Zur
Erinnerung an den Komponisten Pawel Tschesnokow (1877-1944)
(Nikolaj Matwejew, in: Journal of the Moscow
Patriarchate 1978, Nr. 3, S. 18-23)
Übersetzung von Klaus Bambauer
Pawel Tschesnokow wurde am 12. Oktober 1877 in der Familie eines Chorleiters im Dorf lwanowskoje, Gebiet Zwenigorod, Regierungsbezirk Moskau, geboren. Sein Vater war Grigorij Petrowitsch Tschesnokow (der auch in den Tsurikow-Textilmühlen arbeitete), und seine Mutter hieß Marfa Fjodorowna Tschesnokowa.
Im Alter von fünf Jahren begann Pawel, im Chor seines Vaters mitzusingen. Die außerordentliche Fähigkeit des jungen Sängers und seine glänzende Stimme wurden bald bekannt. Zwei Jahre später trat er im Alter von sieben Jahren in die Moskauer Synodal-Schule für Kirchengesang ein, von der er 1895 eine Goldmedaille verliehen bekam. Während er noch Schüler in den unteren Schulklassen war, widmete Pawel Tschesnokow einen großen Teil seiner Zeit der Choralkomposition unter der Anleitung des brillanten Lehrers und Musikers S.W.Smolenskij (1848-1909). Sein Interesse für Komposition brachte Tschesnokow zu S.T.Tanejew (1856-1915), einem bekannten Professor für Komposition und Musiktheorie, bei dem er vier Jahre studierte. Zu seinen Lehrern gehörten auch W.S.Orlow (1856-1907), N.S.Wasilenko (1872-1956) und M.M.Ippolitow-Iwanow (1859-1935). Unter seinen späteren Freunden und Mitarbeitern waren die bekannten russischen Sängerinnen und Sänger A.W.Neshdanowa, L.W.Sobinow, D.A.Smirnow und M.D.Michailow. Sie alle freuten sich am Singen unter seiner Leitung.
Im Jahre 1913, als er schon ein bekannter Komponist und Dirigent war, trat Tschesnokow in das Moskauer Konservatorium ein, das er mit einer Silbermedaille verließ, wobei er sich im Hauptstudium mit freier Komposition beschäftigte. Der größte Teil seiner Aktivität als Komponist, Dirigent und Lehrer vollzog sich in Moskau.
Tschesnokow ist heute als Komponist in der ganzen Welt bekannt, er schrieb viele Chorwerke, in erster Linie für gemischten Chor ohne instrumentale Begleitung: über 300 kirchliche und fast l00 weltliche Werke. Davon abgesehen schrieb er die Oper „Himmel und Erde“ (basierend auf Byron), eine Anzahl von Romanzen, und er schuf verschiedene Bearbeitungen russischer Volkslieder. Seine wichtigsten Werke entstanden auf dem Feld der Kirchenmusik, und er komponierte viele neue Arrangements und Harmonisationen für ältere Lobgesänge.
Charakteristisch für seine Werke sind erhabene religiöse Inspiration, Tiefe des Gefühls, tiefdringende Gestaltung und Kontemplation. Tschesnokow ist einer der am meisten bekannten und populären Komponisten kirchlicher Musik. Es gibt keinen russisch-orthodoxen Chor, der nicht Tschesnokows volltönende Musik mit ihrer deutlichen Deklamation des Textes und ihrer ausdrucksstarken Musikalität, mit ihren ausgedehnten Arrangements religiöser Melodien und ihrem hervorragenden nationalen Charakter aufführt. Seine Bearbeitungen alter religiöser Gesänge sind nicht gerade eine übliche harmonische Begleitung der Melodie, sondern vielmehr eine künstlerische Wiederherstellung, die den Hörer in die Lage versetzt, die Schönheit des Originals zu verstehen und zu fühlen.
Alle kirchlichen Kompositionen Tschesnokows spiegeln nicht nur den Geist orthodoxer liturgischer Gesänge wieder, sondern auch ihren leuchtenden und frohen Charakter, der den ganzen orthodoxen Gottesdienst bestimmt.
Einige Kritiker behaupten, dass Tschesnokows Musik eine sentimentale Süße enthält, die aus gewissen konventionellen musikalischen Sequenzen und aus der Phrasierung entsteht. Solche Einwände sind nach unserer Meinung sehr oberflächlich. Wenn man die Werke genauer studiert, und wenn sie besinnlich und in korrekter Weise vorgetragen werden, so müssen die Werke als edel und ausdrucksstark beurteilt werden, erfüllt mit Nuancen, die die Seele anrühren und sie zum tiefen Gebet hinführen.
