Bericht 2024

 

 

Eines Tages traf ich einen jungen Mann, der in seinem Leben größere Schwierigkeiten hatte. Ich fragte ihn, wie er damit umgehe. Er antwortete, daß er versuche, einen Bereich nach dem anderen durchzuarbeiten. Er fügte hinzu, es sei ihm wichtig jeden Tag am Abend abzuschließen, soweit dies ginge, nichts in den anderen Tag hinüberzuschleppen.

Ich kannte jemanden, der mich bei jeder Begegnung lächerlich machte. Ich platzte vor Wut und wußte weder ein noch aus. Nach Jahren versuchte ich, dies zu beschreiben. Es ist seltsam, aber nachdem ich einiges aufgeschrieben hatte, brachten mich diese Anwürfe nicht mehr aus der Fassung.

Warum mißlingen manche Gespräche? Es gibt Menschen, die ausschließlich Fragen stellen. Sie wollen alles aus ihrem Gesprächspartner herauspressen und schrecken dabei auch nicht vor allzu persönlichen Erkundigungen zurück. Es gibt aber auch das Gegenteil: Die andere Person beantwortet geduldig alle Fragen, die ihr gestellt werden, stellt aber selber keine einzige Frage, als sei sie an der Person und an den Lebensumständen des anderen nicht interessiert. Beides sind einseitige Gespräche. Es fehlt die Gegenseitigkeit, der Austausch. Es handelt sich nicht um Gespräche auf Augenhöhe, die angstfrei und vertrauensvoll geführt werden können. Es kann hier nicht darum gehen, die Ursachen für ein derartiges Verhalten aufzuzeigen. Tatsache aber ist: Es kommt kein wirkliches Gespräch zustande, weil eine Seite sich verweigert.

Das Grab meiner Großeltern väterlicherseits wurde eingeebnet und ich erhielt den Grabstein. Meine Großmutter Gertruda Rutten (12. Mai 1890 - 12. März 1962) stammte aus Heijen / Bergen (Niederlande), der Stukkateur Heinrich Knechten (7. Juli 1891 - 3.  Juni 1958) aus Goch.

 

Christian und Diddi richten den schweren Grabstein auf.
Photographie von Cornelia Attolini.

 

Als Gleiches mit dem Grab meiner Eltern geschah, brachten mir die Kevelaerer den Grabstein. Er erhielt, zusammen mit dem anderen, einen würdigen Platz im Garten. Meine Mutter, Johanna Jiru (14. Juni 1913 - 27. Mai 1995) stammte aus Deutsch-Gabel (Böhmen). Ihre Mutter, Johanna Gundacker (30. Dezember 1878 - 15. September 1945) war in Pernthon, Niederösterreich, geboren worden. Mein Vater, der Gärtner Heinrich Jakobus Johannes Knechten (17. Dezember 1919 -6. Februar 1998), stammte aus Goch.

 

Photographie von Heinrich Michael Knechten

 

Nachdem ich den Brief so ernst begonnen habe, möchte ich nun eine alte Anekdote anführen:

Eine Maus rannte durch die Küche, die Köchin rief aus: „O Jesses!“, und warf ein nasses Spültuch nach der Maus, welche durch die Gewalt des Zusammenstoßes verschied.

Für den Kirchenrechtler stellen sich folgende Fragen:

      I.          Hat die Maus eine unsterbliche Seele?

   II.          Kann die Maus Reue über ihre Sünden erwecken und dadurch in den Himmel kommen?

 III.          Lag eine Taufabsicht vor?

IV.          Genügt in articulo mortis die Kurzform „O Jesses“ statt der ausführlichen Taufformel?

   V.          War das Spülwasser geweiht?

VI.          Kann im Notfall Spülwasser statt sauberem Wasser für die Taufe verwendet werden?

Manchen mögen diese Fragen lästerlich erscheinen, doch ist zu bedenken, daß diese Erzählung aus der guten, alten Zeit stammt und damals nicht als anstößig empfunden wurde.

 

Zum Schützenfest war ich in Horneburg. Es war schön, sich wieder mit den alten Kämpen zu treffen.

