Mein Leben in der Orthodoxie und im Priesteramt

Sergij Bulgakov

 

[S. 50] Mein Lebensgefühl wird einerseits bestimmt durch meine grenzenlose Kirchlichkeit und Treue zur Kirche als der konkreten Gestalt der Orthodoxie, deren Dienst ich alle meine Kräfte geopfert habe, seitdem ich in die Kirche zurückgekehrt bin, andererseits durch das Gefühl meiner geistlichen Freiheit, die, wenn man das so sagen darf, die Grundbedingung und das Wesen meiner Kirchlichkeit abgibt. "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" [2 Kor 3,17]. Diese höchste Gabe Gottes ist der Dienst. Beides ist für mich gleich. Sünden wider die Freiheit sind Sünden wider die Orthodoxie und die Kirche und umgekehrt. Die geistliche Selbstversklavung, in wessen Namen sie auch immer geschehe, ist eine Schmähung des Heiligen Geistes, die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben wird [vgl. Mt 12,31]. Diese Gleichsetzung macht mich frei vom Orthodoxismus, der an die Stelle der Orthodoxie treten will, von der Sklaverei und vom Fetischismus und trägt zugleich einen gewissen Relativismus in Bezug auf alle kirchlichen Gegebenheiten hinein. Im ganzen trennt mich dieses Lebensgefühl von jener kirchlichen Umwelt, in der ich lebte und die durchdrungen war von der Verabsolutierung des Relativen, vom Auslöschen des Geistes [S. 51] und seiner schöpferischen Kraft um der Sach- und Machtliebe willen, dem auf der andern Seite die Liebedienerei entsprach. Daher habe ich mich immer – und ich kann sagen: je länger, je mehr – als Fremdling unter den Meinen gefühlt. "Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf" [Joh 1,11]. So war es im irdischen Leben des Herrn in seiner Beziehung zu den Hütern des Gesetzes, das er nicht kam "aufzuheben, sondern zu erfüllen" [Mt 5,17]. Jede lebendige Seele schöpft ihre Begeisterung aus diesem Prototyp. Ich muss jedoch hinzufügen, dass dieses Fremdsein nicht aus der Selbstüberhebung und Anmaßung stammte, sondern aus tiefer Liebe und Treue zur Kirche, die jeden Kompromiss und jede Abhängigkeit als Untreue empfindet. Die Liebe zur Kirche bringt hervor und setzt voraus den Gehorsam, einen Gehorsam aus Liebe und nicht aus Furcht, aus Verehrung und nicht aus Schmeichelei. Hier bleibt man immer in einem unbeständigen Gleichgewicht, in der Angst, nach der einen oder nach der anderen Seite zu weit zu gehen. Derart war auch mein grundlegendes Gefühl des Lebens in der Kirche. Dennoch muss ich bekennen, dass ich infolge meines schwachen Charakters, meiner bis zur Scheu, bis zur "Furcht vor den Juden" [Joh 7,13] gehenden Verlegenheit eher nach der Seite der Selbstdemütigung als der Vermessenheit sündigte, wie es vielleicht einigen scheinen möchte infolge meines Rufes als eines "Ketzers". Jedoch muss ich hinzufügen, dass wenn ich vielleicht zu untertänig und kleinmütig war in der kirchlichen Wirklichkeit um der Sparsamkeit [Oikonomia], um des Friedens willen, um kleine Reibungen und ähnliches zu vermeiden, so macht mir mein Gewissen keine Vorwürfe in diesem Gebiet, in dem ich mich als am meisten berufen und verantwortlich fühle: im Theologisieren und in der Predigt. Hier war ich immer ich selbst und will mir bis zum Tode treu bleiben. Dieses Gefühl des historischen Relativismus, das ich in Bezug auf die geschichtliche Kirche empfinde, die da ist und die sich in Raum und Zeit entwickelt und bestimmt, ist keineswegs verbunden mit irgend einer Geringschätzung oder Unterschätzung der Wichtigkeit des Wertes und der Notwendigkeit ihrer Formen und Bestimmungen, mit irgend einer Willkür oder einem Snobismus. In meinem instinktiven, ererbten, aber auch bewussten Gehorsam gegen das Gesetz, besonders in jenem mystischen Realismus, durch den mein Verhältnis zur Kirche bestimmt wird, fühle ich einen tiefen Widerwillen gegen das eine wie das andere. Für mich ist der mystische Inhalt unabtrennbar von seinen geschichtlichen Formen. Das ist derart offenkundig und tatsächlich, dass es gar keine Frage ist, ob es möglich sei, sie durch irgendeinen Bilderstreit zu trennen. Dies hindert jedoch nicht, Elemente von verschiedener Wichtigkeit je nach ihrer historischen Bedeutung zu unterscheiden und überhaupt verschiedene Wertung vor- [S. 52] zunehmen je nach den historischen Koeffizienten. Die kirchliche Unfehlbarkeit darf in der Orthodoxie nicht dadurch ausgedrückt werden, dass alle konkreten Formen verabsolutiert werden. Dadurch wird ihre Festigkeit und ihr Wert nicht untergraben, wie auch der Gehorsam gegen das Gesetz in jedem kirchlichen Bereich nicht abgeschwächt wird. Die bewusst kritische Unterscheidung wird dadurch keineswegs beseitigt, sondern vielmehr notwendig und sogar verpflichtend gemacht. Sie ist keine negative Kritik, wenn sie in bestimmten Fällen auch zur Ablehnung dieser oder jener Formen führen kann und sogar muss. Vor der Willkür schützt hier ausreichend die Liebe zur Kirche und – ich könnte auch sagen: der Instinkt der Kirchlichkeit, der immer der Tradition mehr, keineswegs weniger nachzugeben bereit macht. In jedem Fall erscheint die Trennung von ihr im Großen oder im Kleinen als etwas Krankhaftes, wenn nicht gerade als etwas Tragisches, je nach dem gegebenen, speziellen Fall. Derart ist überhaupt die Psychologie jeder kirchlichen Absonderung.

