Von der Vereinigung der
Christen des Ostens und des Westens
Nikolaj Berdjajew
in: Ähren aus der Garbe.
Christi Reich im Osten, Mainz 1926, 185-200
(T.Klépinine, Bibliographie, Paris 1978, Nr. 73bis)
[S. 185] Die Trennung der Kirchen oder richtiger
gesagt: die Spaltung der Christenheit ist der größte Mißerfolg des Christentums
in der Geschichte. Dieser Mißerfolg legt davon Zeugnis ab, wieviel durch Gottes
Vorsehung der Freiheit des Menschen überlassen ward, und wie sehr der Mensch
diese Freiheit mißbraucht hat. Innerhalb der Kirche Christi kann es keine
Trennung geben, denn die Kirche ist eine, und sie ist einheitlich; ihre
Einheitlichkeit wird dadurch bestimmt; daß Christus in ihr lebt, daß sie die Gnadengaben
vermittelt, und daß die Sakramente in ihr gespendet werden. Nicht die Kirche
hat sich gespalten, sondern [S. 186] die christliche Menschheit. Die Trennung
ist im Reiche des Kaisers erfolgt, welches sich mit dem Gottesreich verflochten
hat, nicht aber in dem Reiche Gottes, in dem es keine Trennung geben kann. Die
einzige und ewige Wahrheit der christlichen Offenbarung wird in verschiedenen
Rassen, Nationen, Persönlichkeiten individualisiert. Die Absolutheit der
christlichen Wahrheit widerspricht in nichts einer Individuation dieser Art.
Zwischen dem Universalen und dem Individuellen gibt es gar keine einander
ausschließenden Gegensätze. Das Universale und das Individuelle gehören in die
konkrete Alleinheit herein. Die absolute Wahrheit des Christentums hat einen
menschlichen Empfänger. Das menschliche Element ist nicht passiv, sondern
aktiv, und es reagiert schöpferisch verschieden auf das, was ihm von oben
offenbart wird. Es schafft eine Mannigfaltigkeit der Formen. Hierin kann man
nichts Schlechtes sehen. Im Hause des Vaters gibt es viele Wohnungen [Joh
14,2]. Durchaus berechtigt und natürlich ist das Vorhandensein eines östlichen
und eines westlichen Typus des Christentums, eines romantischen [sic]
Christentums und eines germanischen Christentums. Man muß sagen, daß sich
bereits in den ersten Jahrhunderten ein Unterschied in den Typen des östlichen
und des westlichen Christentums bemerkbar machte. Sehr verschieden ihrem Geiste
nach war die Patristik des Ostens von der des Westens; es bildeten sich verschiedene
Formen der Frömmigkeit in den beiden Hälften der christlichen Welt aus. Die
eine Hälfte der Christenwelt übernahm das Erbe Griechenlands, die andere – das
Erbe Roms. Und wäre es nicht zu der Katastrophe der formalen Trennung der
Kirche gekommen, die erst dann stattfand, als die Unterschiede der beiden Typen
des Christentums hinreichend durchgearbeitet waren, so hätten dennoch scharf
individualisierte und voneinander unterschiedene Typen des östlichen und des
westlichen Christentums bestanden. [S. 187] Vom orthodoxen Standpunkt aus kann
man anerkennen, daß auch bei Beibehaltung der kirchlichen Einheit eine
lateinische Christenheit bestanden hätte, und daß diese lateinische
Christenheit dem russischen orthodoxen Menschen sehr fremd hätte sein können.
Die russischen Orthodoxen, die dem Katholizismus feind sind, sagen mitunter,
sie könnten die lateinische Sprache und die glattrasierten Gesichter der
katholischen Priester nicht vertragen, und sie neigen dazu, in dieser
lateinischen Sprache und in diesen rasierten Gesichtern geradezu eine Ketzerei
zu erblicken. So stark wirken sich nationale Voreingenommenheiten aus! Blickt
man aufmerksamer auf die Prozesse religiöser Individuation, so wird man zugeben
müssen, daß sich auch der deutsche Katholizismus niemals jenen lateinischen
Geist angeeignet hat, welcher den Katholizismus der romanischen Völker
durchdringt. Es genügt, an die große deutsche Mystik zu denken, die in ihrem
wesentlichen Teil katholisch ist, und sie mit der spanischen, italienischen
oder französischen katholischen Mystik zu vergleichen. Tauler, Suso und Jan van
Ruysbroeck oder Angelus Silesius, der ein leidenschaftlicher und unduldsamer
Katholik war, gehören einer ganz anderen Geisteswelt an als der heilige
Johannes vom Kreuz, als die heilige Theresia, die selige Angela oder der hl.
Franz von Sales. Die deutsche katholische Theologie ist weniger rationalistisch
als die französische und italienische Theologie und in ihr herrscht die
lateinische Vorliebe für Klarheit der Formen weniger vor. Ein Theologe wie
Scheeben wäre in Frankreich unmöglich gewesen. Der hl. Thomas von Aquino war
ein typischer Italiener, ein lateinischer Genius, ein Genius der Form und des
Maßes. Der deutsche Geist hinwiederum brachte einen Meister Eckehart hervor.