 

Hildegard I. (Reimann), Schützenkönigin von 1975 bis 1978, und Franz Beckmann, seit 55 Jahren Mitglied im Bürgerschützenverein Horneburg 1384 e. V. Photographie von Cornelia Attolini.

 

Achtung! Der folgende Abschnitt könnte Irritationen hervorrufen! Sicherheitshalber bitte überspringen und unten weiterlesen!

„Die Meinungschen Örter und Dörfer [bei Schmalkalden], durch die ich ging, zeichneten sich immer sehr vorteilhaft aus. Das einzige, was mir dort nicht einleuchten wollte, war, daß man überall so viel herrliches Land durch Tabakspflanzungen verdarb. Dieses Giftkraut, das sicher zum Verderben der Menschen gehört, beweisʼt vielleicht mehr als irgend ein anderes Beispiel, daß der Mensch ein Tier der Gewohnheit ist.“ (Johann Gottfried Seume, 1763-1810, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, Braunschweig und Leipzig 1803; herausgegeben und kommentiert von Albert Meier, München 152019, 292).

Im Kloster lernt der Mönch drei Dinge: Trinken, Rauchen und Kartenspielen. (Das Fluchen will ich hier nicht erwähnen.) Infolgedessen habe ich von 1969 bis 1972 Pfeife geraucht. Ich besaß eine kleine und eine große Wasserpfeife, eine Tonpfeife, eine Maiskolbenpfeife, eine Lesepfeife mit langem Stiel, eine Pfeife mit Meerschaumfutter, eine Porzellanpfeife, eine Metallpfeife, eine klassische Bruyère-Pfeife mit geradem Mundstück sowie eine Tweenacts (”between the acts“, die zwischen zwei Akten eines Schauspiels geraucht werden kann).

Bei meiner Verabschiedung vom Heimatausschuß in Horneburg bot mir der General der Bürgerschützen eine Zigarre aus der Dominikanischen Republik an. Ich griff zu und war wieder drin. „Ganz schön blöd, daß Du das Rauchen wieder angefangen hast!“, höre ich reden.

Nun denn. Jetzt besitze ich drei Lesepfeifen (Auenland-Hugo, Hobbit-Gandalf und Calabash/Kalebasse, Carnyx: Blasinstrument der Kelten), eine größere und eine kleinere Tweenacts (zehn beziehungsweise sieben Minuten Rauchzeit) mit der Bezeichnung Mary 161 und 152, eine Babypfeife (nicht für Babys, aber ziemlich klein und drollig) namens Goblin, eine Perlenpfeife (Pearl, helle Ahornringe am Holmende und Kopfrand, sodaß das Bruyèreholz aufblitzt, schwarze Lackierung des Pfeifenkopfes und des Holmes, gebogenes Mundstück), eine Missouri-Meerschaum-Pfeife, eine echte Meerschaumpfeife, eine holzgeschnitzte Grizzlybärpfeife mit einer Schüssel aus Erbsenholz aus der Ukraine, zwei Shagpfeifen (Heibe straight und Blowerʼs Daughter 49 light), zwei sandgestrahlte Pfeifen, eine ganz und eine halb sandgestrahlt (Vauen 1028 aus dem Jahre 2017) und eine Honigpfeife. Marken sind Dr. Watson, Heibe, Peterson, Rattrayʼs, Savinelli, The Missouri Meerschaum Company und Vauen.

Das Wort Shag stammt aus dem altnordischen skegg – Bart. Es weist darauf hin, daß dieser Tabak fein geschnitten ist (weniger als 1,6 mm Schnittbreite). Die Shagpfeife ist leicht, der Pfeifenkopf ist niedrig, bei Heibe eckig und bei Rattrayʼs rund und gestaucht (princeartig). Der Shagtabak verbrennt schnell. Gerade in Krisenzeiten wurde die Shag- oder Mutzpfeife (Stummelpfeife) viel geraucht, da der Tabak preiswert ist. Die Firma Heibe war in Bergneustadt im Oberbergischen beheimatet und wurde in den 1990er Jahren geschlossen. Meine Pfeife stammt von 1949.