Die Grundfrage bleibt: inwiefern und in welchem Sinn kann die Orthodoxie als im ausschließlichen Besitz der Kirchlichkeit sich befindend angesehen werden, so dass die Nicht-Orthodoxie oder die Außer-Orthodoxie auch die Nicht-Kirche sind, gar nicht zu reden von jenem bezüglich anderer Konfessionen bei uns im Gange befindlichen Schimpfen, das als Zeichen eines gut-orthodoxen Tones, den orthodoxen Eifer bezeugend, angesehen wird. Die Kirche als Leib Christi fällt selbstverständlich nicht mit den konfessionellen Grenzen zusammen, sie wird auch nicht durch die Orthodoxie begrenzt. Wahre Christen gibt es in der ganzen christlichen Welt. Wir wollen jetzt nicht von den Nichtchristen reden, mit denen es in diesem Leben keine Gebetsgemeinschaft geben kann. Diese christliche Nähe und Welteinigkeit in Christus habe ich in der ökumenischen Gemeinschaft erfahren und erkannt. Die letztere ist nicht so sehr die Freiheit, der man immer eingedenk sein muss, – "seht zu, dass ihr vorsichtig wandelt" [vgl. Eph 5,15] –, sondern auch die christliche Offenbarung, die verpflichtet, selbstverständlich nicht zur kirchlichen Unterschiedslosigkeit – nein, sondern zur kirchlichen Ausweitung der Herzen. Abgesehen davon, dass ich in der Orthodoxie ihre wunderbare, keineswegs durch menschlichen Eifer, sondern durch Gottes Barmherzigkeit gegebene Unverletztheit, Reinheit und Wahrheit kenne und bekenne, ist sie für mich auch mein Eigenes, Heimatliches. Das ist ein bekannter, wenn auch unerschütterlicher Psychologismus. Fürwahr, uns ist die Orthodoxie nicht so sehr im allgemeinen nahe, sondern gerade unsere russische, eigene Orthodoxie. Unwillkürlich ist dieser Provinzialismus von allem Eigenen, Teuren, Nahen da. Mit den Jahren, mit der Erfahrung des Ökumenis- [S. 53] mus wird er überwunden. Man braucht ihn nicht besonders zu fürchten, wie auch kein Grund vorhanden ist, sich darüber zu erheben. Die eigene Mutter kann und muss man als die eigene lieben, auch wenn man weiß, dass sie nur für mich die einzige Liebe in der Welt ist und nicht für die andern, die auch ihre eigenen Mütter haben. Dieser Psychologismus legt die natürliche Grenze in der praktisch-religiösen Gemeinsamkeit, wenn er auch als solcher die Ausschließlichkeit nicht rechtfertigt.

