brücken und nur auf wenigen Flüssen Nachen zum Übersetzen gibt. Nun sind aber zur Regenzeit alle Flüsse furchtbar angeschwollen und treten oft so weit aus, daß man gar nicht einmal sieht, wo der eigentliche Fluß ist. […] Als ich über einen großen Fluß setzen mußte, der zwar sehr breit, aber noch nicht mannshoch tief war, wurde mein Pferd vom Strome niedergeworfen und ich vollständig ins Wasser getaucht. Zum Glück brauchte ich die Steigbügel nicht und war so bald wieder auf den Beinen. Jetzt mußte ich zu Fuß waten bis zum Ufer. […]  Wir kamen unterwegs in eine Herberge, in welcher nicht einmal eine alte Bank oder ein Tisch, selbst keine Strohmatte zu haben war. […] selbst Essen konnte uns der Wirt nicht bereiten; denn er hatte selber nichts. Zwei ausgehobene alte Türen dienten als Lagerstätte.  Ein im Dorf gekauftes Schweinsbein mit etwas Brot diente als Abendessen; aber ich konnte vor Müdigkeit und Krankheit wie fast immer am Abend nur wenig essen, weil ich noch nicht genügend vom Typhus und kalten Fieber geheilt war, an dem ich vor acht Tagen noch darnieder lag. Zwar hatte mich der Typhus diesmal nicht so furchtbar mitgenommen, wie das erste Mal, aber ich war doch mit den Sterbesakramenten versehne worden. […]  So war es gerade hier, als ich es sehr bereute, den Bitten meiner Christen nicht gefolgt zu sein, die mir sagten, ich möchte doch nicht diese gefährliche Reise in meinem kranken Zustande machen; denn ich würde wohl auf dem Wege sterben. Aber das Verlangen, den Herrn Bischof noch vor seiner Abreise nach Europa, zugleich mit allen versammelten Mitbrüdern zu sehen, ließ mich solche Bedenken verachten. […] Endlich, am elften Reisetage, langten wir abends spät zu Schiff in Puoli an. Der hochwürdigste Herr Bischof war krank. […] Die anderen Herren freuten sich sehr bei unserer Ankunft. Dann hatte ich ein paar Tage mit dem vom Gehen im Wasser geschwollenen Füßen zu hinken und bekam dann zum zweiten Male acht Tage lang das Wechselfieber. Inzwischen reiste der hochwürdige Herr Bischof ab. […] Ich pflegte mich in der Residenz etwa 14 Tage, reiste diesmal in Gesellschaft zweier Mitbrüder wieder zu meinem Distrikt zurück. […] Auf dieser Rückreise bekam ich die Ruhr, von der ich jetzt, nach mehr als 14 Wochen, bald kuriert bin.“ Heinrich Erlemann, eine „Badereise“ in China, 29. November 1890, in: Stadt Gottes14 (1891), 249f.

Bei der Europareise Bischof Anzers handelte es sich um den vorgeschriebenen ad-limina-Besuch. Das lateinische Wort limen bedeutet Schwelle, Eingang; Haus, Wohnung. Der Ausdruck: „sacra limina beatorum apostolorum Petri et Pauli“ bezeichnet die Grabstätten der Apostelfürsten in Rom. Eine „visitatio liminum“ ist der persönliche Besuch eines Bischofs beim Papst und an den Gräbern der Apostelfürsten, der für die europäischen Bischöfe alle fünf und für die außereuropäischen alle zehn Jahre vorgeschrieben ist (Codex iuris canonici – Kirchliches Gesetzbuch, canon 299). Ein solcher Besuch diente der Überwachung der Amtsgeschäfte eines Bischofs durch Papst und Kurie. Zugleich wird Anzer diesen Zeitraum für einen Heimaturlaub genutzt haben.

Im Dekanat Tsining

Ab dem 26. März 1894 war Erlemanns Arbeitsfeld in Tsining. In Tsowhsien und Yenchowfu hatte es gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben, die von chinesischen Gelehrten angeheizt worden waren. Deshalb beschloß Bischof Anzer, seine Zentralresidenz nach Tsining zu verlegen. Pater Erlemann sollte die notwendigen baulichen Veränderungen vornehmen, die Kapelle und Wohnungen für Geistliche und Gäste erbauen. Zugleich war er Prokurator (Ökonom).

Am 28. August 1894 legte er die Ewigen Gelübde ab.