Ein und derselbe Tabak schmeckt in den verschiedenen Pfeifen jeweils anders. (Wer das nicht glaubt, möge es ausprobieren!) Meine bevorzugten Sorten enthalten Orienttabake, Latakia und Virginia in einer ausgeglichenen Mischung. Sie sind allesamt aromatisch. Per unum omnes nenne ich Royalty von Davidoff.

Das Wichtigste beim Pfeiferauchen ist nicht der Genuß, sondern das Ritual, das beim Rauchen einer Zigarette, eines Zigarillo oder einer Zigarre nicht so stark entwickelt ist. Das Einlegen eines Filters (falls möglich), das Stopfen der Pfeife mit Tabak, erst leicht, dann mittel, dann fest, das kreisförmige Anzünden, das Nachstopfen, dann das Reinigen und Zurücklegen in die schöne Pfeifentasche – das alles zusammen erzeugt eine besondere Stimmung.

 

Auenland-Hugo (Vauen), ermöglicht auch bei ungemütlichem Wetter Entspannung. Photographie von Cornelia Attolini.

 

Jetzt kann ohne Gefahr für Seele und Leib  weitergelesen werden.

 

Ich habe bisher dreißig Bücher veröffentlicht. Das ist eine runde Zahl, daher folgt hier ein kleiner Rückblick. Das Portal academia.edu teilte mir mit, daß meine Schriften in über tausend Veröffentlichungen zitiert wurden. Es ging mir darum, Kulturgeschichte in allen Verzweigungen darzustellen und zugleich praktische Anregungen mitzuteilen. Manchmal werde ich gefragt, woher ich die Zeit für dieses Werk genommen hätte. Immerhin war ich ja für viele Migranten eines großen Gebietes zuständig. Nun, mein Prinzip war: Nulla dies sine linea. Plinius der Ältere, Naturgeschichte 35, 84, bezog diese Devise auf den griechischen Maler Apelles von Kos (4. Jahrhundert vor Christus), der keinen Tag vergehen lassen wollte, ohne eine Linie zu zeichnen. So habe ich nach und nach das Gesamtwerk mehrerer Autoren durchgearbeitet, ein Register ihrer Ideen angelegt und aufgrund dieses Materials meine Bücher geschrieben.

 

In das Netz habe ich zwei neue Seiten gestellt. Die eine nannte ich: „Kirchen, Heilige Orte und religiöse Gemeinschaften.“ Hier sind Bilder und historische Anmerkungen über Altenberg, die Altgläubigen, die Gedenkstätte, Gerresheim, Kaiserswerth, Kalkar, die Kartäuser, Kevelaer, die Kapelle im Lantzʼschen Park, den Michaelsweg, Neviges, Sandau, Schildgen und Wittlaer.

Die andere Seite befaßt sich mit der Tendenz und den Inhalten derjenigen Lehrbücher, welche ich durchgearbeitet habe. Sie beginnt mit der Fibel. Es folgen Ausführungen zur hebräischen Sprachlehre, gewiß ein Thema, das alle elektrisieren wird! Dann gibt es Anmerkungen zu meinen englischen, griechischen und lateinischen Lehrbüchern.

Bei der Bibelseite ist neu Jer 17, 10: Der Ergründer der Herzen (Ägyptisches Jenseitsgericht und die Wägung des Herzens durch den Erzengel Michael), Offb 21, 19f: Edelsteine des Neuen Jerusalems sowie „Meine Bibel“, eine persönliche Betrachtung meines Zugangs zur Heiligen Schrift.

Bei den Burgen habe ich hinzugefügt: Holten, Isenberg und Laer.

Unter Horneburg ist ein Beitrag über das Leben Pfarrer Liedmeiers neu.

Unter Geschichte habe ich über die Indoeuropäer und über das vierzehnte Jahrhundert berichtet.

Ein eigenartiges Thema habe ich unter „Lebensfülle“, Bereich „Spiritualität: Skizzen“ aufgegriffen, nämlich den Aberglauben. Mich hatte interessiert, woher diese Bräuche kommen, welche meist unbewußt ausgeführt werden. Unter „Tempel“ berichtete ich über Ausgrabungen und den Ursprung der Religion.

