Erinnerung an Berdjajew*
Klaus Bambauer
Am 23. März 1998 jährte sich zum 50. Mal der Todestag
des russischen Denkers und Philosophen Nikolaj Berdjajew. Aus diesem Grund soll
nachstehend im Anschluss an eine kurzgefasste Lebensskizze der Frage
nachgegangen werden, ob und wie der Philosoph auch Beachtung in der
evangelischen Theologie gefunden hat. N.Berdjajew wurde am 6. März 1874 in der
Nähe von Kiew geboren, trat 1884 in das Kadettenkorps ein und begann schon im
Alter von 14 Jahren, sich mit philosophischen Fragen (Kant, Schopenhauer und
Hegel) zu beschäftigen. Seit 1894 nahm er an Aktivitäten marxistischer
Studentenkreise teil, wurde auch arretiert und schließlich 1901 nach Wologda/Nordrussland
verbannt. Erste philosophische Studien, die ihn u.a. auch nach Heidelberg
(Windelband) führten, veranlassten ihn, Aufsätze über Probleme des Sozialismus
und Idealismus zu verfassen, denen bald eine ganze Reihe bedeutender Bücher
folgen sollten, die er nach einer tiefen religiösen Krise herausgab. Stark
wurde Berdjajew von Jakob Böhme, Wladimir Solowjew und mystischen Strömungen
Russlands ebenso wie von Kant, Nietzsche und Schopenhauer beeinflusst. Nach der
russischen Revolution war er gezwungen, zu emigrieren.
Er ließ sich zunächst ab 1922 in Berlin und ab 1924 in
Paris nieder. Von hier aus redigierte er die religionsphilosophische
Zeitschrift "Put'" (Der Weg), und seine philosophischen Bücher, z.B.
"Der Sinn des Schaffens" (Tübingen 1927), "Von der Bestimmung
des Menschen" (Bern 1935) oder sein Hauptwerk, "Die Philosophie des
freien Geistes" (Tübingen 1930) erregten viel Aufsehen, vor allem in
Westeuropa. Er nahm in den 1930er Jahren nicht nur an internationalen
philosophischen Kongressen teil, sondern war auch einer der ersten, die die
ökumenische Arbeit in den Blick nahmen und förderten. Zu seinen Werken zählt
sein erst 1998 in deutscher Übersetzung erschienenes religionsphilosophisches
Werk "Wahrheit und Offenbarung", das seine religionsphilosophische
Trilogie abrundet.1) Nikolaj Berdjajew, der am 12. Juni 1947 zum Ehrendoktor
der Universität von Cambridge ernannt wurde, starb am 23. März 1948 an seinem
Schreibtisch im Haus in Clamart bei Paris, einem Vorort der Stadt, wo er seine
letzte Ruhestätte fand.
Seine letzte Tätigkeit war die Arbeit an einem Buch
über Mystik, dessen Plan in seinen Archiven aufbewahrt wird. Nikolaj Berdjajew
war kein Theologe, auch kein Philosoph im strengen Sinn des Wortes. Dennoch
kann immer wieder konstatiert werden, dass er nicht nur in Dissertationen zu
speziellen Fragen der russischen Religionsphilosophie Aufmerksamkeit im
akademischen Bereich gefunden hat, sondern dass er auch ein Vertreter der
personalistischen Philosophie mit existentiellem Einschlag und weittragender,
kaum erkannter Bedeutung geblieben ist. Neben Paul Tillich haben sich u.a. auch
der Orientalist Henry Corbin, der analytische Psychologe C.G.Jung und der
Psychotherapeut Arië Sborowitz mit ihm beschäftigt, ganz zu schweigen von
neueren theologischen, freilich recht umstrittenen Entwürfen wie dem von
Matthew Fox "Der große Segen" (München 1991) für die Fragen der
schöpferischen und mystischen Erfahrung. Leider treten solche Werke zu wenig in
den theologischen Blickwinkel oder werden zu rasch als "Esoterik"
disqualifiziert, weil sie die ausgetretenen traditionellen Bahnen einmal zu
verlassen wagten. Hier ist – auch im Sinne Berdjajews – eine größere Freiheit
des Denkens wünschenswert. Doch Ängstlichkeit und mangelnde
philosophisch-theologische Progressivität blockieren meist verheißungsvolle
Ansätze. Dies betrifft leider auch die theologische Rezeption der Denkmodelle
Berdjajews.