Tschesnokows gutes Verständnis des Ausdrucks seiner Choräle spiegelt sich teilweise wieder in seinen Cherubinischen Hymnen, in denen er die Praxis zurückwies, die D.S.Bortnjanskij begründet hatte, den Cherubinischen Hymnus in drei Teile aufzuteilen. In Übereinstimmung mit dem Text verband Tschesnokow fast immer die zwei ersten Teile „Wir, die wir die Cherubim darstellen“, und „verbunden mit ihnen beim Singen des Dreimal-Heilig der Leben spendenden Dreieinigkeit“ und trennte nur den dritten Teil „Lasst uns alle Sorge des Lebens ablegen“.
Tschesnokows Verstehen der Natur und der Ausdrucksstärke der menschlichen Stimme hatte kaum seinesgleichen, nicht nur in Russland sondern in der ganzen übrigen Welt. Er kannte das Geheimnis der vokalen und sängerischen Ausdrucksfähigkeit. Der bekannte Chorleiter G.A.Dmitrewskij (1900-1953) sagte: 'Wenn man die gesamte Chorliteratur des letzten Jahrhunderts überschaut, so findet man wenig Beispiele einer sachkundigen Behandlung des Chorklanges, der dem von Tschesnokow vergleichbar wäre.
Alles, was Tschesnokow komponierte, war durchtränkt vom Geist der russischen Gesangstradition, und dennoch trug es die Zeichen des lebendigen und individuellen Stils des Komponisten an sich.
P.G.Tschesnokow hinterließ uns einzigartige Beispiele einer erhabenen religiösen Inspiration in seiner Kirchenmusik. Ohne für irgendwelche oberflächlichen Effekte zu kämpfen, gab Tschesnokow den Worten der Bittgebete und der Doxologie mit den einfachsten Melodien Schwingen, Melodien, die widerhallten aus den Tiefen einer reinen und vollkommenen Harmonie. Seine Musik ist allen irdischen Leidenschaften fern, und ein irdischer Gedanke dringt nicht in die Tiefe seiner einfachen, aber ernsten Struktur ein. Dieser außergewöhnliche Komponist war von der Kirchenmusik als den Schwingen des Gebets überzeugt, auf welchen die Seele zum Thron des Allerhöchsten auffliegt.
Im frühen 20. Jahrhundert hatte der russische Kirchengesang einen hohen künstlerischen und professionellen Rang erreicht. Sie war weit bekannt und nicht nur in unserem Land, sondern auch im Ausland populär.
Zu dieser Zeit schlug eine neue sog. Moskauer Richtung im russischen Kirchengesang Wurzel, und diese Richtung wurde vom Synodalchor und von der Synodalschule für Kirchengesang angeführt.
Unter den Vertretern dieser Richtung waren die Komponisten P.I.Tschajkowskij (1840-1893), A.D.Kastal’skij (1856-1926), S.W.Smolenskij, A.T.Gretschaninow, Viktor Kalinnikow (1870-1927), P.G.Tschesnokow, S.W.Rachmaninow (1873-1943), A.W.Nikolskij (1874-1943) und andere. Die Petersburger Richtung wurde vertreten durch die Komponisten der Hofkapelle D.S.Bortnjanskij (1751-1825), A.F.L’wow (1798-1870), G.F.L’vovskij (1830-1894), M.A.Balakirew (1837-1910), N.A.Rimskij-Korsakow (1844-1908), A.A.Archangel'skij (1846-1924) und andere.
Während die Komponisten der Moskauer Richtung die kreativen Prinzipien ihrer St. Petersburger Kollegen weiter entwickelten, machten sie auch einen großen Schritt vorwärts, indem sie ihre eigene originelle russische Kirchenmusik schufen. Ihr Werk enthält keine Spuren von Formen, die vom westlichen Kontrapunkt imitiert oder entliehen wären, sondern es enthält stattdessen Züge der typischen Ausführung alter religiöser Gesänge und Volkslieder. Darüber hinaus macht ihre Musik Gebrauch von parallelen Oktaven und parallelen Quinten, ein rein russischer musikalischer Einfall, dem Ohr sehr angenehm, aber von der westlichen Harmonielehre zurückgewiesen. Chor-Unisoni und Polyphonie werden in gleicher Weise benutzt. Frühe religiöse „Konzerte“ mit ihren „Dimensionen“ werden durch Psalmen in freier musikalischer Form, nur abhängig vom Text, ersetzt. Es ist besonders wichtig, dass die musikalische Phrase gänzlich den liturgischen Text widerspiegelt. Pawel Tschesnokow war ein außerordentlicher Vertreter der Moskauer Schule für religiöse Komposition.