Unter Lebensfülle, Bereich „Erinnerungen“ finden sich Nachklänge zu meinem 75. Geburtstage mit den Titeln „Begrüßung“ und „Stein“. Unter dem Titel „Fall“ habe ich die Geschichte meines Einsatzes für die Eindämmung des Elends in der Welt beschrieben. Die Fortsetzung dieser Geschichte mit überregionalem Echo ist unter „Rezeption“ zu lesen. Unter Religiöser Kunst ist eine Ausführung über Matthias Grünewald und den Isenheimer Altar zu finden. Außerdem sind hier neu: Bericht 2023 und Experiment (eine Grundsatzentscheidung in meinem Leben), Priesterleben, Tagebuch 1991 sowie 1992, Wasserturm und Arbeitersprache (unter „Sprache“), Alt (unter „Literarisches“).

Ergänzungen finden sich auf der Seite der Pilgerreisen, nämlich Agrigent, Gelati, Kiev, Lavra, Lhasa, Novgorod, Novodevičij, Samarkand, SantʼAgata di Mugello und Rom.

Auf der Steyler Seite ist fast alles neu. Ich habe mich bemüht, Bücher, die uns damals zugänglich waren, sowie Theaterstücke, die wir aufgeführt haben, darzustellen und nach ihrer Tendenz zu befragen. Das Archiv enthält eine Menge an Bildern, Texten, Musik und Filmen, durch welche die 1960er Jahre Kontur gewinnen und wiederaufleben. Hinzugefügt habe ich Kindheit in Steyl, Klosterführer und Reminiszenzen, außerdem ein Lebensbild Heinrich Erlemanns, des Erbauers der Steyler Doppelkirche, und einen Bericht über das Buch Wolfgang Leonhards „Die Revolution entläßt ihre Kinder („Revolution“).

 

Führung durch die Kirche St. Remigius in Wittlaer, vor der Kreuzigungsgruppe aus Bronze von Ewald Mataré, 1937/1938, Photographie von Rudi Weber

 

Zum achten Male hatte ich ein Klassentreffen organisiert. Wir verlebten in Steyl eine schöne Zeit. Zunächst hatten wir eine Führung durch das neu eröffnete Handwerksmuseum im ehemaligen Kesselhaus durch Bruder Heinz Helf (Br. Linus). Besonders eindrucksvoll fand ich die Vorstellung der acht Meter langen Klimsch-Kamera, einer Superhorizontalkamera, die eine Zweiraumkamera ist. Sie dient dazu, reprofertige Vorlagen für den hochwertigen Bilderdruck zu liefern.

 

 

Pierre an der Horizontalkamera, Photographie, vermittelt durch Br. Heinz Helf

 

Auf dem Programm stand der Gang durch die Parkanlagen, die Besichtigung der Grotten, eine Führung durch das Kloster der Missionsschwestern, ein Gespräch im Anbetungskloster und eine lateinische Komplet in der Oberkirche. Gesellige Abende in einem Restaurant an der Maas und in einem chinesischen Restaurant in Tegelen rundeten das Ganze ab. Es war schön, sich wieder einmal mit ehemaligen Mitschülern zu treffen. Mich persönlich berührte vor allem das Gespräch mit Sr. Maria Virgo, die in lebendiger Weise von der Aufgabe, dem Leben und den Klöstern der Rosa Schwestern in aller Welt berichtete.

 

Im Hintergrund das Missionshaus St. Michael in Steijl,
Photographie von Harry Dusek

 

Einige Tage in der Toscana zeigten verborgene Kostbarkeiten. Höhepunkte waren die Klöster Camaldoli, Vallombrosa, Bosco ai Frati (Konvent des heiligen Bonaventura; Scarperia), Tosina (Pelago), Romena (Pratovecchio Stia, Arezzo) und das Marienkloster in Rosano (Rignano). Bewegend waren die Begegnungen mit Familien, Freunden und Bekannten.

