Nikolaj Berdjajew
und die Dekaden in Pontigny
Klaus Bambauer
1.
Die Erinnerungen N.A.Berdjajews an Pontigny
Wenn wir nach den Beziehungen
von N.Berdjajew und den "Décades de Pontigny" fragen, so erfahren wir
dazu Näheres aus seiner Autobiographie "Selbsterkenntnis".1) Der
Autor schreibt: "Von den Verkehrsformen mit französischen und
ausländischen Kreisen schienen mir die Dekaden in Pontigny die interessantesten
zu sein. Gerade in Pontigny habe ich den Typus der französischen Kultur und des
französischen Lebens am meisten kennen gelernt. Ich habe die Franzosen im
Umgang mit Ausländern beobachtet. Pontigny ist ein Gut, das einem der
bedeutendsten Franzosen dieser Zeit, nämlich Desjardins gehört. Er starb mit
achtzig Jahren im Jahre 1940. Das Haupthaus in Pontigny wurde aus einem alten
Kloster, das der hl. Bernhard gegründet hatte, umgebaut. Dort haben sich noch
historische Säle erhalten. Wir speisten in einem gotischen Speisesaal. Gotisch
war auch die riesige Bibliothek Desjardins. Man hatte aber am alten
Klostergebäude neuzeitliche Bauten angegliedert, ohne die man dort nicht hätte
wohnen können. Alljährlich, schon seit mehr denn fünfundzwanzig Jahren, wurden
im August in Pontigny drei Dekaden veranstaltet, zu denen sich die
intellektuelle Blüte Frankreichs zusammenfand. Diese Dekaden trugen aber
internationalen Charakter, und man traf dort Intellektuelle aus allen Ländern:
Engländer, Deutsche, Italiener, Spanier, Amerikaner, Schweizer, Holländer,
Schweden, Japaner. In den allerletzten Jahren waren aus begreiflichen Gründen
fast gar keine Deutschen anwesend, obschon früher Max Scheler, Curtius u.a. zu
den Besuchern gehörten. Gewöhnlich wurde in der ersten Dekade ein
philosophisches Thema gestellt, in der zweiten – ein literarisches, in der
dritten – ein sozialpolitisches. Ich bin, besonders in den letzten Jahren,
recht häufig in Pontigny gewesen. Ich wurde immer sehr herzlich zu aktiver
Teilnahme an den Dekaden, zum Abhalten von Vorträgen aufgefordert; und man
liebte mich dort. Ich habe in Pontigny die hervorragendsten Vertreter des
intellektuellen und literarischen Frankreichs getroffen: [Charles] Du Bos,2)
A.Gide,3) Gustave Schlumberger,4) Roger Martin du Gard,5) Maurois,6)
Brunschvicg,7) Wahl,8) A.Philippe, Fernandez u.a. Oft erschien auch
Groethuysen.9) Auch Martin Buber und Buonalotti waren des öfteren anwesend.
Außer dem Kreise in Pontigny habe ich noch die 'Union pour la vérité' gut
kennengelernt. Diese beiden Kreise berührten einander. Auch die 'Union pour la
vérité' hatte Desjardins [1905] gegründet. Eine Zeitlang war ich oft in den
Versammlungen an den Samstagen, auf der rue Visconti [im Appartement von
Desjardins bei den Pariser Unterhaltungen, die sich bis zum Erwerb von Pontigny
als 'Sommergespräche' hinzogen, trafen sich die 'Diener der Wahrheit']. Die
Zusammenkünfte waren gewöhnlich der Besprechung irgendeines neu erschienenen
interessanten Buches gewidmet, hauptsächlich kulturphilosophischen oder
politisch-philosophischen Inhalts. Für jedes Thema wurden Spezialisten,
gewöhnlich Professoren, geladen. Die Einleitung wurde von den Verfassern der zu
besprechenden Bücher vorgebracht. Eine dieser Versammlungen befasste sich mit
meinem Buch 'Das Schicksal des Menschen in der gegenwärtigen Welt'. Diese
'Union pour la vérité' stand im Zeichen freien Wahrheitssuchens und hatte den
Ruf einer 'linksgerichteten' Gesellschaft […]. In diesen Versammlungen konnte
ich die Art des französischen Denkens und Debattierens studieren. In der
Mehrzahl der Fälle handelte es sich um eine Enquête von Spezialisten über verschiedene
Fragen. Niemals war ein Wille, eine entscheidende Wahl hinter den Gedanken zu
spüren. Das war ein Rationalismus, der aber aufgehört hatte, eine Leidenschaft
zu sein, wie er es in der Vergangenheit war. Mein Interesse an den
Versammlungen der "Union pour la vérité" war erschöpft, doch habe ich
viel von ihnen gelernt".10)
Dass es über die
Zusammenkünfte in Pontigny noch zahlreiche weitere Gruppen gab, mit denen
Berdjajew in Frankreich zusammentraf, beschreibt Marie-Madeleine Davy: "In
seiner Autobiographie ruft er die Treffen von la Fortelle in Erinnerung. Wir
haben uns dort zu Gesprächen getroffen mit Maurice und Geneviève de Gandillac,
Jean Hyppolite und seiner Frau, den Madaules, den Burgelins, Jean Wahl, Marcel
Moré,11) Masson-Oursel. Léopold Senghor nahm an mehreren Zusammenkünften teil,
ebenso Lanza del Vasto"12).
