Bericht 2018
Das Schreiten von einem
Jubiläum zum anderen hat begonnen: Vor zehn Jahren zog ich nach Horneburg, vor
zwanzig Jahren war die feierliche Promotion, vor dreißig Jahren studierte ich
in Rom, vor vierzig Jahren wurde ich zum Priester geweiht, vor fünfzig Jahren
machte ich Abitur, vor sechzig Jahren war die Erste Heilige Kommunion und jetzt
ändert sich meine Hausnummer.
Nach der Handauflegung zum Protopresbyter am
19.5.2018
Photographie von Michaela Kiepe
Jemand schrieb mir:
„Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass es Dir an Beschäftigung mangelt;
das wird natürlich auch in Deiner unermüdlichen Forschung zu den religiösen
Themen Russlands deutlich. Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, was dazu führte?
Wurdest Du Pfarrer für die Gläubigen russischer Sprache, weil Du die Sprache
beherrschst? Hast Du Dich selbst darum bemüht, diese Aufgabe zu übernehmen? Und
wenn ja: Mit welcher Motivation?“
Soweit die Fragen.
Jetzt versuche ich, darauf zu antworten. Der tiefste Grund ist sicher, dass ich
aus einer Familie mit Migrationshintergrund komme, wie man heute sagen würde.
Das jahrhundertelange Leben inmitten einer deutschen und slavischen Umgebung
hat wohl seine Spuren hinterlassen, und sei es nur im sogenannten kulturellen
Gedächtnis. Zwei meiner Onkel waren Priester.
Als Kind hatte ich
bereits begonnen, die russische Sprache zu erlernen. Ein Vorgesetzter fragte
mich, warum ich nicht Englisch lerne. Ich wies darauf hin, dass ich mich auch
mit dieser Sprache beschäftige. Zum Verständnis ist es notwendig, sich den
historischen Hintergrund vor Augen zu halten: Es war die Zeit des Kalten
Krieges. Wer sich mit russischer Kultur abgab, galt als jemand, der eine
feindliche und gefährliche Ideologie unterstützte. Ich dagegen empfand eine
Kultur, die nur in eine einzige Richtung blickt, als einseitig.
Als Student arbeitete
ich in einer ostkirchlichen Gemeinde mit. Ich erinnere mich an das Entsetzen,
als der Diakon während einer Liturgie für das Heilige Moskau betete. Es war in
dieser Zeit des Kalten Krieges wenig im Bewusstsein, dass es eine faszinierende
Spiritualität in kirchenslavischer und russischer Sprache zu entdecken gibt.
Ich wuchs dann in die
Russische Gemeinde in Horneburg hinein, die das fünfzigjährige Jubiläum feierte.
Dazu
muss erzählt werden, wie alles anfing: Pater Erwin Immekus zog sich eines Tages
einen schwarzen Talar an und fuhr auf dem Moped nach Bonn. Dort bat er darum,
den Innenminister sprechen zu dürfen. Nach einer Viertelstunde stand er vor
ihm. Er fragte, ob er in den Ausländerämtern nach russischsprachigen Familien
suchen dürfe. Er erhielt die Erlaubnis, stellte Nachforschungen an und
zeichnete eine Karte. Es stellte sich heraus, dass im Ruhrgebiet die größte
Anzahl von ihnen wohnte. Die Russenseelsorge begann zunächst in Essen. Auf
seinen Fahrten kam Pater Erwin durch Horneburg und stellte fest, dass hier eine
neue Kirche gebaut wurde. Er folgerte: Wenn eine neue Kirche gebaut wird, dann
wird eine alte Kirche frei. Er fragte, ob er dort Gottesdienste mit
Russischsprachigen feiern dürfe, erhielt die Erlaubnis von Pfarrer August
Liedmeier, dem Kirchenvorstand und dem Bistum Münster und begann, die Kirche
für byzantinische Liturgiefeier umzugestalten.