Der Protestantismus war zumeist ein Produkt der deutschen und der
angelsächsischen Rasse, ihrer individuellen Formen der Religiosität. Es [S.
188] war dies ein krankhafter Protest gegen den Zwang des lateinischen
Universalismus. Wenn die Individualisierung innerhalb des Christentums der
westlichen Welt sehr stark ausgesprochen ist, wenn sie auch innerhalb des
Katholizismus selber Geltung hat, so gehen diese Individualisierungen und
Unterscheidungen noch tiefer, wenn man das Christentum des Ostens und des
Westens miteinander vergleicht. Primär und grundlegend sind nicht die
dogmatischen und nicht die kirchlich kanonischen Unterschiede zwischen der
Rechtgläubigkeit und dem Katholizismus, sondern die Unterschiede des geistigen
Typus und der geistigen Erfahrung, des mystischen Weges. Wie sehr die
Orthodoxen und die Katholiken auch über das filioque und die
Unfehlbarkeit des Papstes streiten mögen, sie werden doch nie einem
gegenseitigen Verständnis nahekommen. Es prallen hier Welten aufeinander, die
verschiedene Wege begangen haben und auf diesen ihren Wegen verschiedene
Erfahrungen sammelten. Es fällt ihnen schwer, einander zu verstehen. Die
Stipulierung eines abstrakt-formalen gleichen oder verschiedenen Denkens kann
für das gegenseitige Verständnis nicht das mindeste beitragen. Diese Frage wird
gar nicht auf formal-dogmatischem und auch nicht auf formal-kanonischem Gebiete
entschieden. Für den Osten erwies sich die Unfehlbarkeit des Papstes und die
äußere Einheit der kirchlichen Organisation als überflüssig, während sie für
den Westen wesentlich waren, weil Osten und Westen verschiedene historische
Wege beschritten und verschiedene geistige Erfahrungen gesammelt hatten.
Das Urchristentum war eschatologisch; es hatte keine
historische Perspektive; es wartete auf ein baldiges Weltende und auf die
zweite Wiederkunft Christi. Dem Christentum ward es aber bestimmt, zu einer
historischen Weltmacht zu werden. Es konnte nicht lange von jenen ganz
ausschließlichen charismatischen [S. 189] Gaben leben, von denen die Urchristen
lebten; es mußte sich Organe für ein kontinuierliches historisches Leben und
für den Kampf schaffen. Das östliche Christentum, welches den hellenischen
Geist ererbt hatte, war meditativer veranlagt; es befaßte sich mit dogmatischen
Fragen, und dogmenbildendes Schaffen war das eigentliche Werk der östlichen
Patristik. Im Osten tat sich sowohl die ketzerische wie auch die christliche
Gnosis hervor, beginnend mit dem heiligen Clemens von Alexandrien. Der Westen
war praktischer; er hatte den römischen Geist ererbt; er war mehr mit der Frage
der Organisierung der Kirche und der Moraltheologie beschäftigt. Im Westen kam
das Christentum schneller zum Bewußtsein seiner historischen Aufgaben. Die
westliche Kirche hat sich recht eigentlich als eine kämpfende Kirche erwiesen. Gewaltige
staatliche und historische Aufgaben wurden ihr zuteil, da das Imperium im
Westen zusammenbrach. Im Osten hat sich die Kirche für immer den
eschatologischen Charakter zu erhalten gewußt. Die Rechtgläubigkeit war dem
ewigen Leben, dem Himmelreich eher zugewandt als dem irdischen Leben und dem
historischen Siege des Christentums in der Welt. Die Kirche im Westen ist zu
einer gewaltigen historischen Macht geworden; sie hat die kriegerische Aufgabe
der Weltherrschaft, der Beherrschung der Welt, voll erkannt. Die westliche
Kirche hat sich, beginnend mit dem hl. Augustin, als Reich Gottes auf Erden
betrachtet. Die historische Perspektive verdeckte die eschatologische
Perspektive. Das Christentum im Westen war seinem Typus nach aktueller und
kriegerischer, es strebte nach Herrschaft auf Erden, nach Taten in der
Geschichte. Hieraus ergibt sich eine ungemein hohe Bewertung des Prinzips der
Organisation. Für den Katholizismus ist das Bewußtsein charakteristisch, daß
alles organisiert und der äußeren Einheit unterstellt zu sein habe, – die
Seele, die Ge- [S. 190] sellschaft, die Kultur müssen organisiert sein; die
Kirche – im Sinne äußerer universeller Einheit – muß organisiert sein; das
religiöse Denken, das System der Theologie und der Philosophie muß organisiert
sein. Ueberall müssen Werkzeuge des Kampfes herangebildet werden, eines
Kampfes, den die Kirche in der Welt zu führen berufen ist. Die Kirche muß über
ihre eigenen Armeen und Festungen verfügen. Und alles muß in ein Heer und in
eine Festung verwandelt werden, – die Seele, das Gesellschaftsleben, das
Denken. Die Scholastik ist nichts anderes als ein Wappnen des Denkens für den
Kampf, für Verteidigung und Angriff. Das theologische und philosophische System
des hl. Thomas von Aquino ist eine gewaltige, prachtvoll gebaute Festung, wie
die ganze katholische Kirche überhaupt.