Im
Kontext der französischen Philosophie
Zu diesem wichtigen Thema
liegen aus dem deutschsprachigen Bereich außer der großen Arbeit von Wolfgang
Dietrich, (Provokation der Person, Gelnhausen 1975) mit vereinzelten Hinweisen
kenne nennenswerten Arbeiten vor. Hier muss auf die Bücher von Olivier Clément
und Marie-Madeleine Davy verwiesen werden. O.Clément bemerkt hinsichtlich
Berdjajews Haltung zu den Dekaden: "Aux Décades de Pontigny comme à
l’Union pour la Vérité, Berdiaev peut observer l’humanisme de la Troisiéme
République. Il le découvre paralysé par une sorte de 'scepticisme culturel'"
(S. 84).
In seiner Studie über
"Phänomenologie in Frankreich" schreibt Bernard Waldenfels im Kapitel
"Spiritualismus und Personalismus: "Emigranten wie N.Berdjajew und
P.L.Landsberg gehören in diesen Umkreis" (S. 23) und im Kapitel über den
Existentialismus im Rahmen der Darstellung der französischen
Kierkegaard-Rezeption durch Jean Wahl (seit 1929): "Bestärkt wird sie
durch das Wirken der russischen Emigranten Lew Schestow (1866-1938) und Nicolaj
Berdjajew (1874-1948), bei denen die Tradition der russischen
Religionsphilosophie, sozialistischer Änderungswille und zivilisatorische
Kritik eine bis ins Explosive gehende Mischung erzeugen. Beide verließen
Russland erst einige Jahre nach dem Ausbruch der Oktoberrevolution und
emigrierten nach Paris. Der Weg führt über Deutschland und bis 1933 immer
wieder dorthin zurück. Schestow traf Husserl 1928 auf dem Philosophenkongress
von Amsterdam und besuchte ihn in Freiburg. Sein Verhältnis zu ihm und seiner
Phänomenologie ist ganz und gar zwiespältig. Er bewundert und bekämpft in
Husserl den Antipoden Kierkegaards. In scharfem Entweder-Oder setzt er der
Einsicht der Vernunft die Absurdität des Lebens, des Leidens und Kämpfens, dem
Sinn für das Notwendige den Sinn für das Unmögliche entgegen. Die Krise wird
zur Permanenz" (S. 24). Über den oben genannten Landsberg schreibt
B.Waldenfels: "Paul Ludwig Landsberg, auch er ein politischer Flüchtling,
der stark von Scheler geprägt ist und auch zur Frankfurter Schule Kontakte
unterhielt, gab dem Personalismus von E.Mounier [dem Berdjajew nahestand, vgl.
Clément, Berdiaev, S. 101-105] besondere Impulse. Er arbeitete mit an der Zeitschrift
'Esprit', wo 1935 ein Essay über 'Die Erfahrung des Todes' und 1946 eine
postume Arbeit über 'Das moralische Problem des Selbstmords' erschien. Er
selber endete 1944 in einem deutschen Konzentrationslager".
Was die von N.Berdjajew und
L.Schestow favorisierte existentialistische philosophische Lebenssicht
anbelangt, so gilt hier der in der Nachfolge Kierkegaards so formulierte
Begriff der Existenz durch Jean Wahl: "Existieren, das bedeutet: wählen;
leidenschaftlich sein, vereinzelt und subjektiv sein; sich unendlich um sich
selbst sorgen; sich als Sünder wissen; vor Gott stehen" (so B.Waldenfels,
S. 24).
2.
