Berdjajews Plotinrezeption 3

 

Exkurs: Plotin und die christliche Philosophie

Im Zusammenhang unseres Themas der Rezeption Plotins durch Berdjajew sollte es nicht unterbleiben, auch den Themenbereich "Plotin und die christliche Philosophie" zu untersuchen. Es war vor allem W.Beierwaltes, der sich in seinen Studien "Platonismus im Christentum" diesem Themenbereich mit überragender Sachkenntnis und Sorgfalt zugewandt hat (49). Da hier nicht der Ort ist, die Fülle seiner Einsichten auszubreiten, beschränken wir uns auf eine kurze, gehaltvolle Einzelstudie.

Eine wesentliche Hilfestellung zum genannten Thema vermittelt uns der Aufsatz "Plotinus and Christian philosophy" von J.Rist im "Cambridge Companion" zu Plotin (50). Die wichtigsten Teile dieses Aufsatzes werden nachstehend in vollständiger Übersetzung oder sie summarisch zitierend (ohne besondere Kennzeichnung), herangezogen.

Wir müssen davon ausgehen – so J.Rist – , dass der Platonismus die christlichen Philosophen vor Plotin beeinflusst hat. Zu nennen sind hier besonders: Justinus Martyr, Clemens von Alexandrien und Origenes. Er sollte auch hunderte von Jahren später noch auf Christen einflussreich sein. Viele von ihnen kannten Plotin nur als prominenten Namen in der Tradition. Den Einfluss Plotins auf das Christentum zu diskutieren bedeutet, nicht nur diejenigen zu diskutieren, die Plotin aus erster Hand kannten und seine Lehre liebten oder ihr Widerstand leisteten. Es bedeutet auch, das Denken derjenigen zu betrachten, deren Verständnis des Platonismus indirekt durch das besondere Merkmal des Platonismus als vorherrschend von Plotin begründet berührt war und was wir in der Neuzeit den Neuplatonismus zu nennen pflegen. In unserem Zusammenhang sind wir nicht unmittelbar mit dem Einfluss des Neuplatonismus als Ganzem auf das Christentum beschäftigt. Dieses wäre ein zu weites Feld, da Plotin bloß der Begründer des Neuplatonismus war, sogar nicht einmal der typischste Neuplatoniker. Bemerkenswert ist, "dass viele seiner (Plotins) Nachfolger seine Grundeinsichten mit Ergänzungen ihrer eigenen auf Wegen weiterentwickelten, die er nicht kannte und die er oft nicht anerkannt hätte. In der Behandlung von Plotins indirektem Einfluss können wir auf dieser Stufe wenig mehr tun als beobachten, dass die späteren Neuplatoniker der Antike seine originellen Forderungen verstärkten und deshalb [entstand] sein Ansehen sowohl bei denen, die ihn persönlich lasen, als auch bei denen, die ihn durch Quellen zweiter Hand kannten, und zweite-Hand-Quellen konnten sowohl christlich als auch heidnisch sein" (51). Rist hält es für bemerkenswert, dass vom 6. bis zum 15. Jahrhundert der Text der Enneaden in Westeuropa unbekannt war, obwohl er im griechisch und arabisch sprechenden Osten erreichbar war, wo er manchmal zu philosophischen Zwecken herangezogen wurde. "Auf der anderen Seite kann der indirekte Einfluss von Plotin nicht nur bei späteren Schriftstellern, die offensichtlich Neuplatoniker waren, gefunden werden, sondern auch bei der großen Mehrheit der griechischen Kommentatoren über Aristoteles – gemäß Alexander von Aphrodisias und mit der streitbaren Ausnahme von Themistius – dessen Neuplatonismus allgemein erst durch moderne Wissenschaft in der jüngsten Zeit erkannt worden ist" (52). Es kann festgestellt werden, dass christliche Platoniker nach Plotin christliche Neuplatoniker sind. Es wäre notwendig zu bestimmen, welche von ihnen besser als Platoniker einer vor-plotinischen Art beschrieben würden.

