Bericht 2023
Kater Askar[1]
Photographie von Cornelia Attolini
Heute möchte ich etwas über die letzten anderthalb Jahre berichten. Vollzeitlich beruflich tätig zu sein, war mir aufgrund meiner Sehschwäche nicht mehr möglich.
Ende August 2022 war ich umgezogen. Die meisten meiner Bücher hatte ich meinem Nachfolger überlassen. Die übrigen packte ich aus den zahlreichen Kartons aus und sortierte sie. Das nahm viel Zeit in Anspruch. Sprachen und Reiseführer stehen im Meditationsraum, Geschichtliches im Wohnzimmer und Philosophie sowie Theologie im Schlafzimmer.
Warum so viele Bücher? Es handelt sich um Quellen- und Nachschlagewerke zur Kulturgeschichte und Spiritualität. Für meine Publikationen mache ich umfangreiche Recherchen. Oft suche ich lange Zeit einen Beleg. Im Netz ist es leider üblich geworden, irgendwelche Inhalte zu veröffentlichen, ohne die Quellen dafür anzugeben.
Für mich ist Schreiben wesentlich. Ich veröffentliche zurzeit zusammen mit dem Heimatausschuß des Horneburger Bürgerschützenvereins die Horneburger Blätter und bin bei der dritten Ausgabe angelangt. Früher wurden ja in der Geschichte hauptsächlich offizielle Dokumente angesehener Persönlichkeiten zugrundegelegt. Neuerdings fällt der Blick auch auf lokale Chroniken, die handschriftlich vorliegen und für den betreffenden Ort ein lebendiges und buntes Bild der Vergangenheit abgeben. Voraussetzung ist allerdings, daß die Handschrift entziffert werden kann. Daher besteht der erste Arbeitsgang in der Transskription. Manche Wörter haben mir beharrlich zu schaffen gemacht, aber mit Geduld konnte ich die deutsche Kurrentschrift des 18. Jahrhunderts lesen lernen.
Außerdem veröffentliche ich Reiseberichte im Netz. Ob ich alle meine Tagebücher bearbeiten kann, weiß ich nicht, da das Material umfangreich und die Bleistiftschrift verwischt ist, aber ich arbeite daran.
Bibliothek, Abteilung Sprachen, Photographie von H. M. Knechten
Ich wohne in der Nähe des Flughafens Lohausen. Morgens um sechs Uhr ist der erste Flugzeugstart.
Ist das keine schöne Wohngegend? Nun, Düsseldorf hat viel zu bieten. Regelmäßig bin ich bei Konzerten in der Tonhalle. Gespielt werden bekannte Stücke, aber auch unbekannte Werke und neuere Musik. Eine Hinführung durch Intendant Michael Becker erleichtert das Verständnis. Gerne besuche ich Chorkonzerte. Das Angebot ist reichhaltig und hochwertig.
Natürlich war es eine einschneidende Umstellung, vom gewohnten Pils des Ruhrgebietes zu lassen und auf Alt umzusteigen, aber der Prozeß läuft und es sieht gut aus.
Weniger bekannt ist, daß es nicht nur eine Kölsche Mundart gibt, sondern auch Düsseldorwer Platt. Hier eine Kostprobe von einem Gedicht der begnadeten Monika Voss:
Beste ne Pänz
von jrad zehn Johr,
weeßte, datte jong bes hütt,
on dat dat Alder, dat es klor,
jrad emol met zwanzesch kütt.
Neun Monate habe ich in einem Kirchenchor gesungen. Wir führten Werke von Mozart und Schubert auf. Der Höhepunkt war das Weihnachtsoratorium von Bach (I-III und VI) mit 131 Personen im Chor, 30 im Orchester und über 700 im Publikum. Ich hätte niemals gedacht, daß ich lernen könnte, Koloraturen zu singen!
Dann konnte ich die Noten nicht mehr so gut erkennen und verließ bedauernd den Chor. Ich spiele Klavier, mußte aber einen Gang herunterschalten. Komplexe und rasche Stücke kann ich nicht mehr erfassen.