Vom 29. bis zum 31. August 1894 fand ein Provinzkapitel statt, an dem Erlemann als Provinzprokurator teilnahm, Inhaltlich ging es um die Anpassung einzelner Vorschriften der Regel der Gesellschaft des Göttlichen Wortes an die Verhältnisse in Südshantung.

Die Anklageschrift gegen Bischof Anzer

Unterzeichnet von den Patres Josef Freinademetz, Anton Wewel, Heinrich Erlemann, August Henninghaus und Theodor Vilsterman, wurde am 3. September 1894 eine Anklageschrift gegen Bischof Anzer an den Generalsuperior Arnold Janssen verfaßt.

Wie war es dazu gekommen? Dazu gibt es eine längere Vorgeschichte.

Bereits am 8. Dezember 1887 hatte Pater Josef Freinademetz einen Brief an Bischof Anzer geschrieben, der als vorsichtige correctio fraterna (brüderliche Zurechtweisung) formuliert war.

„Ich meine, Strenge und Gewalt kann wohl die Herzen verschließen und verhärten, aber nicht gewinnen und für etwas begeistern. Mit einem Tropfen Honig fängt man mehr Fliegen als mit einer Tonne Essig.“ (Pater Josef Freinademetz, Brief an Bischof Anzer vom 8. 12. 1887, Chang chia chuang, in: Archiv des Generalats, Rom, 51.695.)

 

Es ging im folgenden Jahr um zwei Prozesse. In einem von diesen war ein Katechumene (Taufbewerber) angeklagt worden. Freinademetz bat in seinem Brief vom 1. September 1888 an Bischof Johann Baptist von Anzer zu beachten, was eine Verurteilung in diesem Menschen, der sich auf dem Wege zum Christentum befand, bewirken würde, und fuhr fort:

„Kurz, ich will ja durchaus nicht mit meiner Ansicht durchdringen, auch nicht einmal drängen, daß Euer Gnaden einen oder beide Prozesse besorgen; ich bin mit allem gerne zufrieden, nur halte ich es für Gewissenspflicht Euer Gnaden über den wahren Stand der Dinge aufzuklären, damit Sie dann nach bestem Wissen und Gewissen Vorsorge treffen für ihre armen verfolgten Schäflein. Man muß unter ihnen und mit ihnen leben, um mit anzusehen, was sie zu leiden haben; es ist schauderhaft!“ (Pater Josef Freinademetz, Brief an Bischof Anzer vom 1. 9. 1888, Chang chia chuang, in: Archiv des Generalats, Rom, 51.751f). Das Ergebnis dieser brüderlichen Zurechtweisung war, daß Bischof Anzer dem Missionar Freinademetz vorwarf, er habe gegen ihn agitiert. In der Folgezeit behandelte er ihn hart.

Das Verhältnis zwischen Freinademetz und Anzer war schwierig. Einerseits war Freinademetz seinem Bischof und Provinzialoberen Gehorsam schuldig, andererseits war Freinademetz ihm in der Beherrschung des  Chinesischen und Lateinischen überlegen; hinzu kam seine größere seelsorgliche Erfahrung und Volksnähe. Freinademetz hatte die größere natürliche Autorität und Ausstrahlung, nicht nur bei Chinesen, sondern auch bei seinen Mitbrüdern. Er diente allen, auch dem Bischof, durch seinen Katechismus, seine katechetischen Predigten und liturgische Texte in chinesischer Sprache. Er schrieb Eingaben an die Kurie in lateinischer Sprache, welche Anzer ohne Änderungen übernahm und an den Vatikan weiterleitete.

1894 wurde die Forderung drängender, der Bischof möge sanftmütiger mit Christen und Mitbrüdern umgehen. Das Amt des Bischofs und des Provinzials sollten getrennt werden. Da Anzer aber noch bis 1900 Provinzial sei, könne man ihm einen Spiritual mit entscheidendem Einfluß an die Seite geben.

Wenn man über den Bischof spricht, so ist das Thema seine eiserne Strenge und willkürliche Härte, daß er den wirklichen Tatbestand nicht kennt und nicht erforscht, sondern daß „auf grundlose Vermutungen hin losgedonnert werde, ohne Gegengründe auch nur anzuhören; das Schlechte würde als harte Münze ohne Bedenken hingenommen, das Gute um so stärker bezweifelt.“ Verdienter oder unverdienter Tadel wird fast regelmäßig in Gegenwart anderer erteilt. „sehr häufig in den beleidigendsten Ausdrücken.“ Es ist klar, daß der Bischof die Leute auch gut behandelt. Es ist aber auch wahr, daß manche Art guter Behandlung, zum Beispiel das übermäßige ins Gesicht loben oder das viele kindische Scherzen, gar oft eine gegenteilige Wirkung hervorbringt, statt Liebe vielmehr Geringschätzung und Ekel erzeugt. Auf den schönsten Sonnenschein kann ohne Veranlassung Sturm und Gewitter erfolgen. „Der Charakter Eurer bischöflichen Gnaden versperrt dem Missionspersonal, besonders den in der Mission tätigen Missionaren, den Mund, und so kommt es, daß Euer Gnaden gar vielfach vom richtigen Standpunkt der Dinge nicht oder nur falsch unterrichtet sind.“