Mindestens ebenso wichtig aber ist die hier mehr interessierende Beantwortung folgender Fragen, die J.Rist stellt: "Inwieweit hatte Plotin eine besondere Wirkung auf die Gedanken über den Platonismus, die christliche Denker, besonders diejenigen der frühen Jahrhunderte aufnahmen? Inwieweit leiteten christliche Denker Ideen von Plotin ab, die sie nicht von früheren Philosophen der platonischen Tradition ableiten konnten? Und – am schwierigsten von allen [Fragen] – inwieweit befähigte das plotinische Denken christliche Denker mehr philosophisch zu denken und im allgemeinen vernünftiger innerhalb der platonischen Tradition als sie imstande gewesen wären, es zu vollziehen, wenn sie keinen direkten oder indirekten Zugang zu seinen [Plotins] Ideen gehabt hätten?" (53).

Ohne die ganze Fülle der von J.Rist aufgeworfenen Probleme, Kon- und Divergenzen zwischen Plotin und der christlichen Philosophie nur annähernd zu beschreiben, soll nur festgehalten werden, dass der Dialog zwischen Platonismus und Christentum schon früh begann, "und eine vollständige Geschichte unseres gegenwärtigen Themas müsste im Detail in Rechnung stellen, inwiefern sie kompatibel und inkompatibel sind, wie der Platonismus sowohl die Entwicklung der christlichen Theologie beförderte als auch dieses Wachstum entstellte; und dies würde uns mit weiteren theologischen Problemen konfrontieren von der Art, wie etwa dies, das Christentum als das ‚wahre’ Christentum zu entwickeln und welche Denkart es entstellen könnte" (54). Rist konstatiert, dass Plotin nicht der erste und nicht der Platoniker war, der das Christentum beeinflusste. So soll – nach J.Rist – unser erstes Ziel sein, die besonderen Bereiche zu identifizieren, in denen das Denken Plotins direkt oder indirekt entscheidend wurde. "Eine Frage jedoch, die nicht zurückgestellt werden kann, betrifft die besonderen Aspekte des Christentums, die Plotin beeinflussen konnte – zur Zeit, in der er lebte, und die die exakte Entwicklung des christlichen Denkens bis kurz zuvor und nach dieser Zeit [betraf]"(55).

Betrachten wir die Kirchengeschichte, so war zwar das Konzil von Nicäa vom Platonismus oder irgendwelchen direkten philosophischen Inhalten weit entfernt. Dennoch müssen seine [des Platonismus] Wirkungen auf die künftigen Beziehungen zwischen Christentum und Platonismus und deshalb auf die christliche Haltung gegenüber Plotin selbst von größter Wichtigkeit gewesen sein. Die erste Betrachtung des Konzils galt der "Häresie" des Arius, einem Priester von Alexandria, der in Streit mit seinem Bischof Alexander mit der Forderung gekommen war, dass Christus, der Logos, die zweite Person der christlichen Trinität unterhalb Gottes und nicht innerhalb der gleichen Substanz wie Gott, der Vater, stand. Dies war tatsächlich ein geschaffenes Zwischenglied zwischen Gott dem Vater und dem geschaffenen Universum. In seiner folgenden Darstellung entfaltet J.Rist in aller Breite den Streit zwischen Arius und Athanasius – eine Thematik, die uns vom gestellten Thema zu weit weg führt. Es sei aber gefragt, ob – nach Rist – eine geringe Evidenz darüber besteht, dass der besondere Einfluss Plotins auf die östlichen christlichen Schriftsteller der Frühzeit des vierten Jahrhunderts stattfand, als die Situation sich änderte. So seien hier die Kappadozier zu nennen, doch Vorsicht sei angebracht. In der Atmosphäre, in der Basilius der Gr. lebte, sei platonischer Einfluss spürbar und es gelte auch: "some effect of the theories of the great Plotinus and his pupils could be recognized" (a.a.O., S. 397). Basilius d. Gr. gebe keine Hinweise für ein großes Interesse an Plotin, dieses sei vielleicht unter dem Einfluss seines mehr mystisch gestimmten Bruders Gregor von Nyssa entstanden (56). Dennoch hält J.Rist fest, dass der Einfluss Plotins auf das Christentum vor allem durch die Kappadozier eintrat und Basilius in seinem Alter sich für die Enneaden interessierte. Rist konstatiert in diesem Zusammenhang, dass Gregor von Nyssas Platonismus der des Christen Origenes ist – das heisst: sein Platonismus ist weithin abgeleitet aus vor-plotinischen Quellen. An dieser Stelle beschließen wir unseren umfangreichen Exkurs über Plotin und seine Einflüsse auf die christliche Philosophie, ohne die weiteren Ausführungen Rists zu den Auswirkungen Plotins auf Augustin, Marius Victorinus, Ambrosius und die weitere Patristik zu diskutieren. Es sei aber eine weit verbreitete Annahme, dass das patristische Christentum tief mit dem Platonismus verbunden gewesen sei, d.h. dass die "Väter" mehr in den Kategorien des Platonismus als in anderen Schulen dachten, dass sie häufig etwas von Platons Theorie der Formen annahmen, über die "Teilhabe" sprachen oder vom platonischen Gottesbild. Noch einmal sei gefragt: Was ist die Rolle Plotins bei all diesen Überlegungen? Historisch war es die plotinische Version des Platonismus, die Augustin zum Christentum führte, obwohl diese Version ihn noch nicht zum Christen machte. Dennoch sei es unbezweifelbar: Die größte Bedeutung, die Plotin in der Entwicklung des Christentums bewirkte, war seine inspirierte Darstellung, durch die die einflussreichste Gestalt zum Christentum kam: Augustin. Denn es war Augustin, von dem schließlich im mittelalterlichen Westen mehr westliche Christen eine Wendung ihres Geistes vornahmen (Anselm, Bonaventura, sogar später Franz von Sales). Weitere seien genannt, die beeinflusst wurden: Pseudo-Dionysius, Marsilio Ficino, Pico della Mirandola im 15. Jahrhundert, und die Cambridge-Platoniker im siebzehnten Jahrhundert.