Die Orthodoxie erscheint nicht nur als wahre, unverletzte Kirche im mystischen und dogmatischen Sinn, sie ist auch wie alle anderen Bekenntnisse eine geschichtliche Kirche, die den Charakter ihrer Geschichte wiedergibt. Darin prägt sich ihre Relativität und ihre Begrenztheit aus, weil die Gaben verschieden sind [vgl. 1 Kor 12,4] und auch die Ämter. Dem römischen Gefühl der Kirchlichkeit, das, wenn auch weniger folgerichtig und entschieden, doch tatsächlich auch von der Orthodoxie – genauer vom Orthodoxismus – angeeignet ist, ist es eigen, das Relative und Historische zu verabsolutieren. Von hier stammt die konfessionelle Ausschließlichkeit, die das Existenzrecht historischer Verschiedenheiten in der Kirche nicht anerkennt. Die Geschichte aber führt zu ihrer allmählichen Glättung und Abmilderung wenigstens in physischer Hinsicht. Das bezieht sich auf das Gebiet des kirchlichen Denkens wissenschaftlicher und theologischer Art, aber ebenso auch auf das Gebiet des praktischen, sozialen Christentums, das immer mehr zu einer gewissen sozialökumenischen, überbekenntnismäßigen, allgemeinen Kirche wird, in einer Reihe mit vielen Bekenntnissen stehend. Dieser Historismus des Christentums offenbart sich in Zeiten der historischen Krisen ähnlich derjenigen, die wir jetzt durchleben.

Im einzelnen stand auch ich, nachdem ich zu Beginn der russischen Revolution das Priesteramt übernommen hatte, vor jenen großen Versuchungen und Erschütterungen im Leben der Kirche, die sie mit sich gebracht hatte. Die ganze Kraft und Tiefe der Offenbarung über die Kirche, die mir in jener Anfangsstunde meines Priestertums gegeben war, verband sich mit der geschichtlichen Prüfung der kirchlichen Wirklichkeit. Ich muss aufrichtig sagen, ich habe niemals und in keiner Weise in der Treue zu meinem Amte geschwankt und kann in meiner Weise die Worte des Apostels auf mich beziehen: "Ich war ein Jude aus den Juden" [vgl. Phil 3,5]. Was aber um mich her vor sich ging, lehrte mich immer mehr die historische Relativität äußerer Formen erkennen. Das heißt nicht, dass man sie willkürlich fortwerfen oder verändern kann, aber sie selbst bedürfen der Korrektur der Relativität. Dies bezieht sich besonders auf den hierarchischen Aufbau der Kirche. Mit der Hierarchie ist das sakramental-mystische Leben der Kirche ver- [S. 54] bunden. Das ist für mich eine ebenso unerschütterliche Wahrheit und eine nicht ins Wanken zu bringende Wirklichkeit wie das Tageslicht. Aber schon in der Frage nach dem Ursprung des Episkopats als unmittelbarer apostolischer Sukzession halte ich mich nicht für gebunden – und im übrigen nicht ich allein – durch ein unbeweisbares Postulat, das tatsächlich die Kraft eines Dogmas erhalten hat. Dadurch wird für mich in keiner Weise die mystische Echtheit des Bischofsamtes und die Kraft der Weihe ins Schwanken gebracht, noch viel weniger vermindert sich die Kraft und Bedeutung des allgemeinen königlichen Priestertums wie auch des persönlichen geistlichen Christentums. Ich muss berichten von meinen diesbezüglichen Versuchungen, die ich auf der Krim erlebte. Angesichts der schrecklichen Spaltung der kirchlichen Organisation wie auch des inneren Zerfalls, der sich in der Entstehung der "Lebendigen Kirche" äußerte, erfuhr ich das Gefühl ihrer furchtbaren Schutzlosigkeit und Unorganisiertheit und ihrer fehlenden Bereitschaft zum Kampf. Jetzt meine ich, dass ihre geistliche, mystische Bereitschaft viel größer war, als es damals schien. Aber damals, angesichts dieser geschichtlichen Prüfung für die russische Orthodoxie, entgegen meiner eher slavophil zu nennenden Vergangenheit, setzte ich meine Hoffnung auf Rom. In mir begann eine allmähliche Prüfung der kirchlichen Weltanschauung in Bezug auf die irdische Einrichtung der Kirche und der päpstlichen Vorherrschaft. Zu jener Zeit lebte in Jalta ein litauischer Priester, von den Polen verfolgt, ein guter Katholik, ein überzeugter und gebildeter Papist, der in Rom die theologische Schulung erfahren hatte. Er versah mich mit Büchern, die ich gerade brauchte. Meine eigenen Studien über das Filioque machten mich eher für das westliche Verständnis geneigt, das ich übrigens später ganz überwand, befreite mich jedoch für immer von routiniertem, im Grunde unorthodoxem Photinianismus. Die Ergebnisse dieses dogmatischen Kampfes sind in meinem Buch: "Der Tröster" gegeben. Unter dem allgemeinen Eindruck der kirchlichen Wirklichkeit wie auch meiner eigenen Studien vollzog sich in mir stillschweigend und für niemanden bekannt eine Hinwendung zum Katholizismus. Diese Abweichung meines Denkens hat sich ausgedrückt in meinen ungedruckten Dialogen: "An den Mauern von Chersones". In jene Zeit fällt meine Verbannung ins Ausland 1923. Wie sehr ich früher die Emigration unter Wrangel ablehnte, so sehr nahm ich sie jetzt innerlich an, als ich meine Sendung darin sah, meinen neuen Glauben zu bekennen. Es ist überflüssig, davon zu sprechen, dass diese Krankheit von mir einmal unter dem Eindruck des Lebens, besonders der katholischen Propaganda in Konstantinopel, andererseits auch durch mein inneres Selbstverständnis aufgenommen wurde. Ich bereue indessen nicht, dass [S. 55] ich mich habe fortreißen lassen, halte es vielmehr für eine für mich dialektisch notwendige Stufe meines kirchlichen Selbstverständnisses und halte sie sogar für heilsam, wenn auch nur im Sinne einer Schutzimpfung. Tatsache ist, dass ich, wie ich glaube, für immer, den geistlichen Geschmack für den Papismus verloren habe. Dogmatisch aber war für mich seine Motivierung zu wenig überzeugend und schien mir gezwungen. Mein Verhältnis zum Katholizismus erschien dennoch in gewisser Weise nicht als Orthodoxie,– sondern als Orthodoxismus. Ich befand mich noch zu sehr unter dem Einfluss herrschender Vorurteile, die dadurch überwunden werden mussten, dass ich sie durchlebte. Aus diesem stillen Ringen mit dem Papismus, in dem ich die ganze Achtung vor dem westlichen Christentum bewahrt habe, trat ich hinaus auf den weiten Weg der ökumenischen Orthodoxie, die vom Provinzialismus befreit ist. Ich finde auch jetzt, dass meine Kritik des orthodoxen Daseins in jener Zeit, gepaart mit der Apologie des Katholizismus, eifrig, beredt und selbstverständlich bis zum letzten aufrichtig war. Im allgemeinen ist die Zeit für ein gerechtes gegenseitiges Verhältnis zwischen der östlichen und westlichen Kirche, das auf der Anerkennung und Achtung jedes von beiden in seiner Eigenart beruht, noch nicht gekommen. Ich meinerseits wollte auf keine Weise jene historische Kluft vertiefen, in der ich vor allem einen gewaltigen historisch entstandenen Psychologismus sehe. Die lebendige Kirchlichkeit hat die Aufgabe, durch die Liebe zur Kirche in gegenseitiger Gemeinschaft diese Kluft zuzuschütten und damit den Boden zur Vereinigung der Kirchen zu bereiten.