Hinzu kommt, daß zum Beispiel in die Worte Euer Gnaden sich soviel Unwahrheit, Verdrehungen, Widerspruch und Ehrabschneidung einmischen. Was der Bischof heute behauptet, verneint er morgen, jetzt lobt er, was er früher getadelt hat. „Und leider pflegen Euer Gnaden Lob und Tadel immer in den höchsten Superlativen zu verteilen. Die vielen Versprechungen und Ankündigungen, aus denen nie etwas wird, erzeugen Unzufriedenheit und Gleichgültigkeit.“

In der Tiefe unseres Herzens aber bedauern wir, „wenn wir unsern hochverdienten Oberhirten propter nimium vinum – wegen des zu vielen Trinkens – seiner Zunge und seiner Schritte nicht mehr mächtig, herumwackeln sehen müssen. (Josef Freinademetz, Brief an Bischof Anzer vom 16. Februar 1894, in: Archiv des Generalats, Rom, 92.284).

Nun erklärt sich, was der Inhalt der Anklageschrift war, die am 3. September 1894 unterzeichnet wurde.

Im Jahre 1896 reichte Erlemann ein Gesuch ein, nach Europa zurückkehren zu dürfen, das aber vom Generalrat abgelehnt wurde.

Luitpold von Bayern (1821-1912) erhob Bischof Anzer im Jahre 1897 in den Adelsstand.

Am 13. Juni 1897 fand ein Provinzkapitel statt. Freinademetz, Wewel, Erlemann und Henninghaus, alle waren Unterzeichner der Anklageschrift gegen Anzer von 1894, nahmen daran als Provinzialräte teil. Es wurde ein Antrag an das Generalkapitel gestellt, Brüdern und Patres das Rauchen zu erlauben, da es in China üblich, aber in der Gesellschaft des Göttlichen Wortes verboten war.

Im Herbst 1897 war der Kapellenbau in der neuen Bischofsresidenz Tsining abgeschlossen. „Es ist ein herrlicher Bau, aufgeführt von unserem hochwürdigen Herrn Erlemann. Die Chinesen sagen, nach fünfzig Jahren würde man nicht mehr glauben, daß der Bau von Menschen aufgeführt worden sei; man würde den Baumeister unter die Götter versetzen. Prächtig nehmen sich in der Kirche die vierzehn großen Säulen aus, die alle aus einem Stücke sind. Unter Leitung des Missionärs leisten die Chinesen auch sehr gute Arbeiten. An all den großen Kapitellen sind schöne Blumen eingemeißelt.“ (Josef Freinademetz, Tsining, 4. Oktober 1897, in: Berichte aus der China-Mission, herausgegeben von Fritz Bornemann, Analecta SVD 27, Rom 21974, 123.)

Die Ermordung zweier Missionare

Die Missionare Franz Xaver Nies und Richard Henle wurden in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1897 im Dorf Zhang (Provinz Juye, Shantung) ermordet. Eine Gruppe von fünfundzwanzig Chinesen hatte die Tür des Missionshauses aufgebrochen. Das Motiv war, daß wohlhabende Chinesen, die Christen geworden waren, sich geweigert hatten, für Tempelfeste zu zahlen.

Im Missionsmuseum Steyl sind die einfachen Gewänder der beiden Missionare ausgestellt. Deutlich ist der Schlitz zu sehen, der durch den Messerstich ins Herz verursacht wurde. Die Kleider weisen Blutspuren auf. Als Kinder standen wir vor dieser Vitrine, von einem wohligen Schauer berührt.

Deutsche Kolonie

Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) nahm diesen Vorfall als „lang ersehnten Grund und Zwischenfall“, die Bucht von Tsingtau (Quīngdăo) von deutschen Marinesoldaten besetzen zu lassen. 1898 wurde Kiautschou (Jiāozhōu) im Süden der Shantung-Halbinsel vom Chinesischen an das Deutsche Kaiserreich zwangsverpachtet. Dieses Gebiet kam 1914 unter die Verwaltung des Japanischen Kaiserreiches.