i) Schluss und Ausblick – Plotins Wirkungsgeschichte

Um das ohnehin nicht ganz leichte Thema nicht noch mehr zu komplizieren und durch weitere Sekundärliteratur anzureichern – noch gar nicht herangezogen wurden die umfänglichen und überaus sachkundigen Studien von Werner Beierwaltes – (1. Platonismus und Idealismus, Frankfurt 1972, 2. Proklos, Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt 1979, 3. Denken des Einen, Frankfurt 1985, 4. Das wahre Selbst, Frankfurt 2001) – beschränken wir uns in diesem Schluss und Ausblick darauf, mit W.Dietrich Plotin als den Gesprächspartner Berdjajews im Kontext christlicher Theologie bzw. Philosophie noch einmal zu Wort kommen zu lassen und Berdjajews Antworten zu hören. Wurde schon mehrfach auf den Zentralbegriff der Apophatik hingewiesen, wie ihn Plotin entwickelt hat, so findet der russische Denker bei dem griechischen spätantiken Philosophen Plotin zwar eine hohe Geistigkeit, dennoch: "Ihr [der christlichen Geistigkeit] gegenüber erscheint die Geistigkeit, die sich bei Plotin erschließt, als dennoch beschränkt, – unermesslich höher und menschlicher ist die christliche Geistigkeit" (57).

Dietrich sieht mit Berdjajew den "unermesslich höheren und menschlicheren Weg" der von Christus ausgelösten Bewegung darin; "dass sie sich nicht in das weiselose, in sich einsame Eine enthebt, sondern dass sie – nach einem früheren Ausdruck Berdjajews – 'das wahrhaft Seinsmässige' oder – nach einem späteren Ausdruck Berdjajews – 'die personalen Existenzzentren' im Durchbruch durch alle Entstellungen in sich hineinbirgt, dass die in ihr gemeinte Einheit von einer Liebe geformt wird, die auch und gerade 'die Materie', das gestaltete Viele, das Niedere umfasst. Die sich in dem All-Einen erschließende konkrete Vielheit des Seins ist mehr als die undifferenzierte Einheit" (58).