Freilich muss ich hier etwas bekennen, was, wie ich weiß, vielen gemeinsam ist, wenn nicht der Mehrheit des orthodoxen Klerus, das für mich persönlich besonders nach meiner Versuchung durch das Papsttum sich zuspitzte. Die Orthodoxie litt zuerst in Byzanz, dann im russischen Osten, in der Kirche von Moskau, auch unter dem Papismus, nicht unter einem bewusst dogmatisch-verantwortlich-klaren und deutlichen Papismus, sondern unter einem tatsächlichen, psychologischen. Orthodoxie heißt Gemeinsamkeit, ("Sobornost'") und nicht Episkopat, heißt Kirchenkörper und nicht nur das Haupt oder die Häupter. Schon nach diesem ihrem Charakter erscheint es nicht als Missbrauch oder Parodie – ich bin bereit, zu sagen: als Karrikatur [sic] – auf die römische kirchliche Willkür und Autokratie? Ich meine jenen besonderen Hyperbolismus in der russischen Kirche und ebenso in den anderen slavischen Kirchen in bezug auf den Episkopat. Zum Glück scheint diese Krankheit in der griechischen Kirche, der Heimat der Orthodoxie, viel schwächer zu sein, obwohl sie sich hier mit einer bekannten, für unsere Frömmigkeit anstößigen Sorglosigkeit verbindet. Dieses Bekenntnis [S. 56] will ich hier ablegen als eine Stimme aus dem Grabe, die vielleicht aus dem Grunde verantwortlicher und unvoreingenommener klingen wird. Wenn ich das in meinem Leben als stilles Leiden trage, so erklärt sich dieses außer durch meinen Kleinmut durch den Ekel vor jedem kleinen Skandal, zu dem der Fall eines kleinen russischen Luther unweigerlich werden würde. Hier ist freilich nichts von "Luthertum" enthalten oder vom Wunsch, die Kraft des Episkopats ins Schwanken zu bringen. Sie ist für mich eine mystische Wirklichkeit, die ihre Sichtbarkeit, wie ich früher sagte, des Tageslichtes hat. Mein "Luthertum" tritt nicht gegen, sondern für das Bischofsamt ein und strebt darnach, seine echte Würde wiederherzustellen und es vom zugewachsenen Despotismus zu befreien, der seine Stütze in der Psychologie der Untertänigkeit hat. Diese Untertänigkeit bezieht sich vor allem auf das Verhältnis der Bischöfe selbst zur weltlichen Macht, auf den kaiserlichen Cäsaropapismus in Byzanz, auf den zaristischen in Moskau, auf den sovjetischen, völkischen, polnischen – auf jegliches Bündnis der Kirche mit dem Staat, das Reich dieser Welt als Reich Gottes. Aber bei dieser Unterordnung unter den Kaiser verlangen die Bischöfe dieselbe Unterordnung für sich innerhalb der Kirche, d.h. nicht von der Herde, die frei blieb und eher die Macht über die Bischöfe darstellte, sondern vom Klerus, der durch den von den Kanones geforderten Gehorsam gebunden ist. Psychologisch kommt zu diesem Missbrauch der pastoralen Macht in der Richtung auf die despotische Willkür hin auch das noch hinzu, dass im Gegensatz zum zweiten Kanon von Sardika, der für das Mönchtum den bischöflichen Dienst ausgeschlossen hat, bei uns der Episkopat monastisch geworden ist, genauer genommen pseudomonastisch, insofern, als das Gehorsamsgelübde eine Stufe zum Erlangen der bischöflichen Macht geworden ist und die Beziehung zum monastischen Werk verloren hat. Die Daseinsbedingungen des russischen kirchlichen Lebens erwiesen sich als derartig, dass die Annahme des Mönchsstandes um der bischöflichen Laufbahn willen eine der schmerzlichsten Besonderheiten unseres kirchlichen Systems geworden ist. Das ist allen bekannt.