Dass die – oft recht spekulativen und ungewöhnlichen
Gedanken N.Berdjajews wenigstens ansatzweise und wenn auch spät – wohlwollenden
Eingang in die Theologie gefunden haben, vermittelt die Lektüre der Bücher von
Jürgen Moltmann: "Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und
Kritik christlicher Theologie"2) sowie "Trinität und Reich Gottes.
Zur Gotteslehre".3) Gerade im letztgenannten Werk bedient sich J.Moltmann
der Berdjajewschen Konzeption von der "Tragödie in Gott" und bemerkt:
"Wir nehmen hier die Grundgedanken seiner Geschichtsphilosophie auf, die
man eine Theosophie des Menschengeschicks nennen kann". Moltmann stellt im
Folgenden die Zentralgedanken Berdjajews über die Freiheit und über die
Sehnsucht Gottes nach dem Menschen, seine Ablehnung eines abstrakten
rationalistischen Monismus, die Gott als etwas Unbewegliches vorstellt, in den
Mittelpunkt seiner Berdjajew-Rezeption und verbindet dies wie Berdjajew mit der
Aufnahme von Gedanken Böhmes und Schellings. Dann fasst er die Berdjajewschen
Intentionen zusammen: "Gott sehnt sich nach seinem Anderen, um seine
schöpferische Liebe zu betätigen". Der Einwand, dass jede Bewegung in Gott
einen Mangel an göttlicher Vollkommenheit darstellt, ist damit entkräftet. Das
Drama der göttlichen Liebe und der menschlichen Freiheit, das im Inneren der
Gottheit beginnt und das Leben der Gottheit ausmacht, ist vielmehr der Beweis
für die göttliche Vollkommenheit. Dennoch steckt darin eine Spannung, die Gott
selbst betrifft und nicht nur von außerhalb seiner selbst ins Werk gesetzt ist:
die Sehnsucht Gottes nach "seinem Anderen", den Gott liebt und nach
dessen Liebes-Erwiderung er dürstet. Für Berdjajew ist dieser "Durst
Gottes" der Schlüssel zum Rätsel der Weltgeschichte. Wie aber ist er in
Gott selbst begründet? Moltmann charakterisiert N.Berdjajew sicher richtig
weder als einen "Fachtheologen" noch als einen "Fachphilosophen"
sondern vielmehr als einen "Denker", dessen Originalität seine
Einordnung schwierig und dessen Werk bekanntlich unsystematisierbar macht.
Berdjajew selbst sagt von sich: "Die akademischen Kreise haben mich
niemals besonders gemocht –, sie hielten mich für einen gar zu existenziell
ausgerichteten Philosophen, eher für einen Moralisten, als für einen gelehrten
Philosophen. Ich bin außerdem nicht Theologe, sondern Religionsphilosoph. Die
Religionsphilosophie ist ein spezifisch russisches Produkt und die westlichen
Christen unterscheiden sie nicht sehr von der Theologie."4)
In seiner Bewertung der religionsphilosophischen
Aussagen Berdjajews kommt Moltmann zur anerkennenden Beurteilung: "Die
Größe der Geschichtsmetaphysik Berdjajews liegt darin, dass er durch die
Annahme einer 'Geschichte in Gott' die himmlische und die irdische Geschichte
in die geschichtliche Wechselbeziehung von göttlicher Liebe und menschlicher
Freiheit setzen kann: die menschliche Geschichte ist wesentlich
Freiheitsgeschichte. Als Freiheitsgeschichte ist sie zugleich die
Passionsgeschichte Gottes. Zentrum und Angelpunkt der gott-menschlichen
Geschichte ist das Kreuz des menschgewordenen Gottes auf Golgatha. Das Kreuz
steht im Zentrum der menschlichen Freiheit und zugleich im Mittelpunkt des
Leidens Gottes. Die Erkenntnis des Kreuzes Christi macht 'das Metaphysische
geschichtlich' und 'das Geschichtliche metaphysisch'. Die irdische
Freiheitsgeschichte wird als ein Moment der himmlischen Geschichte erfasst,
denn die Tragödie der menschlichen Freiheit ist die Leidensgeschichte der
göttlichen Liebe. Berdjajew stellt die Theologie der Geschichte als Theologie
der Freiheit dar und umgekehrt. Seine Kreuzestheologie ist die Antwort auf das
Theodizeeproblem, das aus der Theologie der Geschichte und der Freiheit entsteht".5)
Gestützt wird die sich auf Berdjajew berufende
Anschauung J.Moltmanns auch durch die Untersuchung G.Scholems "Schöpfung
aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes", wo der jüdische Autor zum
inneren, bewegten Leben in Gott ausführt, dass Gott sich auf einen
"Punkt" im göttlichen Sein zurückgezogen habe, "der als der
wahre mystische Urraum aller Schöpfung und aller Weltprozesse« zu verstehen
sei."6)
Erst von diesem Punkt der Kontraktion, d.h.