 

Bosco ai Frati, Blick vom Kreuzgang in den Innenhof mit Brunnen,
Photographie von H. M. Knechten

 

Am ersten Abend des Aufenthaltes in der Toscana zeigte sich ein getigerter Kater. Er setzte sich in drei Meter Entfernung hin und betrachtete mich aufmerksam. Nach einer langen Weile verschwand er. Am nächsten Abend ließ er sich bereits streicheln, wenn auch mit Vorbehalten. Ich erfuhr, daß er Spritz hieß.

Nun kam er jeden Abend. Wenn ich nach seiner Meinung nicht genügend aufmerksam war, strich er um meine Beine oder kratzte mich spielerisch. Bald hatte er alle Scheu verloren und zeigte die Vielfalt seines Charakters: romantisch, schalkhaft, kämpferisch oder verspielt. Nach der Abreise erfuhr ich, daß er jeden Abend kam und mich suchte.

 

Spritz, Photographie von Cornelia Attolini

Dann geschah etwas Schreckliches. Er sprang hoch, um die Wohnung durch ein Oberlicht zu verlassen. Der Spalt war aber zu schmal, sodaß er steckenblieb. Er kämpfte tapfer, doch er hatte keine Chance: Die Fensterscheiben waren glatt, und seine Pfoten glitten von ihnen ab. Langsam wich das Leben aus seinem kleinen Körper. Als endlich Hilfe kam, war es zu spät: Weder eine zehnminütige Herzmassage noch eine Adrenalinspritze konnten ihn wiederbeleben. Eine Statue im Garten erinnert an ihn.

Die Katzengöttin Bastet vor der Gartenkugel, Photographie von H. M. Knechten

 

Seit langem war klar, daß etwas mit meinen Augen geschehen müsse. Die Frage war nur: Was sollte getan werden? Früher war es üblich, das Gewebe im Abflußbereich des Kammerwassers einzuschneiden, um den Abfluß zu verbessern (Angulozision). Alternativ wurde ein Faden (iStent, trabekulärer Bypass, ins Trabekelwerk gesetztes Mikroimplantat) oder ein Schwämmchen eingepflanzt (XEN Stent, ein Filterkissen wird unter die Bindehaut eingepflanzt), damit das Kammerwasser leichter abfließe. Jetzt gibt es eine neue Methode, Selektive Laser-Trabekuloplastik. Dabei wird mit einem niedrigschwelligen Laserstrahl das Auge angeregt, Selbstheilungskräfte zu entwickeln, indem an fünfzig Stellen Narben beigefügt werden. Pro Auge wird das je zweimal durchgeführt. Das Ziel ist, den Abbau der Sehfähigkeit zu verlangsamen. Es gelang, den Augeninnendruck zu senken. Darüber hinaus erstand ich eine digitale Leselupe, die mir hilft, komplexe Zeichen wie im Hebräischen und Aramäischen zu lesen.

Lange beschäftigte ich mich mit Wolfgang Leonhards Die Revolution entläßt ihre Kinder. Ich hatte dieses Buch mit klopfendem Herzen bereits als Fünfzehnjähriger gelesen. Traurig macht mich, daß damals wie heute recht ähnliche Unterdrückungsmechanismen angewandt werden, um ein ganzes Volk in Unfreiheit und Unmündigkeit zu halten. Kreativität und Eigenverantwortlichkeit gelten als gefährlich.

 

Frohe Festversammlung, Photographie von Johanna Kusters

 

Das größte Fest war die Feier zu meinem 75. Geburtstag. 81 Gäste waren eingeladen und einundfünfzig kamen. Es waren Mitglieder des Bierbrauerklubs Horneburg, des Bürgerschützenvereins Horneburg 1384 e. V., des Fahrradklubs „Die Brandlöscher“ Horneburg, der Freiwilligen Feuerwehr, Löschzug Horneburg, der Kolpingsfamilie Horneburg, Familienmitglieder und Freunde. Es gab lustige Vorträge und jiddische Musik. Das Wetter war optimal, Speisen und Getränke vorzüglich und die Stimmung freudig. Die in unmittelbarer Nähe landenden Flugzeuge ließen die Gäste zu ihren Handys greifen, um einen Schnappschuß zu machen.