Die ganze Unerträglichkeit dieses geistlichen Widerspruchs offenbart sich immer mehr, besonders in unseren Zeiten des Machtwechsels bald durch Eroberer, bald durch nationale Machthaber, wobei jeder Wechsel seine Günstlinge und Diener findet. Auf diese Weise wird der Episkopat furchtbar mit Karrieremachern verstopft. In der Zukunft wird dieses zu einem unvermeidlichen Reinigungsprozess im kirchlichen Leben und zu seiner Errettung nicht vom Episkopat, sondern in seinem Namen von jenen Bischöfen führen. So etwas war die Weissagung des heiligen Seraphim, dass für die russische Kirche solche Zeiten kommen [S. 57] werden. Die Lage des Episkopats ist erklärlicherweise psychologisch schwer. Sie bietet besondere Verführungen und Versuchungen einer eigenartigen Mensch-Gottheit. So ist es immer und überall, wie im Heidentum jenseits der Bereiche der Offenbarungsreligion, so auch im Alten Testament; denn nicht zufällig waren die erbittertsten Feinde und Verfolger Christi die Hohenpriester Hannas und Kaiphas mit dem ganzen ideologischen, bekenntnismäßigen und religiösen menschgottheitlichen Komplex dieser Feindschaft. Der Typus der alttestamentlichen Hohenpriester erweist sich als lebenskräftig und wiederholt sich in der neutestamentlichen Geschichte. Da liegt die Paradoxie: das Hohepriestertum ist eine göttliche Einrichtung des Alten Testamentes, wird aber historisch und psychologisch durch die schwache, in Sünden gefallene Menschheit teuer bezahlt. Man darf sich nicht gegen die göttliche Einsetzung erheben wegen der menschlichen Sünden, wie es der Protestantismus tat, aber man darf sie auch nicht vergötzen und vor ihr kriechen. Darin liegt die eigenartige kirchliche Tragödie. In der römischen Kirche hat sie sich in der Mensch-Gottheit des Papsttums ausgeprägt, im Osten in papistischer Abweichung des Episkopats auf dem Gebiet der Dogmatik, Kanonistik und des Brauchtums. Im russischen Leben ist eine der wichtigsten Erscheinungen dieses Abweichens der gottesdienstliche Kult des Episkopats, der bis zu einem gewissen Grade dem Gottesdienst den Schatten des Hierarchendienstes verleiht. Das Volk liebt diese Pracht, es ist kirchlich dazu erzogen und wird durch diesen Frömmigkeitsstil demoralisiert. Der Grundnerv des ganzen Gebetslebens, die göttliche Liturgie, wird durch die Pracht des bischöflichen Dienstes, durch die dekorative und religiös schädliche Verlängerung des Gottesdienstes verstellt. Richtig kann man dies nur vor dem Altar durchleiden. Der Ikonostas schützt das Volk in gewisser Weise vor dieser Versuchung, aber im allgemeinen ist es schwer, ruhig zu denken und zu reden über dieses Eindringen einer religiösen Parade ins Allerheiligste unter dem Vorwand der Frömmigkeit. Erklärlicherweise werden durch diesen Pomp die geistlich durchschnittlichen Vertreter des Episkopats am meisten verlockt, die sich selbst in lebendige Ikonen verwandeln. Es gibt jedoch auch eine allgemeine Versuchung. Hier und dort ist das Allerschwerste dies, dass diese kirchliche Tragödie der Erhöhung des Episkopats sich nicht in dogmatischer Bewusstheit abspielt, sondern auf dem Boden der kirchlichen Psychologie. Es ist ein Psychologismus. Seinem Wesen nach bleibt alles wohlbehalten und unverletzt, im Innern aber ist es erfasst durch die geistliche Krankheit der Mensch-Gottheit. Hier ist daher keine Reform, keine Reformation möglich,– diese würde nur als Sieg der geistlichen Provokation erscheinen,– hier genügt die Überprüfung des Kirchenbeamten und [S. 58] seine Anwendung nach griechischer Art. Dazu ist eine Umerziehung der regierenden Kirche, des Klerus und des Kirchenvolkes notwendig.