Noch an zahlreichen anderen Belegstellen durchdenkt Berdjajew die griechische und spezifisch die plotinische Konzeption: "Der griechischen Philosophie fehlte eine auch nur einigermassen klare Idee von der Persönlichkeit. Bei den Stoikern finden sich gewisse Lichtspuren. Für die Kirchenväter ergaben sich hieraus beim Erschließen der Dogmen nicht geringe Schwierigkeiten. Sie mussten sehr subtile Unterscheidungen zwischen hypostasis und physis vornehmen. Gott hat eine Natur und drei Hypostasen. In Christus – eine Person und zwei Naturen. Die Gedankenwelt der Väter bewegt sich ausschließlich in den Kategorien und Vorstellungen des griechischen Denkens. Indessen musste etwas vollkommen Neues, eine neue geistige Erfahrung, die weder Platon, noch Aristoteles, noch Plotin kannten, zum Ausdruck gebracht werden. Vom Standpunkt der Weltgeschichte des Denkens aus, das sich mit dem Persönlichkeitsproblem abgab, kam eine gewaltige Bedeutung gerade der Lehre von den Hypostasen der Hl. Dreifaltigkeit zu (59). In diesem Zusammenhang interpretiert Dietrich: "Das Problem des Einen und des Vielen quälte das griechische Denken, es ist zentral bei Plotin. Wie kann man vom Einen zur Vielheit übergehen, wie ist für die Vielheit das Eine erreichbar? Gibt es für das Eine das Andere? […] Dieses Problem ist rational nicht lösbar. Es ist verbunden mit einem Paradox. Das Geheimnis Christi, das der Rationalisierung nicht unterworfen ist, ist das Geheimnis der paradoxen Vereinigung des Einen und des Vielen" (60).

Mit Hilfe weiterer Zitate Berdjajews beschließt W.Dietrich sein Kapitel "Plotin – Person und Freiheit", worin er zu zeigen versuchte, dass Plotins Denkansatz vom Einen, dem er Sympathie entgegenbringt [ebenso sieht er auch im apophatischen Weg ein wesentliches Wahrheitsmoment], in einem Monismus endet und somit nicht Berdjajews personalistischem Verständnis dessen entspricht, was er unter ‚Persönlichkeit’ versteht, weil es eben nicht zu einer Begegnung und zu einem dialogischen Kampf zwischen Gott und Mensch kommt ["Gott sehnt sich nach seinem Anderen, er hungert und dürstet danach"]. Berdjajew, der – wie gezeigt – vom Geheimnis der paradoxen Vereinigung nicht nur des Einen und der Vielen, sondern auch Gottes und des Menschen ausgeht, beharrt auf dieser Vereinigung, ‚die nicht auf die Person Jesus Christi beschränkt bleibt, sondern von ihr her sich aller Person [d.h. der ganzen Menschheit] mitteilen kann. Denn‚ Christus stellt die ganze Menschheit dar, er ist der universale Mensch in Raum und Zeit. Das Geheimnis Christi wirft ein Licht auf das Geheimnis der menschlichen Person. Die derart erhellte Person realisiert sich in der christologischen Geistigkeit, wie Berdjajew die erklärte Alternative zu Plotin nennt. ‚Die echte christliche Geistigkeit ist eine christologische, das heißt gottmenschliche Geistigkeit. Sie lässt den Menschen nicht verschwinden in einer unterschiedslosen Selbigkeit und Einheit. Sie lässt als Letztes nicht "das Eine" gelten, sondern die vereinigten Zwei" (61).

Fragen wir am Ende nach der Mitte plotinischen Denkens, so fasst V.Schubert zusammen. "Das eigentliche Zentrum plotinischer Philosophie [...] ist der Gedanke des Aufstiegs oder der Rückkehr zum Hen. Um ihn herum baut sich Plotins Philosophie auf, von ihm her schließt sich auch sein Denken auf. Der Abstieg ist nur entworfen, um den Aufstieg zu ermöglichen. Der Aufstieg nun ist bereits in diesem Leben möglich, wenn auch vorerst nur als Antizipation des vom Sinnlichen befreiten Lebens. Die endgültige Rückkehr zum "Vater" aber bleibt das eigentlich angestrebte Ziel […]. Für Plotin geht es also vor allem darum, aufzusteigen, sich vom Sinnlichen und Körperlichen loszulösen. Statt des denkerischen Nachvollzugs der gesetzmäßigen und physischen Notwendigkeit des Abstiegs ergeht nun an den Menschen die ethische Forderung, sich aufzumachen und die beim Abstieg "geschaffenen", fest umgrenzten Stufen für seine Person zu überwinden, "aufzuheben", um schließlich die erstrebte Einung mit dem Höchsten zu erreichen. Wie ist dies möglich und welchen Weg hat man dabei zu beschreiten?