Zur Geschichte von Pontigny und seines Gründers
Paul Desjardins, der
Initiator der Gespräche von Pontigny, wurde als der Sohn von Ernest Desjardins,
Professor am Collége de France und Mitglied der "Académie des Inscriptions
et Belles-Lettres" im Jahre 1859 geboren. Er verheiratete sich mit Marie
Amélie (1875-1948), Tochter des Charles Savary im Jahre 1896. Charles Savary
(1845-1889), Sohn des Theodor Savary (1815-1870), Ratsherr, verheiratete sich
mit der Tochter eines hohen Magistrats und Politikers. Theodor Savary war Sohn
des Joseph Savary (1774-1854), dessen Großvater Pächter des Schlosses war.
Joseph S. nahm an allen Kämpfen des französischen Reiches teil und wurde Ritter
der Ehrenlegion und Bürgermeister von Cherisy.
Charles S., der
Schwiegervater von P.Desjardins begann eine brillante politische Karriere als
junger Jurist und gründete mit seinen Freunden die "Conférence
Tocquille", der er vorstand. Mit 25 Jahren war er Deputierter, dann
Präsident des "Conseil Général" und Untersekretär des Staates und
veröffentlichte verschiedene Arbeiten. Seine Karriere wurde unterbrochen durch
einen Finanzzusammenbruch seiner industriellen Unternehmungen und Banken. Er
war gezwungen, nach Kanada auszuwandern, wo er verstarb. Er hatte vorher seiner
Frau, einer entfernten Cousine und Übersetzerin zahlreicher englischer Werke,
Marguerite Mahou, das Schloss überlassen,
Schon im Jahre 1892 hatte der
oben erwähnte Paul Desjardins die "Union pour l’Action Morale"
gegründet und verteidigte sein Eingreifen für die Position von Dreyfus. Diese
Vereinigung war nach Hubert Lyautey "eine moralisch-religiöse Gesellschaft
mit einer Religion ohne Dogma und Kult, aber ohne Feindschaft gegen die
etablierten Kirchen".
Am Vorabend der
modernistischen Krise war auf seine Initiative hin die "Union pour la
vérité" (1905-1940) entstanden. Als Professor war er zunächst für
klassische Literatur am Lycée Condorcet und dann vor allem an der École Normale
in Sèvres tätig, doch ebenso als Poet, Schriftsteller und Essayist. Er kaufte
im Jahre 1906 infolge des Gesetzes der Trennung von Kirche und Staat die alte
Zisterzienser-Abtei von Pontigny nahe bei Auxerre in Burgund, die seit langem
von Mönchen verlassen war und einzustürzen drohte.
Er war ein Professor, der
seine Schüler faszinierte: "Er hauchte uns allen eine Art von Verehrung
ein. Seine kahler Kopf zwischen den gekräuselten Schläfen, sein stupsnasiges
Gesicht, seine klaren Augen ließen uns an Sokrates denken. Während zwei Stunden
tauchten wir in völlige Meditation hinab". Der Vergleich mit Sokrates
beschreibt gut die wesentliche Qualität des Meisters: er war vor allem ein
"Erwecker", dessen ergebene Suche nach keinem System mehr Antworten
als Fragen hervorrief. "Er rief das Denken hervor wie der Dampf die
Bewegung", sagte später ein Teilnehmer einer Dekade. Indem er auf Arbeiten
der literarischen Kritik verzichtete, sollte er sein ganzes Leben dem Triumph
der humanistischen Tradition widmen, die gegründet ist auf die Konfrontation
der Meinungen und der beständigen Sorge des Respekts vor der Freiheit des
Geistes und der kritischen Methoden, die sie bewahren.
Von 1910 bis 1914, danach von
1922 bis 1939 waren die "Dekaden" von Pontigny mit internationalem
Ruf verbunden mit den Anfängen und mit der Entwicklung der neuen französischen
Weltsicht, mit der Erneuerung der Theaterkunst und vielen Formen der
philosophischen, religiösen, künstlerischen und sozialen Bewegung. Politische
Themen wurden dort häufig angesprochen, besonders zugunsten der europäischen
Zusammenarbeit.
