Berdjaev über Dostoevskij

 

 

Heinrich  Michael Knechten

 

 

Berdjaev unterscheidet bei Dostoevskij zwei Perioden: Vor und nach den "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch" (1864). Vor diesen Aufzeichnungen verfasst er u.a. "Arme Leute", "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" und "Erniedrigte und Beleidigte". In dieser Zeit unterliegt er dem Einfluss von George Sand, Victor Hugo und Charles Dickens. Die von ihm dargestellte Welt ist trotz äußerlicher Turbulenz statisch.

 

Dann aber erlebt er eine geistliche Wende (duchovnyj perevorot). In den folgenden Werken wie: "Verbrechen und Strafe", "Der Idiot", "Die Dämonen", "Der Jüngling", "Die Brüder Karamazov", entwickelt Dostoevskij eine religiöse Anthropologie. Er zeigt das Streben des Menschen nach Unendlichkeit auf, sein Überschreiten der Grenzen.

 

Der Großinquisitor möchte die Menschen glücklich machen. Dazu ist es seiner Meinung nach notwendig, ihnen die Freiheit zu nehmen. Dostoevskij dagegen tritt vehement für das Recht des Menschen ein, nach der Neuen Stadt zu suchen, auch wenn dies Leiden einschließt.

 

Dostoevskij findet seinen eigenen Stil, seine ihm eigentümliche Gedankenwelt, indem er das Apollinische ablehnt und nach dem Dionysischen verlangt. Er zeigt auf, dass der Mensch im Kern von einer existentiellen Unruhe umgetrieben wird. Die Gestalten seiner großen Romane bewegen sich in einer feurigen Atmosphäre; in ihnen lodert ein ekstatischer Wirbelwind (vichr').

 

Er weist auf die Widersprüchlichkeit menschlicher Leidenschaften hin. Wenn er immer wieder das Verbrechen analysiert, sieht er es weniger als Böses, das zu verurteilen wäre, sondern vielmehr als Ausdruck des dualistischen Wesens des Menschen. Dies ist natürlich keine Aufforderung, Verbrechen zu begehen. Dostoevskij sagt, dass auch das Weinen eines einzigen Kindes zum Himmel schreit.

Dostoevskijs Figuren leben am Abgrund. Das Wesen des Menschen erweist sich als rätselhaft, ja als irrational. Dennoch zeichnet er keine Ausweglosigkeit vor die Augen der Leser. Es ist ein tragischer Humanismus, der sich bei ihm findet, aber eben ein Humanismus. Der Mensch strebt nach Freiheit, die nach den Worten Berdjaevs gnadenhaft ist. Die "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch" sprechen über die hohe Berufung des Menschen, über die beinahe unendlichen Kräfte, welche in ihm angelegt sind. Mit großen Möglichkeiten sind Gefährdungen verbunden. Ohne diese aber wäre die Freiheit eingeengt, die allein Schöpferisches ermöglicht.

 

Vgl. Nikolaj A.Berdjaev, Otkrovenie o čeloveke v tvorčestve Dostoevskogo (1918), in: Ders., Filosofija tvorčestva, kul'tury i iskusstva, Bd. 2, Moskau 1994, 151-176.

 

Literaturhinweise

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o       Nikolaj A.Berdjaev, Filosofija Dostoevskogo, St. Petersburg 1921.

o       Nikolaj A.Berdjaev, Mirosozercanie Dostoevskogo, Prag 1923 (Nachdruck in: Ders., Filosofija tvorčestva, kul'tury i iskusstva, Bd. 2, Moskau 1994, 7-150).Die Weltanschauung Dostojewskijs, München 1925.

o       Sergej N.Bulgakov, Ivan Karamazov v romane Dostoevskogo "Brat'ja Karamazovy" kak filosofskij tip, Kiev 1901, in: O Velikom inkvizitore, Moskau 1991, 192-217.

o       Wolfgang Dietrich, Fjodor Dostojewski oder Protestierende Demut, in: Ders., Russische Religionsdenker, Gütersloh 1994, 32-55.

o       Semen L.Frank, Legenda o Velikom inkvizitore, in: O Velikom inkvizitore, Moskau 1991, 242-250.

o       Wjatscheslaw I.Iwanow, Dostojewskij. Tragödie - Mythos - Mystik, übers. v. A.Kresling, Tübingen 1932.

o       Ludolf Müller, Dostojewskij, München 1982.

o       Konrad Onasch, Fjodor Dostojewski (1821-1881): Der Christus des Dichters und seine alternative Kirche, in: Ders., Die alternative Orthodoxie, Paderborn u.a. 1993, 82-93.

o       Vasilij V.Rozanov, Legenda o Velikom inkvizitore F.M.Dostoevskogo, St. Petersburg 1894, neu hg. v. A.N.Nikoljukina, Moskau 1996.

o       Lev I. Šestov, Dostoevskij i Nitše, Sobranie sočinenij, Bd. 3, St. Petersburg 1911 (Nachdruck: Ders., Filosofija tragedii, hg. v. V.I.Galij, Religioznaja filosofija, Moskau 2001, 133-316).

o       Vladimir S.Solov'ev, Tri reči v pamjat' Dostoevskago (1881-1883), Sobranie sočinenij, St. Petersburg, zweite Auflage 1911-1914, Bd. 3, 183-223.

 

 

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