Die Grundvoraussetzung hierfür liegt für Plotin in der Wesensstruktur des Menschen. Sodann bedeutet Aufsteigen weiter: die Pfade des Sinnlichen verlassen und sich vom Eros emportragen lassen; sich vom Körperlichen durch die Tugend reinigen (Katharsis) und den Weg nach innen beschreiten; im Innern aber selbst von der Seele zur Schau des Nus emporsteigen, und dann, wenn durch angestrengte intellektuelle Tätigkeit alle Andersheit und die letzte Zweiheit von Subjekt und Objekt überwunden ist, warten, bis es plötzlich gelingt, Es zu berühren und in der unio mystica mit ihm eins zu werden. Der Weg verläuft demnach von außen nach innen und von innen nach oben" (62).

Wenn wir uns in dieser Studie der Rezeption Plotins durch N.Berdjajew zugewandt haben, so bilden diese Hinweise bzw. kritischen Feststellungen Berdjajews nur einen kleinen Ausschnitt der Rezeptionsgeschichte, beschränkt auf einige Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und auf einen einzigen Denker. Dass die Wirkungsgeschichte Plotins sehr viel umfänglicher ist, beweisen nicht nur die zahlreichen Studien zu unserem Thema, sondern dies wird auch belegt durch eine zusammenfassende thematische Darstellung bei V.Schubert. Aus diesem Abschnitt hier nur einige bezeichnende Hinweise und Namen, die dies verdeutlichen. Nach Karl Jaspers ist Plotin "eine ewige Gestalt des Abendlandes", seine Wirkung reicht "von Augustinus bis Heisenberg". Schubert zeigt, dass auch die arabische Welt durch die sog. Theologie des Aristoteles mit Plotin in Berührung kam.. Es ist hier (mit V.Schubert) auch insbesondere Nikolaus von Kues zu nennen, der durch die Schriften des Proklos plotinisches Philosophieren kennen lernte. Weitere illustre Namen dürfen erwähnt werden: Marsilius Ficinus, der an der platonischen Akademie Florenz Plotin ins Lateinische übersetzte. Plotin regte die Cambridge Platonists an. Andere Leser findet Plotin in Winckelmann, Herder, Schiller, Schopenhauer, Hartmann, Croce. "Alle haben sie in ihrer Ästhetik Plotin Anregungen zu verdanken, die auf den verschiedensten Wegen zu ihnen gelangt sind" (63). Plotinische Einflüsse machen sich bei Goethe, Schelling und Hegel bemerkbar. Viele Namen müssen hier übergangen werden. Dennoch gilt: "In der asketisch-mystischen Literatur kehrt er wieder, von Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz bis hin zum Aufbau der Exerzitien des Ignatius von Loyola. Und im Prinzip sind die Dogmatiken bis heute nach diesem Schema aufgebaut" (64). Nicht in die Reihe der Asketen – den Asketismus schätzte er nicht -, aber in die Reihe der mystischen Denker gehört auch N.Berdjajew hinein. Mag er auch – ähnlich wie bei Hegel – einen monistischen Grundzug bei Plotin abgelehnt haben, dennoch treffen sich hier zwei Geistesverwandte. Unser Anliegen war es, zu zeigen, welche Impulse der jüngere Denker vom älteren Denker aufgenommen und sie fruchtbar-kritisch verwandelt hat. Eine Summe dieser Begegnung hat W.Dietrich in seinen zehn Thesen im Anschluss an Berdjajews Diskussion mit Plotin gezogen (65). Es würde ein neues Kapitel darstellen, dieses philosophische Resumée der Begegnung von "Partnern des Denkens" kritisch zu hinterfragen.

Wenn wir uns hier und da etwas vom strengen Weg der Verhältnisbestimmung Berdjajews zu Plotin entfernt haben, so konnte in der gedrängten Form eines Aufsatzes Berdjajews Beziehung zu den griechischen Idealisten – bis auf die Ausnahme von Plotin – ohnehin nicht entfaltet werden. Ansätze und Impulse zum weiterführenden Gespräch finden sich – auch im Blick auf weitere griechische Philosophen – in Fülle in dem Kapitel W.Dietrichs "Griechische Idealisten" (66). Um eine größere Vollständigkeit zu erstreben, müssten auch die griechischen philosophischen Gesprächspartner herangezogen werden.