Unter seinen besten musikalischen Werken sind „Preise den Herrn, o meine Seele“, griechischer Gesang (für die Nachtwache vom Psalm l04); „Selig der Mann“ (Baß-Solo); „Freundliches Licht“, Kiewer Gesang; „Herr, nun lässest du“, Znamenij-Gesang; „Lobe den Namen des Herrn“, Znamenij-Gesang; „Meine Seele erhöht den Herrn“ (Sopran-Solo); „Die große Doxologie“, Znamenij-Gesang; „Preise den Herrn, meine Seele“ (Liturgie, Psalm l03); „Cherubinischer Hymnus“, schlichter Gesang; „Gnade des Friedens“ (Basilius-Liturgie); „Die Gottesgebärerin“ (religiöses Konzert); „Die Friedensektenie“ (Solo des Diakons); „Rette dein Volk, Herr“ (Solo des Diakons); „Gott ist mit uns“ (Tenor-Solo); „Lass mein Gebet vor dich kommen“ (Mezzo-Sopran-Solo); „Die Stunden des Heiligen Osterfestes“; „Der gute Schächer“ (Tenor-Solo); „Der Engel rief“; „Erhebe dich, Gott“; „Liturgie“, Nr.2 und „Panichida“, Nr.2.
Pawel Tschesnokow war auch als Chorleiter sehr bekannt. Seit Ende des vergangenen Jahrhunderts war er Chorleiter in der Kirche der hl. Kosmas und Damian, wo früher der Skobelevskaja Platz war. Von 180l bis 1904 war er Assistenzchorleiter des Synodalchores, dann Chorleiter in der Kirche der Hl. Trinität in der Pokrowskaja-Straße und später (bis 1928) Chorleiter in der Kirche des hl. Basilius des Großen von Cäsarea in der Tverskaja-Jamskaja-Straße.
Außerdem lehrte Tschesnokow auch Kirchengesang im Gymnasium und in anderen Erziehungseinrichtungen. Im Jahre 1920 wurde er als Professor an das Moskauer Konservatorium berufen, wo er bis zum Ende seines Lebens lehrte. Am Konservatorium leitete Tschesnokow die Chorleiterklasse, die er gegründet hatte, dann die Choralklasse sowie Klassen in spezieller Leitung und in Solfeggio. Zu dieser Zeit arbeitete er überwiegend als Berufschorleiter. Zugleich mit dem Kirchenchor leitete er die Moskauer akademische Staatskapelle, war dann Chorleiter am Bol’schoj-Theater und leitete die Kapelle der Moskauer Philharmonie.
Tschesnokow war ein außerordentlich begabter Chorleiter. Dabei wurden seine ungewöhnlichen Fähigkeiten besonders deutlich. Der bekannte Leiter des Synodalchores und spätere Professor am Moskauer Konservatorium, N.M.Danilin (1878-1945) sagte, dass Tschesnokow in der Chorleitung nicht seinesgleichen fand. Und in der Tat, ein von Tschesnokow geleiteter Chor war außergewöhnlich harmonisch und rein.
Tschesnokows Buch „Der Chor und seine Leitung“ wurde 1940 in Moskau veröffentlicht. Diese Studie kann unter die wichtigsten Werke für Chorleiter der jüngeren Generation gesetzt werden. Tschesnokows Buch ist eine Enzyklopädie seines Typs, das von Chorleitung handelt, und es ist zweifellos das beste Werk in diesem Gebiet.
P.G.Tschesnokow verstarb in Moskau am 14.März 1944. Die Trauerfeier wurde in der Auferstehungskirche in der Neshdanowa-Straße durch den Rektor, Erzpriester Nikolaj Baschanow, gehalten. Der Chor sang unter der Leitung des Dirigenten K.Anosow. Der Komponist ist auf dem Moskauer Wagankowskoje-Friedhof bestattet.