Im Dekanat Yenchowfu

Die Bauten in der neuen Bischofsresidenz in Tsining waren vollendet. Im Jahre 1899 wurde Heinrich Erlemann als Baumeister nach Yenchowfu versetzt. Dort sollte er eine Sühnekirche erbauen. Die Situation war nach wie vor bedrohlich. Dies zeigt die Flucht vieler Christen in die größeren Missionsstationen.

Europareise

In Steyl wurde am 8. September 1900 das fünfundzwanzigste Jubiläum der Gesellschaft des Göttlichen Wortes gefeiert. Pater Heinrich Erlemann war der einzige noch Lebende, der mit Pater Arnold Janssen an der Gründungsfeier teilgenommen hatte. Daher wurde er zu diesem festlichen Anlaß eingeladen.

Am 23. April 1900 verließ er Tsining. Er fuhr mit dem Schiff auf dem Kanal bis Shanghai. Am 28. Juni 1900 traf er in Rom ein. Er blieb lange Zeit in Europa.

Erneute Anklage Bischof Anzers

Am 20. August 1901 sandte Pater Freinademetz im Auftrage seiner Mitbrüder wiederum eine Anklageschrift gegen Bischof Anzer an den Generalsuperior Arnold Janssen. Dieser leitete sie mit einem Begleitbrief an den zuständigen Kardinalpräfekten der Propaganda fidei, Mieczysław Halka Ledochowski (1822-1902). Dieser lehnte die Eingabe ab, starb aber am 22. Juli 1902. Sein Nachfolger, Antonio / Girolamo Maria Gotti (1834-1916), leitete den Prozeß gegen Anzer ein und zitierte ihn nach Rom.

Am 10. Oktober reiste Bischof Anzer ab. Über Tsinangfu ging es nach Chowtsun mit dem Wagen, dann mit der Shantung-Eisenbahn nach Tsingtao. Am 17. Oktober 1903 fuhr er mit dem Schiff nach Chefoo. Ein russisches Passagierschiff brachte ihn nach Port Arthur. Dort bestieg er den Zug nach Dalʼnij. Nach sieben Tagen war er am Bajkalsee. Hier stieg er in ein Schiff um, da der Schienenweg an dieser Stelle noch nicht fertiggestellt war. (Dieser Umstand sollte sich im russisch-japanischen Krieg 1904/1905 als fatal erweisen.)  Vom anderen Ufer des Bajkalsees ging es mit dem Zug in sieben Tagen nach Tula (südlich von Moskau), dann nach Kiew sowie Odessa und von dort über Budapest nach Fiume und Ancona; weiter mit dem Zug nach Rom. Dort traf er am 7. November 1903 ein. Er bekam Quartier im deutschen Kolleg, der Anima. Er erhielt am 23. November 1903 eine Audienz bei Papst Pius X. (1835-1914). Bischof Anzer verstarb am 24. November 1903 an einem Schlaganfall im Collegio Teutonico di Santa Maria dellʼAnima in Rom. Er wurde auf dem Campo Santo Teutonico neben dem Petersdom beigesetzt.

Sein Nachfolger als apostolischer Vikar für das Vikariat Süd-Shantung wurde August Henninghaus.

In Tsiningfu und Tsiningtschou

1908/1909 arbeitete Pater Erlemann in Tsiningfu und 1910/1911 in Tsiningtschou.

Letzte Lebensjahre

In seinen letzten Lebensjahren litt Pater Erlemann an Malaria, Flecktyphus, Unterleibstyphus, Ruhr und Pocken. Seine Lunge, sein Magen und sein Herz bereiteten ihm Schwierigkeiten.

Vor Pfingsten 1917 ging er nach Dädja, um den Grabstein für Pater Theodor Vilsterman (1857-1916) herrichten zu lassen. Da überfielen ihn zunächst starke Magenschmerzen und anschließend setzte ein Herzschlag seinem Leben ein Ende. Es war der 30. Mai 1917.

Pater Erlemann war 31 Jahre in der Mission, 33 Jahre Priester und 42 Jahre Mitglied der Gesellschaft des Göttlichen Wortes. Er wurde 65 Jahre alt. Er war schlicht, einfach und offenherzig, arbeitsam bis über die Grenzen seiner Kräfte hinaus und kompetent in seinem Fach.