Was das Verhältnis Berdjajews zur byzantinischen Philosophie angeht, so fasst M.P.Begzos zusammen:


"1. Die patristische Theologie hat bestimmte philosophische Voraussetzungen, die aus der altgriechischen Metaphysik stammen. Ohne Philosophie ist die Theologie undenkbar, wie letztere auch ohne die Kirche überhaupt unmöglich ist. Die Kirche als Ereignis und Erfahrung macht die christliche Theologie erst möglich. Die Philosophie aber macht die Theologie denkbar, denn es handelt sich um die vernünftige, denkerische Bearbeitung des christlichen Glaubens. Die griechische Patristik ist ein klares Beispiel dafür, dass die Theologie eine gewisse philosophische Tragweite hat, wie es N.Berdjajew zum Ausdruck gebracht hat.


2. Die patristische Theologie hat aber auch klare Konsequenzen für uns heutige Menschen. N.Berdjajew hat es schon eindeutig aufgezeigt, dass die Anthropologie in der patristischen Ära ihren entscheidenden Ausgangspunkt nimmt, wie es im Fall eines Gregors von Nyssa [sich] darstellt. Letzten Endes bedarf die Philosophie der Theologie in dem selben Maße wie die Theologie der Philosophie" (67).

Anmerkungen

*) Bei altgriechischen Begriffen wird aus Gründen der Kompatibilität neugriechische Akzentsetzung verwandt.