 

Ich singe das jiddische Lied: „Un as der Rebbe singt“. Bernd und David begleiten den Gesang mit Akkordeon und Violine.

 

Nachdem ich ein deutsches, englisches, flämisches, französisches und russisches Gedicht in meinen Jahresbriefen mitgeteilt und besprochen hatte, soll heute ein italienisches folgen. Die Anregung dazu erhielt ich von Cornelia Attolini.

 

San Martino

Sankt Martin

 

La nebbia a glʼirti colli
piovigginando sale,
e sotto il maestrale
urla e bianchaggia il mar;

 

Ma per le vie del borgo
dal ribolir
ʼ de tini
va l
ʼaspro odor de i vini
l
ʼanime a rallegrar.

 

Gira suʼ ceppi accesi
lo spiedo scoppietando:
sta il cacciator fischiando
su l
ʼuscio a rimirar

 

tra le rossastre nubi
stormi d
ʼucelli neri
com
ʼesuli pensieri,
nel vespero migrar.

 

Der Nebel steigt nieselnd
von den steilen Hügeln auf,
und unter dem Mistral
brüllt das weißflockige Meer:

 

Aber durch die Straßen des Dorfes
dringt von gärenden Bottichen
der herbe Duft des Weines,
um die Seelen zu erfreuen.

 

Über brennenden, knisternden
Scheiten dreht sich der Spieß:
der Jäger steht pfeifend
an der Tür und schaut

 

zwischen rötlichen Wolken
auf Schwärme schwarzer Vögel,
die wie heimatlose Gedanken
am Abend umherirren.

 

Dieses Gedicht stammt von Giosuè Carducci, der am 27. Juli 1835 in Valdicastello, heute Pietrasanta, in der Toskana geboren wurde. Er promovierte am 2. Juli 1856 an der Universität Pisa mit der Dissertation: „Della poesia cavalleresca o trovadorica“ (Über die Dichtung der Ritter oder Troubadoure) zum Doktor der Philosophie. Wegen seiner atheistischen Ansichten konnte er nicht Professor für Griechisch an der Universität Arezzo werden, erhielt 1860 jedoch eine solche Stelle in Pistoia. Von 1861 bis 1903 war er Professor für italienische Literatur in Bologna. 1862 wurde er Freimaurer. 1906 erhielt er den Literaturnobelpreis. Er starb am 16. Februar 1907 in Bologna.

Das Martinsgedicht Carduccis erschien im Supplementband „Natale e capo dʼanno“ (Weihnachten und Neujahr) in Band 10 der monatlichen Zeitschrift LʼIllustrazione Italiana im Dezember 1883.

Es ist Herbst. Das Fest des heiligen Martins (11. November) prägt diese Zeit (Titel des Gedichtes). Nebel und Nieselregen fördern trübe Gedanken. Das immer ruhelose Meer tost und braust, aufgepeitscht vom böigen, „meisterhaften“ (maestrale) Fallwind, der als unangenehm empfunden wird.

Nach dieser düsteren Einleitung setzen sich Lebensfreude und Wohlbehagen durch; denn der Herbst ist auch die Zeit der Ernte und der Jagd. Im Dorf reift der Wein, um die Menschen zu erfreuen („A San Martino ogni mosto diventa vino“ – An Sankt Martin wird jeder Most zum Wein), und am Spieß dreht sich das soeben erlegte Wild. Der Jäger steht pfeifend an der Tür, voller Behagen über seinen Erfolg.

Doch nun schlägt die Stimmung ein zweites Mal um: Der Jäger erblickt Schwärme schwarzer Vögel, die wie heimatlose Gedanken eines alten Menschen umherirren und ihn ängstigen.

Meisterhaft werden in diesem kurzen Gedicht in ausdrucksstarken Bildern die Unsicherheit des Lebens, aber auch seine Freuden geschildert. Beides ist vorhanden und prägt unser Dasein.

 

© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024

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