So traf man sich seit 1910 in
jedem August, eine kleine ausgewählte Gesellschaft war zu den drei
Sitzungszeiten von zehn Tagen zum intellektuellen Austausch eingeladen. Diese
Unterhaltungen glichen zugleich der Tradition der Salons und der Kunst der
Konversation, der "summer meetings" der englischen Universitäten.
Es waren besonders die
literarischen Gespräche der 20er Jahre, die die geistige Aufmerksamkeit der
hervorragenden Teilnehmer in Anspruch nahmen und vor allem André Gide, dessen
geistige Macht nun auf ihrem Zenith angelangt war und seiner Freunde von der
"Nouvelle Revue Francaise" wie Schlumberger oder Charles Du Bos. Aber
das Interesse der Dekaden zog auch das Interesse ausländischer Schriftsteller
von Rang auf sich; Pontigny legte das Fundament eines europäischen Verbandes
von Eliten, indem es die Deutschen T.Mann und Curtius einlud, den Engländer
Wells, den Schweizer R. de Traze. Im Jahre 1931 belebte der spanische Kritiker
Eugenio d’Ors eine Sitzungsperiode über den Barock, indem er so neue Horizonte
über eine der Grundlagen der europäischen Zivilisation eröffnete, aber die
humanistischen Perspektiven der Dekaden überschritten den Europazentrismus. Im
Jahre 1925 sprach Paul Valéry13) während zwei Tagen mit zwei indischen Weisen
über die Frage: "Ist der Europäer nicht doch mehr der Erwachsene unter den
Kindern?"
Der Laubengang von Pontigny
ließ berühmte Freundschaften erwachsen oder sich verstärken: Gide und Martin du
Gard, Gide und Mauriac. Es nahm auch auf, die gekommen waren, um Ermutigungen
der Meister zu empfangen, junge Schriftsteller wie A.Chamson; jedes Jahr wird
ein Student mit dem Sekretariat beauftragt; im Jahre 1926 wird dies Jean-Paul
Sartre sein. Im gleichen Jahr war Malraux gekommen, um die chinesische
Revolution in Erinnerung zu rufen. Er machte einen tiefen Eindruck auf diesem
Parkett der Weisen und Geistlichen, wo er erschien als solch "ein kleiner
räuberischer Störrischer an der wundervollen Knospe" (Mauriac). Später, in
"Les Noyers de l’Altenburg" wird der Romancier Desjardins einige Züge
seines Grafen Rabaud verleihen.
Aber die Gespräche
behandelten auch politische oder soziale Themen, indem sie das Ideal der
Gemeinschaft der Nationen verteidigten, das eines internationalen Rechts der
Arbeit (mit Albert Thomas) oder eines Sozialismus, der seine Handlungswerte vom
Christentum bezog (mit A. de Man). Seit den 30er Jahren beschäftigte der
Aufstieg des Totalitarismus das Zentrum der Hauptinteressen; Nikolai Berdjajew
prangert die sowjetische Diktatur an; im Jahre 1932 analysiert Raymond Aron die
Entwicklung der deutschen Ideologie und im Jahre 1935 legt ein politischer
Flüchtling, Angelo Rossi Tasca, die Ursprünge des italienischen Faschismus
auseinander.
Pontigny hat so seinen Namen
in die Geschichte der Ideen des 20. Jahrhunderts eintreten sehen, aber seine
Landschaften, die Reichtümer von l’Yonne haben auch die Erinnerungen der
Dekadenteilnehmer bereichert. André Maurois beschwört mit wunderbaren Worten
das Auto von Serein, das er nach Laroche nahm; im Bahnhof von Saint-Florentin
glaubte Fabre-Luce14) sich an einen Träger zu wenden, doch er hatte Martin du
Gard, von starker Korpulenz, herbeigerufen. Jede Sitzungsperiode ist begleitet
von Probieren von Chablis [Weinsorte] bei Bergerand, von Ausflügen nach
Vézelay, von nächtlichen Bädern im Serein, von Billardpartien in den beiden
Cafés des Dorfes. Bei den Dekaden macht W.Jankélévitch15) zahlreiche weibliche
Eroberungen und Raymond Aron16) begegnet seiner zukünftigen Frau.
Der unermüdliche Anreger Paul
Desjardins starb am 20. März des Jahres 1940. Sein Körper wurde von den Handwerkern
des Dorfes, die ihn liebten, zur Kirche getragen. Er ruht auf dem
Klosterfriedhof.