Helen
Iswolsky
Dorothy Day
Der Tod ist "der letzte Feind" genannt worden [vgl. 1 Kor 15,26], und im Frühjahr jeden Jahres feiern wir Christi Sieg über den Tod und Seine Auferstehung von den Toten. "Der Tod ist verschlungen vom Sieg" [1 Kor 15,54]. Wie könnte ich voller Trauer über den Tod Helen Iswolskys [Elena Aleksandrovna Izvol'skaja] schreiben?
Helen war meine beste Freundin, seitdem sie 1941 aus Frankreich gekommen war. Sie war Schriftstellerin, Historikerin, Forscherin, Übersetzerin und Lehrerin. Wir hatten den großen Vorteil, sie acht Jahre lang in Tivoli bei uns zu haben. Dann mietete sie ein Appartment in New York, und zwei Jahre später brachte sie ihre umfangreiche Bibliothek von New York City und Tivoli in das kleine russische Zentrum, das sie in Cold Spring, New York, gegründet hatte. In Helens großem Herzen war Raum für viel Liebe, und sie betrachtete sich selbst als Mitglied des Catholic Worker, ebenso als Leiterin der Dritten-Stunde-Gruppe, die für Frieden zwischen den Kirchen wirkte: russischen Orthodoxen, römischen Katholiken, Lutheranern, Anglikanern und wirklich allen protestantischen Gruppen. Zusammenkünfte wurden schließlich jährlich in verschiedenen Kirchen durchgeführt, auch im Union Theological Seminary [New York], und Mitglieder des Catholic Worker waren sehr an alledem interessiert. Übereinstimmungen, eines der Lieblingsworte von Johannes XXIII., war die Grundlage.
Helens Leben würde eine große Biographie hergeben. Helen und ihre Familie waren in Japan, als der japanisch-russische Krieg begann. Ihr Vater Alexander Iswolsky [Aleksandr Petrovič Izvol'skij, 1856-1919] war seit 1910 russischer Botschafter in Paris. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gelang es der Familie, mit dem jeweils letzten verkehrenden Zug von Moskau nach Berlin und von dort aus nach Paris zu fahren. Während dieses Krieges pflegte Helen Verwundete in der französischen Hauptstadt. Im Jahre 1941, als die Deutschen Paris besetzten, reiste Helen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in die USA. Eine Zeitlang lebten sie auf Gräfin Tolstojs Landgut für russische Emigranten.
Ihre Freunde, Jacques Maritain [1882-1973] und Emmanuel Mounier [1905-1950] waren die Häupter in der personalistischen und kommunitaristischen Bewegung in Paris, die Peter Maurin inspiriert hatte, die Catholic-Worker-Bewegung zu gründen.
Meine Liebe zur russischen Literatur – Dostoevskij [1821-1881], Tolstoj [1828-1910], Čechov [1860-1904] – zog mich zu Helen hin. Sie gab einen Kurs über Dostoevskij am Vassar College und in unserem Einkehrhaus in Maryfarm, Newburgh. Ich pflegte zu sagen, dass Helen und ich eines Tages die lange Reise von Moskau nach Vladivostok unternehmen würden.
Ihr kleines Zimmer in dem Tivoli-Gut war mit Büchern und Schallplatten mit russischer Musik gefüllt. Zwei Fenster schauten hinaus auf eine baumbedeckte Hügelseite, und es gab am Fenster Futter für die Vögel. Ihr Bett war alles andere als komfortabel – ein enges Feldbett. Ein bequemer Sessel, ein Tisch und eine Schreibmaschine, eine Truhe für ihre Kleider. Natürlich war der Raum mit Ikonen überfüllt. Es war hier gemütlich.
Sie übernahm freiwillig die Verantwortung für die vielen Gäste, die bei dem Gut vorbeikamen. Diese Aufgabe war im Sommer leicht zu erfüllen, wenn alle sich im Freien aufhalten konnten. Es gab die wundervolle Aussicht auf den See und das schäbige, aber eindrucksvolle alte Haus, das General de Peyster1) vor mehr als 125 Jahren erbaut hatte. Jetzt wird es als zerfallendes Gebäude bezeichnet, doch es hat vielen Studenten und Wanderern über Jahre hin Gastfreundschaft geboten.
Wenn das Wetter unfreundlich war, saß sie mit den Besuchern in dem großen Gemeinschaftsraum, der noch schäbiger war, mit beschädigten, aber noch brauchbaren Möbeln, und vielen Bücherschränken, vollgestopft mit Büchern, nicht zu sprechen von einem halben Dutzend Kindern beim Spiel. Deane Mowrer war die geeignete Person, ihr bei der Beantwortung der beständigen Fragen hinsichtlich der Catholic-Worker-Bewegung zu helfen.
Helen putzte ihr Zimmer selbst, auch häufig das Badezimmer auf ihrem Korridor. Sie räumte Tische ab und bediente Gäste, wobei sie Peter Maurins Devise in die Tat umsetzte: "Der Wissenschaftler muss ein Arbeiter werden und der Arbeiter ein Wissenschaftler". Dies als Weg, den Klassenkampf zu überwinden.2) In Verbindung mit Helen dachte ich oft an das Wort noblesse oblige. Sie war eine edle Seele und gab uns allen ein Beispiel in ihrem disziplinierten Leben der Arbeit, des Übersetzens, des Russisch-Lehrens und des Verfassens ihrer Memoiren.3)
Während ich dies schreibe, fällt dichter Schnee und schwere Windstöße lassen ihn manchmal wie vom Nordpol selbst kommen. Nachdem Helen schwer erkrankt war, hielten wir wochenlang Nachtwache. Sie war nur fähig, zwei oder drei Worte als Botschaft oder Bitten für uns zu schreiben. Ich hatte die Freude, sie täglich einige Stunden lang zu sehen. Wir stärkten uns gegenseitig durch Worte aus den Psalmen und Evangelien, die sie so oft bewegt hatten.