Es gab noch einen zweiten Anlass zur Feier in
Horneburg. Auch dazu folgt eine kleine Erzählung: Der kleine Melchior konnte
nichts sehen. Dicht an dicht standen die Erwachsenen an der Straße und
versperrten ihm die Sicht. Geschickt drängte er sich durch und stand bald in
der vordersten Reihe. Weißt Du eigentlich, auf wen wir warten?, wurde er
gefragt. Melchior schüttelte den Kopf. Da hörte er: Gleich soll Zar Peter
kommen, der Kaiser von Russland. Er war in Holland, um sich als Zimmermann mit
den neuesten Methoden im Schiffsbau vertraut zu machen. Er hatte sich, wie es
heißt, hochgedient. Zuerst war er Trommler. Dann fuhr er wie ein gewöhnlicher
Soldat in einer selbstgefertigten Schubkarre Erde heran, um eine kleine Festung
zu bauen und brachte die Nacht damit zu, bei ihr Wache zu stehen. Schließlich
erstürmte er sie wie ein einfacher Pionier und brach mit der Axt ihre Türen
auf, die er vorher mit großer Mühe gezimmert hatte. Er lernte, ein Schiff zu
steuern und während eines Sturms so zu manövrieren, dass es nicht unterging.
Nach seiner ersten siegreichen Schlacht wurde er Hauptmann, dann Oberst und
schließlich Admiral. Er erhielt den jeweiligen Rang erst, nachdem er ihn
verdient hatte. Er wollte Russland modernisieren. – Da kommt er!, schrie
Melchior. Fanfaren schmetterten und Zar Peter zog in Horneburg ein. Er war
leicht zu erkennen, da er größer war als alle anderen. Dies war am 23. Mai
1698, also vor 320 Jahren.
Tyger
tyger, burning bright, |
Tiger,
Tiger, Flammenpracht (brennend hell), |
In
the forests of the night: |
In
den Wäldern dunkler Nacht: |
What
immortal hand or eye |
Welch
unsterblich’ Aug’ und Hand |
Could
frame thy fearful symmetry? |
Schuf
dein schrecklich’ Ebenmaß? |
|
|
When
the stars threw down their spears |
Als
der Sterne Speer herab |
And
water’d heaven with their tears: |
Tränen
unser’m Himmel gab: |
Did
He smile His work to see? |
Lächelt’
Er, als Er’s vollbracht? |
Did
He who made the Lamb make thee? |
Der’s
Lamm schuf, hat auch dich gemacht? |
Songs of
Experience (1794), in: Blake. Poems and Letters, hg. u. eingeleitet v.
J.Bronowski, Middlesex 1986, 49f.
Dieses Gedicht von William Blake (1757-1827), von dem
hier nur die erste und fünfte Strophe wiedergegeben wurde, begleitet mich seit
meiner Schulzeit. Der Dichter war Visionär und wurde wenig verstanden. Erst
jetzt setzte man ihm auf dem Friedhof Bunhill Fields in London einen Grabstein.
W.Blake sah in den Erscheinungen der Dinge eine andere Welt. Gott schuf das
Lamm, aber auch den Tiger. Es gibt Sanftmut und Gewalt in der Welt. Das Gedicht
stellt die Frage, inwiefern die Quelle dafür in Gott liegen kann.
In der Alten
Kirche war ein Bild der heiligen Maria Magdalena als Büßerin. Im Laufe der
Zeit dunkelte es stark nach und wurde daher: „Das schwarze Bild“ genannt. Wegen
gravierender Schäden war Handlungsbedarf angesagt. Im März 2014 kam es in die
Werkstatt der Denkmalpflege des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in
Münster/Westfalen. Am 21.9.2016 wurde es zur Hochschule der Bildenden Künste in
Dresden gebracht und von der Diplomandin Katrin Kuberski konserviert. Nun
erfolgt die Restaurierung des Bildes. Die Alte Kirche in Horneburg erhielt eine
Außenbeleuchtung, sodass sie nachts wie eine Vision der Anderen Welt erscheint.
Kirchenchorfahrt,
8.10.2014, Odilienberg, Elsass. Photographie von Brigitte Stakowski.
Nun zu den Veröffentlichungen: Das Buch über den
Metropoliten Makarij zeigte auf, wie die Entwicklung zum heutigen Russland begann.