Zusammenziehung aus geschehe die Schöpfung aus dem "Nichts", da in
der Selbstverschränkung des göttlichen Wesens erst dieses "Nichts"
zutage trete. Da diese Selbstverschränkung sich aber als eine innere Bewegung
in Gott verstehe, hat dies Konsequenzen: "Gott als der ewig Unbewegte ist
ja ein teures Erbstück aller Theologie. Nur um den Preis eines Konfliktes mit
solcher orthodoxen Auffassung war die neue Vorstellung durchzuführen. Nun darf
man sagen, dass die orthodoxe Formel vom unbewegten Gott ihren Ursprung eher
bei Aristoteles als in der biblischen Offenbarung hat, die von solchem
unbewegten Gott weniger weiß, als den Theologen von jeher lieb war. Immer haben
die Mystiker ihren Zweifel über diesen Satz gehabt, den sie, auch wo sie ihn
unterschrieben, so umdeuteten, dass etwas anderes herauskam. Das Göttliche als ein
Lebendiges ist mit dem Satz von der Unbewegtheit Gottes letzten Endes nicht
vereinbart. Erst bei der Überwältigung des monotheistischen biblischen Denkens
durch das griechische konnte solcher Gedanke aufkommen".
Über die Rezeption des Werkes von N.Berdjajew fasst
der kompetente Kenner der russischen Religions- und Geistesgeschichte, Ludolf
Müller, zusammen: "Zentrale Bedeutung für das Leben und die philosophische
Weltanschauung Berdjajews hat die Idee der Freiheit. Von ihr aus entwickelt er
in Anlehnung an Böhme eine gnostisch anmutende Kosmologie, von ihr aus baut er
auch seine Geschichtsphilosophie und seine Ethik auf, in der er die christliche
Ethik mit Motiven Nietzsches zu bereichern sucht, indem er das 'Schöpfertum'
als ethische Aufgabe des Menschen postuliert. Eng verbunden mit der Idee der
Freiheit ist der Personalismus Berdjajews, der die freie, schöpferische
Persönlichkeit als den höchsten Wert auffasst. Die Philosophie Berdjajews darf
nicht als für die orthodoxe Kirche typisch angesehen werden. Seine Bedeutung
liegt weniger in seinem philosophischen System (soweit man bei ihm überhaupt
von einem solchen reden kann, was philosophisch nicht im Sinne des russischen
Denkers wäre), als vielmehr in seiner prophetischen Kritik an allen
'Objektivationen', d.h. Erstarrungsformen des Geistes (besonders im sozialen
[und religiösen Leben]. Für die Theologie ist er bedeutsam durch seine Kritik
an den christlichen Konfessionen, Institutionen und Glaubenslehren,
andererseits dadurch, dass er vielen der Kirche entfremdeten Gebildeten einige
Grundideen des Christentums, wenn auch in sehr eigenwilliger Form, vermittelt
hat."7)
Schließlich sei der Vollständigkeit halber erwähnt,
dass anläßlich der Erscheinung des großen Werkes von W.Dietrich über Berdjajew
im Jahre 1980 auch Helmut Gollwitzer das Wort zu einer "Wiederbegegnung
mit N.Berdjajew" ergriffen hat. Gollwitzer würdigt den russischen
Philosophen als einen reichen, originalen und ganz unveralteten Denker, dessen
Werk in W.Dietrichs Interpretation eindrucksvoll zu Tage tritt und Gelegenheit
zu einer überraschenden und fruchtbaren Wiederbegegnung bietet.8) Der Autor