1) Venanz Schubert, Plotin, Freiburg 1973, S. 9. Zit. Schubert, Plotin.
2) Gerhard Huber, Das Sein und das Absolute, Basel 1955, S. 15. Zit. Huber, Das Sein und das Absolute. Vgl. dazu auch die Hinweise im Kapitel "Plotin und das dritte Jahrhundert nach Christus" bei Schubert, Plotin, S. 27-38.
3) Werner Beierwaltes, Denken des Einen, in: Denken des Einen – Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt 1985, S. 24.
4) Huber, Das Sein und das Absolute, S. 17.
5) Huber, Das Sein und das Andere, S. 18f. Vgl. dazu ergänzend das III. Kapitel "Plotins Philosophieren" (1. Der Denkansatz) bei Schubert, Plotin, S. 39-43.
6) W.Dietrich, Provokation der Person, Band 2: Partner des Denkens, Gelnhausen 1975, S. 89-96. Zit. Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2.
7) Susanne Möbuß, Plotin, Hamburg 2000, S. 8f. Zit. Möbuß, Plotin. Vgl. auch die prägnante Einführung bei Wolfgang L.Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters (Geschichte der Philosophie, Bd. IV), München 1997, S. 151-189. Zit. Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters.
8) Möbuß, Plotin, S. 9. Vgl. auch Gombocz, Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters, S. 152-157.
9) N.Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik, Waltrop 2001, S. 31. Zit. Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik. Zur Verhältnisbestimmung von Hegel zu Plotin vgl. den Abschnitt "Die Identität von Denken und Sein bei Hegel und Plotin" bei Schubert, Plotin S. 14-18. Auf die große Arbeit von Jens Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus, Bonn 1999 (Hegel-Studien, Bd. 40) kann an dieser Stelle nur verwiesen werden, ohne sie auszuwerten.
10) Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik, S. 32.
11) N.Berdjajew, Geist und Realität, Lüneburg 1949, S. 120f. Zit. Berdjajew, Geist und Realität.
12) Berdjajew, Geist und Realität, S. 144.
13) Berdjajew, Geist und Realität, S. 144f. Vgl. zum Beitrag des Nikolaus von Kues die gesammelten Aufsätze: "Nikolaus von Kues in der Geschichte des Erkenntnisproblems" (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft, Bd. 11), Mainz 1975.
14) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 89.
15) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 89.
16) N.Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, Tübingen 1927, S. 134f. Zit. Berdjajew, Der Sinn des Schaffens.
17) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 89.
18) Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik, S. 194.
19) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 90.
20) Möbuß, Plotin, S. 59.
21) Möbuß, Plotin, S. 59f.
22) Möbuß, Plotin, S. 67f.
23) Möbuß, Plotin, S. 69.
24) Möbuß, Plotin, S. 69.
25) Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, S. 324f. Vgl. hier ergänzend: Huber, Das Sein und das Absolute: "Das Eine, der absolute Ursprung aller Dinge, wird darum mit Nachdruck über alle Bestimmtheit des Seins hinausgehoben und zum Thema einer in ihrem innersten Wesen negativen 'Theologie'. Wiewohl in der Ekstase als eminent Positives unsagbar erfahren, so ist es doch als solches für das Denken schlechthin unfassbar: das Absolute kann nur in dem, was es an sich nicht ist – in seiner Relativität zu anderm, die vielmehr dessen Relativität zu ihm ist – angedeutet werden. Dieser grundsätzliche Verzicht auf eine positive philosophische Begreifung des Ursprungs ist das Ergebnis der Begegnung mit dem transzendenten Absoluten auf dem Boden der griechischen Philosophie" (S. 8).
26) Berdjajew, Geist und Realität, S. 21.
27) Berdjajew, Geist und Realität, S. 23f.
28) Berdjajew, Geist und Realität, S. 25f.
29) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 89.
30) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S.89.
31) Edgar Früchtel, Weltentwurf und Logos – Zur Metaphysik Plotins, Frankfurt 1970. Zit. Früchtel, Weltentwurf und Logos.
32) Früchtel, Weltentwurf und Logos, S. 16f.
33) Früchtel, Weltentwurf und Logos, S. 18.
34) Früchtel, Weltentwurf und Logos, S. 18f.
35) Früchtel, Weltentwurf und Logos, S. 20.
36) Früchtel, Weltentwurf und Logos, S. 20f. Vgl. dazu ergänzend: Schubert, Plotin, Kap. "Der Hervorgang des Hen" (a.a.O., S. 52-58).
37) Früchtel, Weltentwurf und Logos, S. 23.
38) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 90.
39) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 93. Vgl. auch: N.Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, Waltrop 1998, S. 100f, 134.
40) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 93.
41) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 90.
42) Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, S. 135.
43) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 91.
44) Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, S. 135.
45) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 91f.
46) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 92.
47) Huber, Das Sein und das Absolute, S. 24. Vgl. dazu auch: Schubert, Plotin, Kap. "Der Nus als Ort der Ideen und des Seins" (a.a.O., S. 58-64).
48) Huber, Das Sein und das Absolute, S. 8.
49) Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt 1998.
50) John Rist, Plotinus and Christian philosophy, in: Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge/USA 1996, S. 386-413. Zit. Rist, Plotinus and Christian philosophy.
51) Rist, Plotinus and Christian philosophy, S. 386.
52) Rist, Plotinus and Christian philosophy, S. 387.
53) Rist, Plotinus and Christian philosophy, S. 389.
54) Rist, Plotinus and Christian philosophy, S. 393.
55) Rist, Plotinus and Christian philosophy, s. 394.
56) Vgl. zum Verhältnis N.Berdjajews zu den Kirchenvätern: Berdjajew, Selbsterkenntnis- Versuch einer philosophischen Autobiographie, Darmstadt 1953, S. 177. Zit. Selbsterkenntnis. An anderer Stelle heißt es: "Um möglichst radikal sich zur Orthodoxie zu bekehren, setzte zu meiner Zeit eine besondere Vorliebe für östliche Kirchenväter ein, denen man nicht selten das zuschrieb, was bei ihnen selber nicht zu finden war. Ich habe jedoch die griechischen Kirchenväter immer weit mehr geschätzt als die westlichen und als die Scholastiker" (Selbsterkenntnis, S. 193). Zum Verhältnis Berdjajews zur griechischen Patristik vgl. auch die Kapitel "Athanasius der Grosse bei N.Berdjajew" sowie "Gregor von Nyssa bei N.Berdjajew" in: Marios P.Begzos, Nikolaj Berdjajew und die Byzantinische Philosophie, S. 3-5 bzw. 5-8. Zit. Begzos.
57) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 93.
58) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 94.
59) N.Berdjajew, Von des Menschen Knechtschaft und Freiheit, Darmstadt 1954, S. 42.
60) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 94.
61) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2 S. 95. Vgl. zur Thematik des "universalen Menschen" das Kapitel 9 "Die Offenbarung des Geistes und das Zeitalter des Geistes. Der transzendentale Mensch und der neue Mensch", in: N.Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, Waltrop 1998, S. 320-335.
62) Schubert, Plotin, S. 65f.
63) Schubert, Plotin, S. 90f.
64) Schubert, Plotin, S. 93.
65) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 95f.
66) Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, S. 71-105 (außer Plotin [S. 87ff.] noch: Platon, Aristoteles, Parmenides, Heraklit, Sokrates).
67) Vgl. Begzos, S. 8.

 

Hauptseite