In jedem Fall muss ich bekennen, dass für mich auf den Wegen meines Priesteramtes bei aller meiner persönlichen Verehrung und Liebe zu den Bischöfen, mit denen ich es zu tun hatte, diese kirchliche Despotie das allerschwerste Kreuz war, und ich fühle mich schuldig der Passivität, der kirchlichen Nachlässigkeit. Immer wenn ich in der Kirche die zornigen Reden des Herrn las mit der Überführung des Moses [vgl. Joh 5,45], zitterte meine Stimme kraftlos vor verhaltenem Leiden. Das ist die bittere Wahrheit von dieser Seite meines Priestertums.

Die andere bittere Wahrheit bezieht sich auf mein sozusagen liturgisches Schicksal. Ich wurde Priester ausschließlich deswegen, weil ich dienen, das heißt vornehmlich: die Liturgie verrichten wollte. Mein naiver und ungeübter Blick unterschied dabei keine Einzelheiten, die sich auf die Lage des Geistlichen an einer Kirche beziehen. Sehr bald sah ich ein, dass man, um zu dienen, eine Kirche oder wenigstens einen Altar haben muss. Aber ich trat in den Klerus ein, wenn auch nicht als Greis, so doch nicht als junger Mann, um den Weg des Geistlichen zurückzulegen. Kurz gesagt, ich hatte in dem Vierteljahrhundert meines Priesteramtes im Endergebnis nie eine eigene Kirche, sondern war immer nur Mit-Diener der Bischöfe und Vorsteher, oder ich hatte nur einige Gottesdienste, und zwar niemals an den großen Festtagen. Meine Freunde bemühten sich in solchen Fällen, für mich die Gottesdienste in Privathäusern, besonders in der Karwoche und zu Ostern, einzurichten, und das ließ sich immer nur um den Preis des Kampfes und des Selbstschutzes erreichen. Von seiten der Bischöfe habe ich bei meiner Anstellung an einer Kirche niemals kirchliche Fürsorge erfahren. Diese Lage war für mich persönlich das schwerste Kreuz und Leid auf den Wegen meines Priestertums. Dieses Leid teilten mit mir meine Nächsten. Daran kann ich auch jetzt nicht ruhig denken, wo die Krankheit mir ein selbständiges Dienen an einer Kirche fast unmöglich gemacht hat. Die psychologische Quelle dieser Gleichgültigkeit ist immer dieselbe, die ich oben angegeben habe. Alle diese Trübsale, die bischöflichen, die priesterlichen und viele andere, die sich auf das Dasein und wirkliche Leben der Orthodoxie beziehen, auf die Unkultur und den mangelnden Bildungsstand unseres Kirchenvolkes, seine Förmlichkeit und Aberglauben, seinen subalternen Ritualismus – überhaupt alles, was unsere Orthodoxie unorthodox macht, das alles wird durch eine gottgegebene Gabe der Gottesliebe versöhnt, aus der unsere großen Glaubenshelden und Heiligen, aus der das heilige Russland kommt. In der Feuerprobe, durch die Russland geht, wurden gleichermaßen deutlich jene geistliche Wehrlosigkeit des orthodoxen [S. 59] Volkes im Kampf mit der Teufelei, die gegen das Heiligtum und gegen den religiösen Glauben sich richtet, aber auch jene besondere religiöse Berufung und jenes religiöse Genie des russischen Volkes, seine Gottesliebe, die, wenn sie sich auch nicht mit der Einmaligkeit des auserwählten Volkes vergleichen kann, so doch gerade mit ihm verglichen sein will. Diese Gaben konnten natürlich in ihrer ganzen Breite und Kraft nur in den Prüfungszeiten deutlich werden, mit denen der gnädige Gott das russische Volk und seine Kirche heimgesucht hat. Und ich preise und danke Gott, dass er mir gegeben hat, in den Klerus einzutreten und in ihm zu dienen gerade in diesen furchtbaren, tragischen Zeiten des unglücklichsten Ergehens im kirchlichen Leben.