Ich weiß, daß die katholische Welt sehr reich,
kompliziert und mannigfaltig ist, daß es in ihr viele Strömungen gibt. Es ist
aber kein Zufall, daß im Christentum des Westens der Aristotelismus prävaliert.
Der Weg des westlichen Christentums kann in den Kategorien der aristotelischen
Philosophie, der aristotelischen Lehre von der Form und Materie, von der Potenz
und vom Akt zum Ausdruck gebracht werden. Die Form organisiert die Materie des Lebens,
die Materie der Welt; die Welt muß der organisierenden Form endgültig
untergeordnet werden. Die kirchliche Hierarchie, die einem einheitlichen,
obersten Zentrum unterstellt ist, die kirchliche Doktrin ist ein
formenbildendes, organisierendes Prinzip, welches herrschen muß und nicht
dulden darf, daß die Materie sich chaotisch ergießt und sich in ihr selber
trennt. Die Potenz ist unvollkommenes, nicht ausgedrücktes Sein, welches seinen
Ausdruck noch nicht gefunden hat, ein halbes Nichtsein, – nur der Akt ist
wahrhaftes und volles Sein. Gott ist reiner Akt [actus purus], und er enthält
keine Potenz in sich. So strebt auch die katholische Kirche auf Erden danach,
reiner [S. 191] Akt zu sein und das Dominieren der Potenz, das
Nicht-zum-Ausdruck-bringen mit allen darin enthaltenen, mannigfaltigen
Möglichkeiten nicht zu dulden. In dieser Hinsicht übernimmt das Christentum des
Westens, der Katholizismus, das Erbe des antiken Denkens: es ist klassisch, es
fürchtet die Unendlichkeit, es erblickt in der Endlichkeit, in der Bestimmtheit
das Wahrzeichen der Vollkommenheit des Seins. Im Christentum des Ostens
herrscht ein anderer Geist vor. Der Platonismus ist dem Osten eher eigen als
der Aristotelismus. Die Orthodoxie ist meditativer und eschatologischer,
weniger kriegerisch und aktuell. In der orthodoxen Kirche findet man mehr an
Potentiellem, an historisch noch nicht Durchgearbeitetem, und sie selber hält
das nicht für ein Anzeichen einer Unzulänglichkeit oder für ein halbes
Nichtsein. Die eschatologische Perspektive des Lebens muß sich vermehrte
potentielle Möglichkeiten bewahren.
Die
Energie wird nicht in einem organisierten Akt der Geschichte verausgabt, die
geistigen Kräfte bleiben im Inneren konzentriert. Es ist da ein großes
eschatologisches und apokalyptisches Erwarten, ein Hingewendetsein dem Ende der
Welt zu, der zweiten Wiederkehr, dem himmlischen Jerusalem, welches auf die
Welt kommen wird. Die Orthodoxie ist weniger aufbauend als der Katholizismus;
ihr ist das Schauen kluger Wesenheiten, der Ideenwelt, der Welt der Weisheit,
der sophiotischen Artung des Geschöpfs eher eigentümlich. Sie stellt sich das
Leben nicht vor, als eine Beherrschung der Materie durch die Form. Das Leben
der Welt ist nicht Organisation, sondern Organismus, und die Kirche ist vor allen
Dingen Organismus, ist der Leib Christi. Das organisatorische Moment ist
durchaus nebensächlicher, untergeordneter Art. Die innere Einheit der Kirche
wird nicht bestimmt durch die äußere Organisation der kirchlichen Einheit. Die
Oekumenizität wird nicht horizontal, sondern [S. 192] vertikal, qualitativ,
nicht quantitativ verstanden. Die gewaltige Freiheit des Geistes wird in der
Orthodoxie dadurch bestimmt, daß die Orthodoxie sich nicht vor allen Dingen das
Ziel stellt, Weltorganisation zu aein, zwangsweise der Materie Form zu geben,
das Leben der Kirche zu aktualisieren. Das Himmelreich naht unsichtbar [vgl. Lk
17,20]. Die Orthodoxie strebt keineswegs nach einem Siege auf Erden um jeden
Preis. Dies gibt ihr auch Freiheit; im Kriege, auf dem Schlachtfeld, in der
Festung kann sich die organisierte Armee nicht frei fühlen; sie muß streng
diszipliniert und den Kriegsoberen unterstellt sein. Das Leben ist aber nicht
ausschließlich Krieg, und das Christenvolk ist nicht nur ein Heer. Dies zeigt
sich auch innerhalb der katholischen Welt, in der sich ein komplizierteres,
schöpferisches Leben, eine reichere Kultur entfaltet hat, als im Osten. Es
herrscht aber die Idee der organisierten, kriegerischen Kirche vor.