Kreuz und Kruzifixus
Christus
wurde am Kreuz zunächst ausschließlich mit offenen Augen dargestellt, da er König
der Herrlichkeit auch in der Erniedrigung, im Leiden und im Tod bleibt.
Dies
zeigt die älteste Darstellung der Kreuzigung,
die sich an der Holztüre
von Santa Sabina in Rom befindet. Sie stammt aus dem Jahre 432. Es handelt sich
um geschnitztes Zypressenholz, Die Kreuzigungsszene befindet sich in der
obersten Reihe links.
Die
Scheu vor der Abbildung eines schmählich Gekreuzigten zeigt sich bei dieser
Schnitzerei daran, daß kein Kreuz dargestellt wurde. Christus mit den Wundmalen
steht in Orantenstellung, mit ausgebreiteten Armen, als wolle er die ganze Welt
umfassen und sie im Gebet seinem Vater darbringen. Beide Hände sind mit je
einem Nagel an Holzteile geheftet. Auch durch die Füße ist je ein Nagel
geschlagen worden, ohne daß Holz zu sehen ist. Die Quadermauer mit
Dreiecksgiebeln weist auf den Ort des Geschehens außerhalb der Jerusalemer
Stadtmauer hin. Die Augen Christi sind offen, da ihn als König der Herrlichkeit
der Tod nicht endgültig umfangen kann.
Eine
Änderung trat nach dem Konzil von Chalzedon (451) ein. Dort wurde definiert,
dass unser Herr Jesus Christus wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch sei,
unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt. (Vgl. Conciliorum Œcumenicorum Decreta, besorgt von G.
Alberigo u.a., hg. vom Istituto per le scienze religiose Bologna, Bd. 1, hg.
von J. Wohlmuth, Paderborn, München, Wien u. Zürich 1998, 86, Zeilen 16-38).
Seither
wird der Gekreuzigte auch mit geschlossenen Augen dargestellt, als Mensch, ohne
daß seine Göttlichkeit in Frage gestellt ist.
Die
berühmteste Darstellung Christi mit geschlossenen Augen ist das so genannte Gerokreuz
im Kölner Dom aus dem Ende des 10. Jahrhunderts, das von Erzbischof Gero (um
900 - 976) gestiftet wurde.
Ein
weiterer Kruzifixus soll hier besprochen werden. Er befindet sich in der
Sammlung für christliche Kunst des Mittelalters der Stadt Köln, die ihren Namen
nach ihrem Begründer, dem Prälaten und Domkapitular Johann Wilhelm Alexander
Schnütgen (1843-1918) trägt.
Bronzekruzifixus aus der
zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, Deutschland oder Maasgebiet, Museum
Schnütgen, Köln, Inventarnummer H 74, Photographie von Heinrich Jakob Bahne
Dieser
Kruzifixus wurde weiteren Kreisen bekannt, als Christian Beutler ihn auf das 6.
Jahrhundert datierte. Dafür führte er folgende Gründe an: Es ist ein
Vier-Nagel-Kreuz (die Beine ruhen parallel nebeneinander, sind also nicht
aufeinander genagelt), die hellere Legierung der Bronze und der Vergleich mit
dem Elfenbein-Diptychon aus dem 6. Jahrhundert, das sich im Berliner
Bode-Museum befindet (Inventarnummer 565) sprechen für eine Entstehungszeit im
6. Jahrhundert.
Zunächst
ist auf eine kleine Ungenauigkeit Beutlers zu verweisen. Bei den Füßen dieses
Kruzifixusʼ findet sich keine Spur eines Nagels. Sodann ist ein Vergleich
mit den recht ähnlichen Exponaten des Museums Schnütgen durchzuführen. Es
handelt sich um die Inventarnummern H 22f, 72 und 74 (im Katalog von 2018 auf
den Seiten 67 bis 70), die aus dem 11. und 12. Jahrhundert stammen.
Der
harte plastische Kontrast zwischen der Gürtung des Lendentuches und den davon
herabhängenden drei Faltenstegen einerseits und den linear eingravierten
V-förmigen Falten andererseits, aber auch die lineare Angabe der Rippen durch
tiefe Falten fügen den Kruzifixus in das Feld der Bronzeplastik des 12.
Jahrhunderts ein.
Dennoch
gibt es hier einige Besonderheiten. Der mit geschlossenen Augen zwischen den
Schultern eingesunkene Kopf, der in die Breite gezogene Oberkörper, und die
Haltung der seitlich nach rechts geschobenen Beine, mit ausgestreckten, weder
genagelten noch stehenden Füßen, wie bei einer liegenden Figur mit leicht
angezogenen Beinen, verleihen diesem Christus eine Prägung, die sie von den
meisten anderen romanischen Bronzekruzifixen unterscheidet. Christus wird als
Entschlafener dargestellt.
Bibliographie
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Beutler, Christian, Der älteste Kruzifixus. Der entschlafene Christus,
Kunststück, Frankfurt am Main 1991; Frankfurt am Main 21992.
o
Beutler, Christian, Der Gott am Kreuz. Zur Entstehung der
Kreuzigungsdarstellung, Hamburg 1986.
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Breuer, Christine, Frühchristliche Kunst in Rom und Konstantinopel.
Schätze aus dem Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst Berlin, Paderborn
1996.
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Hausherr, Reiner, Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des
Gerokreuzes, Dissertation, Bonn 1963.
o
Klein, Bruno, Das Gerokreuz. Revolution und Grenzen figürlicher Mimesis
im 10. Jahrhundert, in: Nobilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von
Antje Middeldorf-Kosegarten, herausgegeben von Bruno Klein, Dresden 2002,
43-60.
o
Woelk, Moritz, und Manuela Beer, Museum Schnütgen. Handbuch zur
Sammlung, München 2018, 71.
©
Dr. Heinrich Michael Knechten, Stockum 2024