Helen starb am Heiligen Abend 1975 in Beacon, New York, nicht weit von Cold Spring. Dort hatte sie an ihrem kleinen russischen Zentrum Freude gehabt. Welch große Liebe hegte sie zu ihrem Land!
Helen ruht jetzt auf dem Friedhof St. Sylvia. Fliederbüsche schirmen den Ort von der Straße ab.
Anmerkungen
Übersetzung und Anmerkungen von Klaus Bambauer
1) John Watts de Peyster (1821-1907) war Nachkomme von New Yorks erstem Bürgermeister, Colonel de Heer Abraham de Peyster. Als Mitglied einer wohlhabenden Familie war er aktiv in Zivil- und Kriegsangelegenheiten, er schrieb zahlreiche Werke über Militär- und Weltgeschichte und diente in den 1850er Jahren und während des Bürgerkriegs als Brigade-General in der Bürgerwehr des Staates New York. Obwohl er kränklich war, bildete er Truppen aus. Für seine Verdienste erhielt er 1866 den seltenen Rang eines Brevet Major General. Nach dem Krieg arbeitete er im zivilen Bereich und schlug Verbesserungen in der New Yorker Polizei und im Feuerschutz vor. Er wurde Wohltäter für viele Städte, Wohlfahrtseinrichtungen und Bibliotheken. Er verfolgte weiterhin seine literarischen Interessen. De Peysters Verbindung mit dem Franklin- und Marshall-College begann 1885, als er Bücher für die literarische Gesellschaft geschenkt hatte als eine Geste für seine Ernennung zum Ehrenmitglied. Im Jahre 1897 stiftete de Peyster 25.000 Dollar, um die erste College-Bibliothek zu errichten.
2) Aristide Pierre Maurin, später als Peter Maurin
bekannt, war mit Dorothy
Day der Begründer des Catholic Worker. Er wurde am 9. Mai 1877 in einer
Bauernfamilie in Oultet, einem Dorf im Languedoc, geboren. Mit 17 Jahren trat
er bei den "Christlichen Brüdern", einem Lehrorden ein, der die
Einfachheit des Lebens, Frömmigkeit und Dienst an den Armen betonte. Von
1898-1899 wurde sein Kommunitätsleben vom obligatorischen Militärdienst
unterbrochen. Hier verspürte Maurin eine Spannung zwischen religiösen und
politischen Pflichten. Im Jahre 1902, als die französische Regierung viele
religiöse Schulen schloss, verließ Maurin den Orden und wurde aktiv in Le
Sillon, einer Bewegung, die christliche Demokratie befürwortete und
Kooperativen und Vereinigungen unterstützte. Im Jahre 1908 verließ er Le
Sillon. Im Jahre 1909 emigrierte er nach Kanada. Dort gab es keine
Militärpflicht. Er nahm in Kanada, danach in den Vereinigten Staaten jede
Arbeit an, die er finden konnte. Im Laufe der Jahre der Reflektion und harter
Arbeit lernte er die Armut als ein Geschenk Gottes kennen. So oft es ihm seine
Arbeit erlaubte, nahm er den Weg nach New York. Hier arbeitete er in der
Öffentlichen Bibliothek. Durch die Vermittlung von George Shuster, dem
Herausgeber des Commonweal magazine lernte er 1932 Dorothy Day
kennen. Er bestärkte sie darin, eine Zeitschrift mit Ideen der Soziallehre zu
veröffentlichen. Maurin setzte für die erste Ausgabe vom 1. Mai 1933 seinen
Namen auf die Liste der Herausgeber. Der Catholic Worker nahm seine Anregung
auf, "farming communes" zu gründen, die Maurin "agronomische
Universitäten" zu nennen pflegte. Im Jahre 1938 siedelte Maurin auf die
Maryfarm über, ein Eigentum des Catholic Worker, das in Easton, Pennsylvania,
gekauft worden war. Weitere Güter wurden gegründet. doch sie waren mehr
ländliche Häuser der Gastfreundschaft als landwirtschaftliche Kommunitäten. In
den Jahren 1933 bis 1944 sprach P.Maurin häufig in kirchlichen Räumen und an
Straßenecken. Im Jahre 1944 begann Maurin langsam sein Gedächtnis zu verlieren.
Seine letzten fünf Jahre verlebte er ruhig und demütig im "Catholic
Worker’s Maryfarm Retreat Center" bei Newburgh. Sein Tod wurde von der New
York Times und dem Osservatore Romano im Jahre 1949 gemeldet. Das Time
magazine berichtete, dass Maurin "in einem abgelegten Anzug und in
einem geschenkten Grab beigesetzt wurde", passende Arrangements für einen
Mann, der "nie in einem eigenen Bett schlief und nie einen Anzug trug, den
nicht jemand weggeworfen hatte". Heute gibt es in
3) Vgl. H.Iswolsky, No Time
to Grieve. An Autobiographical Journey from
Dorothy
Day about Helen Iswolsky