Danach folgte ein Buch mit dem Titel: „Starzen und Hirten“ über die Art und
Weise, wie die Russische Kirche versuchte, sich auf den Umgang mit einem atheistischen
und säkularen Staat einzustellen. Schließlich folgten Neuauflagen: Die Alte
Kirche in Horneburg (drei Auflagen in drei Jahren) und Monastische
Väterliteratur (mein Hauptwerk, das ich stark erweitert neu herausgab). Vor
Jahren hatte ich bereits das Buch über das Jesusgebet neu herausgegeben. Dann
aber wurde ich Opfer meines eigenen Erfolges: Der Verlag sandte mir eine Liste
mit sechs weiteren Büchern, die vergriffen sind und einer neuen Auflage
bedürfen… Nachdem ich mich von diesem Schock erholt hatte, begriff ich die
Chance: Das Buch war ja bereits fertig und von der Öffentlichkeit akzeptiert
worden; es gab also nur wenig Leistungsdruck. Vieles konnte ergänzt werden;
anderes wurde aufgrund der Gesamtschau umfassender ausgedrückt. Ich begann mit
dem Buch über die Leidendulder, das
bereits nach drei Jahren vergriffen war. Hier ergänzte ich vor allem die
Ausführungen über die Geschichte der Altgläubigen und das Kapitel über den
Schriftsteller Lev Nikolaevič Tolstoj. Dann kam das Werk über Scupoli (Katholische Spiritualität bei
Theophan dem Klausner).. Hier brachte ich es nicht über das Herz, erneut so
viele Kapitel aus diesem bewährten Handbuch wegzulassen, sodass ein stattlicher
Band herauskam. Mit dem Buch über Dimitrij
von Rostov war ich 2009 nicht zufrieden gewesen. Das lag sicher teilweise
daran, dass es schwierig ist, das Denken eines Barockschriftstellers
darzustellen. Allerdings hatte ich auch nur eine Textgrundlage aus dem Jahr
2005. In der Münsteraner Bibliothek gab es noch eine Ausgabe von 1909. Für die
zweite Auflage besorgte ich mir zunächst eine Ausgabe aus den Jahren 1835-1849
(2.713 Seiten) und eine große Aufsatzsammlung aus dem Rostover Museum, außerdem
eine neue Edition der Briefe Dimitrijs. Leider gibt es keine kritische
Gesamtausgabe seiner Werke; aber ich war nun besser gerüstet als damals. Im
biographischen Bereich machte ich zahlreiche Ergänzungen.
Im Garten ging eine Atlaszeder ein, deren Wurzelwerk dem Dauerregen
nicht gewachsen war: Innerhalb einer Woche wurden die Nadeln gelb und dann
braun. Der ostasiatische Buchsbaumzünsler (cydalima perspectalis) raffte die
umfangreichen Buchsbaumbestände hinweg. – Der Kampf gegen das Unkraut forderte
einigen Einsatz: Brombeerranken, Ackerwinde (convolvulus arvensis), Giersch
(aegopodium podagraria), Brennesseln, Klettenlabkraut (galium aparine),
Löwenzahn, Spitzwegerich (plantago lanceolata) und Breitwegerich (plantago
maior). Sie alle wucherten schneller, als ich jäten konnte. Doch der Garten mit
Amberbaum, Tulpenbaum, Himalajazeder, Libanonzeder, japanischer Blütenkirsche
(prunus serrulata), Akazie, Scheinzypresse (chamaecyparis), Fichten, Tannen, Spindelstrauch/Pfaffenkäppchen
(euonymus europaeus), Goldorange (aucuba), Fünffingerkraut, Astern, Rosen und
vielen anderen Pflanzen, von denen meist eine blüht, ist ansprechend geworden.
Dazu trug auch die Gartenbank bei, die den Tulpenbaum umrundet.
Vor einiger Zeit nahm
ich an einer Fahrradtour teil, die mich „süchtig“ machte. Nun fahre ich mit einigen
anderen möglichst einmal wöchentlich durch die schöne Gegend.
©
Heinrich Michael Knechten, Horneburg 2019.