Sowenig alles oben Gesagte meine Treue und Ergebenheit für die Orthodoxie schwankend macht oder einschränkt, macht es sie frei von jedem Orthodoxismus, der jeder Lokalkirche eigen ist, die ihre Begrenztheit und ihren Provinzialismus nicht spürt, sondern sich als die Kirche versteht, die das All umfasst und daher nur mit einer Lunge oder mit einem Teil der Lunge atmend sich vorkommt, als atmete sie mit voller Brust. Der Ökumenismus als Tatsache drückt das erwachende Unbefriedigtsein mit dem Provinzialismus aus, sei er römischer oder byzantinisch-östlicher Art. Man kann in gewissem kirchlichem Hochmut sich selbst als die ganze Fülle der Kirche wähnen, aber es muss dabei das dumpfe Bewusstsein und Lebensgefühl bleiben, das darüber Zeugnis gibt, dass es nicht so ist. In Jahrhunderten ist das verloren, was einst gegeben und anvertraut war, aber auch das Verlorene bleibt als gewisse Verheißung und Unruhe, als ungestilltes Verlangen, als offene, aber noch nicht umschließende Arme, die man nicht dadurch ersetzen kann, dass man andersdenkenden Orthodoxen die Faust zeigt. Im Herzen muss man immer den lebendigen Schmerz tragen von der Wunde der Kirchentrennung und das aufrichtige Gebet um die Vereinigung aller, die in der Verheißung gegeben und im Leben aufgegeben ist. Die Weltorthodoxie ist bis zu dieser Verwirklichung noch nicht wirklich geworden. Dies bezieht sich auf die Katholizität der Orthodoxie oder, russisch ausgedrückt, auf ihre Ökumenizität – nicht nach der dogmatischen Lehre und der Reinheit der Überlieferung, sondern nach ihrem Kirchenbewusstsein. Bisher hat dieses Bewusstsein noch keinen würdigen und ihm entsprechenden Ausdruck für sich gefunden. Aber es gibt vielleicht noch eine andere, wichtigere und für mich empfindlichere Differenz mit der historischen Orthodoxie. Sie bezieht sich auf die Zukunft, auf die Eschatologie, auf jene zitternde Anrufung und Erwartung des kommenden Christus, was irgendwie – wenn nicht dogmatisch, so doch tatsächlich – in der Orthodoxie – und nicht weniger, sondern mehr noch als im Katholizismus – [S. 60] unter der unerträglichen Last ihres Historismus verloren ist. Die Überlieferung hat aufgehört, lebendig und lebend zu sein und wurde zum depositum fidei, das man bewahren muss, aber nicht lebensmäßig schöpferisch sein lässt. Orthodoxie ist jedoch nicht nur ein Besitzen des gegebenen Reichtums des Glaubens und Lebens, sondern auch Weissagung, Offenbarung, Geschichte – nicht nur des Vergangenen, sondern auch des Gegenwärtigen und Zukünftigen –, der Ruf der Verheißung. Sie hat hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige sucht sie [vgl. Hebr 13,14]. Sie ist Dichtung, kirchlicher Eros, Sehnsucht des Bräutigams, Gefühl seiner Braut. Sie ist schöpferisch auf das Ende und Ziel gerichtet, Ahnung des Endes. Das ist kein kleinmütiges Wachen über das Leben, keine Flucht vor ihm zum Tode hin, sondern Überwindung jeder Gegebenheit, Ahnung des neuen Himmels und der neuen Erde [vgl. Apk 21,1], der neuen Begegnung und des neuen Lebens mit Christus. Das alles ist in Worten nicht auszudrücken, nicht zu bestimmen; es klingt wie Musik der Seele, eine Symphonie der Farben, eine Dichtung der bildenden Kunst. Sie ist ganz Drang, Ahnung, Verheißung – "ja, komm!" [Apk 22,20].