Orgel spiele ich nicht mehr. Der Abstand der Noten von den Augen ist zu groß. Außerdem gibt es ein drittes System für die Pedalstimme. Das kann ich nicht mehr übersehen. Meine dreimanualige Orgel wird jetzt in St. Lambertus Henrichenburg gespielt.
Bin ich noch mobil? Ich kaufe selbständig ein und fahre mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Friseur und zur Augenärztin. Ich besuchte zweimal den Bürgerschützenverein Horneburg, einmal zum Generalausmarsch und einmal zum Schützenfest. Als ehemaliger Bataillonsseelsorger trug ich Uniform und Hut. Ich war bei der Kolpingsfamilie Horneburg, deren Mitglied ich bin, und bei der Ehrenabteilung der Freiwilligen Feuerwehr, Löschzug Horneburg, zu der ich gehöre. Reisen unternehme ich zusammen mit anderen. Unvergeßlich ist die Fahrt durch Sizilien.
Liparische Inseln, Photographie von H. M. Knechten
Zurzeit lese ich mit Gewinn „Der ferne Spiegel“ von Barbara Tuchmann, eine detaillierte Beschreibung des 14. Jahrhunderts, das eine erschreckende Ähnlichkeit mit unserer Zeit hat (Seuche, Krieg, Teuerung, Gewalt, Infragestellen der Kultur).
Seit dem 1. Juli 1989 begleitet mich folgendes Gedicht:
Ива |
Die Weide |
И
дряхлый лук
дерев |
Und die altem
Baumstümpfe |
А я
росла в
узорной
тишине, |
Ich aber wuchs auf in buntgestickter Stille, |
Dieses Gedicht wurde am 18. Januar 1940 geschrieben.[2] Seine Autorin ist Anna Andreevna Górenko, die sich auf Drängen ihres Vaters ein Pseudonym zulegte, Achmátova, den tatarischen Namen ihrer Urgroßmutter. Sie wurde am 11. Juni 1889 in Bolʼšoj Fontan, einer Vorstadt Odessas, geboren. Sie wuchs in Carskoe Selo auf. Dort hatte einst Puškin das Lyzeum besucht. Von daher erklärt sich das Motto dieses Gedichtes, das aus Puškins Gedicht Carskoe Selo stammt:
„Du Hort liebevoller Gefühle, der Freuden, die verflogen, / Dem Sänger unter Eichen war dein Geist schon lang gewogen, / Zeichne, Erinnerung, vor mir / Die Zauberorte, an denen meine Seele lebte, / Die Wälder, in denen ich geliebt, in denen das Gefühl sich regte, / In denen die Kindheit in die Jugend überging, / In denen, gehegt von Natur und Traum, / Ich Dichtung erkannte, Freude und Ruhe …
Führe, führe mich in den Schatten der Linden, / Die stets liebevoll meiner freien Muße, / Zum Seeufer, zur stillen Hügelhöh! … / Damit ich erneut sehe den dichten Wiesenteppich / Und die alten Baumstümpfe, die helle Ebene, / Und das bekannte Bild der lieb gewordenen Ufer / Und auf dem stillen See, der sich leuchtend kräuselt, / Den stolzen Ort der Schwäne, die ruhig ihre Kreise ziehn.“[3]
Hinter Achmatovas Haus wuchs im Sommer üppiges Unkraut, daher
schrieb sie in ihrem Gedicht: „Die
Kletten liebt ich und die Nessel“. Ihr erster Mann, Nikolaj Gumilëv, wurde 1921 als angeblicher
Verschwörer erschossen.
Ihr Sohn.
Lev Nikolaevič Gumilëv (1912-1992) wurde 1933 für neun Tage
verhaftet, da er der Sohn eines wegen einer angeblichen Verschwörung
Hingerichteten war. Vom 23. Oktober bis zum 4. November 1935 war er wiederum im
Gefängnis, da er Kontakte mit Dichtern hatte, die vom Staat nicht akzeptiert
wurden. In der Nacht vom 10. auf den 11. März 1938 wurde er erneut verhaftet.