Pater Henninhaus, Nachruf 1920

 

 

 

Pater August Henninghaus (11. September 1862 bis 20. Juli 1939), Ein verspäteter Nachruf, in: Stadt Gottes, März 1920.

Nachbemerkungen

Herzlichen Dank an Norbert Nordmann für die Bereitstellung dieses Artikels!

Es ist erstaunlich, daß das fünfbändige Werk „So waren sie“ Erlemanns Namen nicht einmal erwähnt. Dieses Werk wurde von Pater Johannes Fleckner 1991 bis 2002 in St. Augustin herausgegeben.

Pater Henninghaus konzentrierte sich in seinem Nachruf auf die Person Pater Erlemanns. Was die Erbauung der Steyler Doppelkirche anbetrifft, sind weitere Namen zu nennen.

Bei seinem ersten Aufenthalt in Rom im Jahre 1878 lernte Arnold Janssen den Priester Josef Prill kennen, der ihm den Bau einer Doppelkirche als Zentrum des Missionshauses vorschlug, da das Grundstück, das Janssen erworben hatte, klein war. So konnte auf der gleichen Fläche doppelt soviel Raum geschaffen werden. Pfarrer Münzenberger aus Frankfurt am Main war Bauberater seines Bischofs. Er riet, die Kirche in die zur Maas verlängerte Achse des ersten Neubaus von 1876 zu stellen. Das Vorbild war die ehemalige Klosterkirche in Schwarz-Rheindorf bei Bonn-Beuel.

Josef Prill fertigte die Grund- und Aufrisse für die Doppelkirche. Heinrich Erlemann führte die Detailzeichnungen aus und hatte die Bauleitung. Der Bauunternehmer Gottfried Peeters aus Baarlo wurde mit der Ausführung beauftragt. Die Steyler Brüder übernahmen in ihren Werkstätten viele handwerkliche Arbeiten, auch die Schüler leisteten zahlreiche Dienste.

Am 25. März 1881, dem Fest der Verkündigung, legte Bischof Paredis von Roermond den Grundstein. Am Pfingstfest, 12. Mai 1883, konnte die erste Heilige Messe in der Unterkirche gefeiert werden. An Mariä Geburt, 8. September 1884, weihte Bischof Paredis die Oberkirche.

 

Bibliographie

o  Bornemann, Fritz, Der selige P. J. Freinademetz. 1852-1908. Ein Steyler China-Missionar. Ein Lebensbild nach zeitgenössischen Quellen, Bozen 1977.

o  Die jüngste Christenverfolgung in Südschantung (Zining, 22. Juli 1896), in: Kleiner Herz-Jesu-Bote, 24, November 1896, Nr. 2,12-15.

o  Hartwich, Richard, Steyler Missionare in China. 1. Missionarische Erschließung Südshantungs 1879-1903. Beiträge zu einer Geschichte, Studia Instituti Missiologici Societatis Verbi Divini, Band 32, St. Augustin 1983.

o  Henninghaus, August (11. September 1862 bis 20. Juli 1939), Ein verspäteter Nachruf, in: Stadt Gottes, März 1920.

o  Henninghaus, August, P. Josef Freinademetz. Sein Leben und Wirken. Zugleich Beiträge zur Geschichte der Mission Süd-Schantung, Yenchowfu 1920; Yenchowfu 21926,

o  Rehbein, Franziska Carolina, Das Geheimnis der Liebe Gottes in der Symbolik der Oberkirche von St. Michael – Steyl, Nettetal 2007.

o  Rivinius, Karl Josef, Im Spannungsfeld von Mission und Politik. Johann Baptist Anzer (1851-1903) Bischof von Süd-Shandong, Nettetal 2010.

o  Rivinius, Karl Josef, Weltlicher Schutz und Mission. Das deutsche Protektorat über die katholische Mission von Süd-Shantung, Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Band 14, Köln und Wien 1987.

o  Schwager, Friedrich (1876-1929), Die katholische Mission in Südschantung, Hamm 1902.

o  Walle, Heinrich, Märtyrer für den deutschen Flottenstützpunkt Tsingtau? Die Ermordung der Patres Richard Henle SVD und Franz Xaver Nies SVD am 1. November 1897, in: Im Gedächtnis der Kirche neu erwachen. Festgabe für Gabriel Adrianyi, herausgegeben von Reimund Haas, Geleitwort von Miloslav Vlk, Studien zur Geschichte des Christentums in Mittel- und Osteuropa, Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Band 22, Köln 2000, 559-587.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

Hauptseite