Bei all meiner Bodenständigkeit, die mich in der Kirche verwurzelt und mich in ihr mit allem vereinigt, bin ich in diesem Gefühl allein geblieben und fremd in der historischen Orthodoxie. Das letztere ist für mich zu wenig, richtiger gesagt: sie in dieser Beschränkung anzunehmen, empfinde ich als Verrat und Verlust des Teuersten und lebensmäßig Wichtigen. Das kann ich fast gar nicht von mir erzählen, einem anderen mitteilen, aber es wird weitergegeben und wie eine Musik der Seele gehört, das bringt die im Meer des Lebens Verlorenen wie zu einer Bruderschaft zusammen, zu einer Kirche in der Kirche. Man könnte es ein weises Lebensgefühl nennen, das den göttlichen Wesensgrund unter der kreatürlichen Rinde erkennen lässt. Und ich kann nicht sagen, dass ich hier allein geblieben wäre; um mich herum und durch mich vereinigten sich verwandte Seelen, aber kirchengeschichtlich bin ich allein und zittere vor kirchlicher Kälte. Dieses Gefühl in mir vereinigt sich jedoch mit der Unerschütterlichkeit jener Ahnung, mit jener Offenbarung des Lebens, das mich freudig, ruhig in meinem Hoffen macht. In seinem Licht nehme ich das Gegenwärtige auf und schaue das Zukünftige. In gegenwärtigen Ereignissen suche ich ihren prophetischen Gehalt, erkenne ich ihren verborgenen Sinn und in ihnen finde ich die Erfüllung der verheißenen Zukunft. Im Lichte der Geschichtsapokalypse erfasse ich auch die sich vor uns entwickelnde Geschichtstragödie und vor allem ihre allerwichtigsten Kapitel und Themen. Am meisten brennen und leuchten für mich zwei von ihnen: Russland, meine Heimat, und das Schicksal Israels. In beiden sehe ich sich alles konzentrieren, was in der Welt geschieht; zu ihnen lockt am meisten der [S.61] Wunsch, die Weissagung zu erfassen. Die furchtbaren, verhängnisvollen Schicksale der beiden Völker – jedes in seiner Art - bezeichnen ihre ausschließliche Bedeutung im Leben der ganzen Menschheit – gerade jetzt mehr denn irgendwann treten sie in den Mittelpunkt der Weltgeschichte.

Ich setze meine Hoffnung nicht darauf, in meinem Leben die Erfüllung der Ahnungen und Weissagungen zu erblicken. Wenn es so ist, so ist es Gottes Wille. Das erschüttert die Festigkeit meines Glaubens und den Bestand meiner Hoffnungen nicht, wie es auch den Siegesschrei der Seele nicht betäuben wird: "Ja, komm, Herr Jesu!" [Apk 22,20]. Ich warte auf das Wunder in der Geschichte, auf die Erschließung des Willens Gottes als ihres höchsten Sinnes. Aber das kann sich erst erfüllen, wenn die Fülle der Christenheit erscheint alt-neutestamentlich im Geist und in der Kraft des Gebets und der Weissagung.

Anmerkung

Erzpriester Professor Sergij Bulgakov (1871-1944) ist einer der bedeutendsten Theologen der russisch-orthodoxen Kirche. Er wurde, nachdem er durch den Marxismus hindurchgegangen war und als Professor der Volkswirtschaft in Kiev und Moskau gewirkt hatte, 1918 zum orthodoxen Priester geweiht. Einige Jahre hielt er sich auf der Krim auf. Nach seiner Ausweisung aus Russland am 1. Januar 1923 wirkte er in Prag und die letzten 20 Jahre seines Lebens in Paris. Sein Leben und Wirken galt vornehmlich der Orthodoxen theologischen Akademie, die durch ihn ins Leben gerufen und auf die Höhe gebracht wurde. Seine literarische Wirksamkeit auf dem Gebiet der orthodoxen Theologie ist erstaunlich groß und erregte viel Aufsehen. Wir geben hiermit aus dem posthum herausgegebenen Buch: "Avtobiografičeskija zametki", Paris 1946, das vierte Kapitel in deutscher Übersetzung wieder, die Professor Stupperich besorgt hat. Zur Lebensgeschichte Bulgakovs vergleiche außer dem genannten Buche das Heft "Pamjati otca Sergija Bulgakova", Paris 1945.

Aus: Kirche im Osten 2 (1959), 50-61.

 

Hauptseite