konzediert, dass Theologie mit der Philosophie, die sich mit der Klärung von
Grundlagenproblemen logischer und methodologischer Art beschäftige, im Sinne
eines friedlichen Nebeneinanders leben könne. Dennoch habe der russische
Denker, der nicht in die Schublade des Synergismus zu verbannen sei, weder zur
reformatorischen Theologie noch zu deren Erneuerung in der dialektischen
Theologie ein Verhältnis gefunden.9) Von Barths Arbeit habe er nur deren
Frühphase zur Kenntnis genommen "und diese nur mit sichtlicher
Antiphathie". Dennoch kommt H.Gollwitzer, den ethischen Intentionen des
Denkers sicher in manchem nahestehend, zur wohlwollenden Beurteilung, dass eine
neue Beschäftigung mit diesem zu Unrecht Vergessenen lohnend sei, denn:
Berdjajew war christlicher Philosoph, wollte nie etwas anderes sein und vertrat
mit Entschiedenheit die Überzeugung, dass der christliche Glaube mit
philosophischem Denken nicht nur nicht unvereinbar sei, sondern dass
philosophisches Denken sich selbst schädige, wenn es um seiner Vernünftigkeit
willen gegen die christliche Botschaft sich abschließe.10)
Anmerkungen
*Erstveröffentlichung: Erinnerung an den russischen
Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew, in: Deutsches Pfarrerblatt 1998, Heft
4, S. 199-201 (hier leicht erweitert).
1) N.Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, Waltrop
1998.
2) J.Moltmann, Der gekreuzigte Gott, München 1972.
3) München 1980.
4) N.Berdjajew, Philosophische Autobiographie
"Selbsterkenntnis", Darmstadt 1953, S. 381.
5) Moltmann, Trinität, S. 62f.
6) G.Scholem, Schöpfung aus Nichts und
Selbstverschränkung Gottes, Eranos-Jahrbuch 1956, Zürich 1957, S. 87-119.
7) L.Müller, Berdjajew, in: RGG3, Bd. III,
Tübingen 1957, Sp. 1041 f.
8) W.Dietrich, Provokation der Person – Nikolaj
Berdjajew, Gelnhausen 1975ff, Bd. I-III+V.
9) Vgl. zum Gedanken des "Synergismus" aus
kirchenhistorischer und systematischer Sicht: H.M.Knechten, Rechtfertigung und Synergie
bei Theophan dem Klausner, Waltrop 1998.
10)
H.Gollwitzer, Wiederbegegnung mit Nikolaj Berdjajew, Ev. Theologie 1980, Heft
2, S. 126-142. In der o.a. Arbeit Berdjajews »Wahrheit und Offenbarung« wird
durch die Herausgeber ausführlich in einer Einleitung und Kommentierung des
Textes in das Denken Berdjajews eingeführt (S. 1-158). So erfährt Berdjajew
dort eine Würdigung als Anreger für eine Idee des Schöpferischen in der
Psychotherapie bei Erich Neumann und dessen vom Zen-Buddhismus beeinflussten "Nichts-Punkt",
die ökumenischen und eschatologischen Perspektiven werden beleuchtet, die
Aspekte der Theoandrie im Vergleich mit Henry Corbin herausgestellt und sein
Anliegen wird mit den philosophischen Gedanken Kants und den psychologischen
Erkenntnissen Jungs konfrontiert. Ebenso sind Berdjajews Gedanken von Ken
Wilber, dem Hauptvertreter der transpersonalen Psychologie, aufgenommen worden.
Wieweit K.Wilber freilich Berdjajew gerecht geworden ist, darüber ist noch
keine endgültige Klarheit erlangt worden.