Siebzehn Monate stand Achmatova immer wieder Schlange vor den Gefängnissen in
Leningrad, nur, um zu erfahren, daß er für fünf Jahre nach Sibirien verbannt
wurde. Er verbüßte diese Zeit der Lagerhaft in Norilʼsk, durfte am 10. März 1943 aber
nicht nach Leningrad zurückkehren, sondern mußte in Norilʼsk bleiben. Am 13. Oktober 1944 wurde
er Soldat und konnte am 14. November 1945 nach Leningrad zurückkehren. Er wurde
zwar von der Universität ausgeschlossen, konnte aber im Fernstudium
promovieren, nämlich über die politische Geschichte des ersten türkischen
Chaganates (546-659). Von 1949 bis 1956 war er wiederum zur Verbannung
verurteilt. In den darauffolgenden Jahren veröffentlichte er ethnographische
Studien und übersetzte Dichtung aus dem Persischen. Er starb am 15. Juni 1992
in St. Petersburg.
Dies ist ein
Einzelschicksal, das aber typisch ist für diese Jahrzehnte. Nun zurück zum
Leben seiner Mutter.
Während der
Blockade Leningrads wurde Anna Achmatova nach Moskau ausgeflogen und 1944 nach
Taškent evakuiert. Als sie ins zerstörte Leningrad zurückkehrte, war sie
schockiert. Als ihr Sohn 1949 erneut verhaftet wurde, verbrannte sie in Panik
die Skizzen zu ihren Werken.
Anna
Achmatova wurde die Klagefrau Rußlands. Sie starb am 5. März 1966 in
Domodedovo, das heute zu Moskau gehört.
In dem
Gedicht „Die Weide“ (der Titel fehlt ursprünglich) spricht Achmatova von den
Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Tatsächlich ist sie
einem breiteren Leserkreis erst spät zugänglich geworden. Allein die Weide
weint mit ihr und läßt sie in Schlaf gleiten; denn schlaflose Nächte hat sie
infolge persönlichen Leides und aufgrund der schwierigen Situation ihres
Volkes. Sie wundert sich, daß sie noch lebt, während die Weide, ihre Freundin,
einging. Sie trauert um sie wie um eine Verwandte. Mit anderen „Weiden“ gelingt
ihr kein Kontakt.
Angesichts unendlichen Leides, das von gegenwärtigen Kriegen verursacht wird, ist dieses Gedicht aktuell. Mögen Wege aus diesen verfahrenen Situationen gefunden werden!
© Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2023
[1] Asker (sic) ist ein nordischer Vorname und bedeutet Gottesspeer. Vgl. Nordische Vornamen, herausgegeben von Dietrich Voorgang, dritte Auflage München 2001, 66.
[2] Erstveröffentlichung in: Zvezdá (Der Stern) 1940, Nummer 3 und 4; Beg vremeni, Moskau und Leningrad 1965; Stichotvorenija i poėmy, Leningrad 1977. Hier aus: Anna Achmatowa, Gedichte, herausgegeben und Nachwort von Ilma Rakusa, Nachdichtungen von Heinz Czechowski, Uwe Grüning, Sarah und Rainer Kirsch, Frankfurt am Main 1988, 42f.
[3] Aleksandr Sergeevič Puškin, Carskoe Selo (Zarendorf; heute Puškin), in: Sobranie sočinenij, Band 1, Moskau 1974, 49. Dieses Gedicht verfaßte er 1917, nach Abschluß des Lyzeums (des Gymnasiums). In die Zarenausgabe wurde dieses Gedicht nicht aufgenommen (Sočinenija, 6 Bände, St. Petersburg 1878.1880f. Siehe auch: Alexander Puschkin, Стихотворения. Die Gedichte, herausgegeben von Wolf-Dietrich Keil, übertragen von Michael Engelhard, Frankfurt am Main, Leipzig und Darmstadt 1999, 238f.