Berdjajews Plotinrezeption 2

 

e) Das Verhältnis zur Mystik

Hinsichtlich seiner Haltung zur Mystik ist mit einem Berdjajew-Zitat Nachstehendes zu ergänzen: Im Zusammenhang seines Werkes "Der Sinn des Schaffen" beschäftigt sich der russische Denker im 13. Kapitel mit verschiedenen Formen der Mystik und führt aus: "Dieselbe Verneinung des Menschen und der Person [wie in der zuvor dargestellten indischen Mystik] ist auch in der neuplatonischen Mystik enthalten. Plotin verleiht der Mystik des Einigen den lebhaftesten und genialsten Ausdruck. Der Vielheit und der Individualität kommt in seiner Auffassung keine metaphysische Realität zu. Der Mensch verschwindet in der Gottheit. Die Denkweise Plotins ist der Denkweise Indiens verwandt. Es ist dieselbe Linie. ‚Der Einige, das Prinzip aller Dinge, sagt Plotin, ist ganz einfach’.- ‚Das Eine kann nicht dasselbe sein wie Alles, weil es dann nicht mehr das Eine wäre: Das Eine kann auch nicht der Geist sein, weil doch der Geist alles ist; es kann auch nicht das Sein sein, weil auch das Sein Alles ist’. Bei Plotin hat erstmalig in der europäischen religiösen Philosophie die negative, losgelöste Vorstellung des Einen, der Gottheit, genialen Ausdruck gefunden, - eine von der Welt und von jedem Sein restlos gereinigte Mystik. Das Eine ist das Nichts. Das Bewusstsein Plotins ist jener antinomischen christlichen Offenbarung entgegengesetzt, derzufolge die ganze Vielheit in dem Einen nicht erlöscht, sondern beharrt, und Gott ist nicht eine Verneinung des Menschen und des Kosmos, sondern dessen Behauptung. Plotins Mystik ist die rationalste, die am wenigsten antinomische Form der Mystik. In ihr wird die Göttlichkeit vor ihrer antinomischen Offenbarung in der kosmischen Vielheit erkannt. Aber die neuplatonische Metaphysik und Mystik vom ‚Einen’ ging in die christliche Metaphysik über. So schließt die negative Theologie, die mit Pseudo-Dionysius dem Areopagiten verbunden ist, an die neuplatonische Mystik des Einen an. Aber sowohl Plotin als auch die negative Theologie lassen – in ihrer Umkehrung – den Positivismus entstehen, da sie einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen der Vielheit dieser Welt und dem Einen der anderen Welt aufreißen. Es führen keinerlei positive Wege von unserem vielfachen und komplizierten Sein zu dem Einen und einfachen Sein hinüber; es gibt da nur den negativen Wert des Verzichts. Hiermit wird eigentlich die Unmessbarkeit von Mensch und Gott behauptet. Der Mensch gehört ganz und gar der vielfachen, unvollkommenen, gefallenen Welt an und kann nicht in die vollkommene Welt des Einen übergehen. Die neuplatonische Mystik und die mit ihr verbundene negative Theologie gehen an der christlichen Offenbarung vom Gottmenschentum, von der tiefen Verwandtschaft und der Verschmelzung der menschlichen Natur und der göttlichen Natur, einer Verschmelzung, die den Menschen im absoluten Leben nicht etwa vernichtet, sondern behauptet, vorüber. Damit wird natürlich die große Wahrheit der negativen Theologie nicht verneint: die Unanwendbarkeit, gleichviel welcher Kategorien in bezug auf die Gottheit. Aber die Wahrheit der negativen mystischen Theologie muss vor allen Dingen auf die Urgottheit, auf den uranfänglichen Ungrund bezogen werden" (25).

f) Pneuma und Nus

Im ersten Kapitel seines Werkes "Geist und Realität", überschrieben "Die Realität des Geistes – Geist und Sein", wendet sich Berdjajew der Geschichte des Geistes (Pneuma, Nus) zu und führt aus: "Die Griechen haben zwei Worte für Geist: Pneuma und Nus. Der ursprüngliche Sinn von Pneuma ist, ganz so wie von Ruach (hebräisch), Hauch, Atem. Pneuma hängt mit dem Feuer zusammen. Es ist, vor allem bei den Persern, ein Element, das der Sonne und dem Feuer, aber auch der Luft und dem Wasser ähnlich ist" (26). Hinsichtlich der Verwendung des Wortes "Nus" in der Spätantike führt Berdjajew aus. "Wir haben eben gesagt, dass die griechischen Philosophen zur Bezeichnung des Geistes das Wort Nus dem Worte Pneuma vorgezogen haben. Das intellektuelle Element wurde also als dominierendes Element des Geistes anerkannt. Das intellektuelle Prinzip beherrscht die Sinnenwelt, es ist geistig und göttlich. In der französischen Übersetzung des Plotin wird das Wort Nus mit intelligence (Intelligenz) wiedergegeben. Die Scholastik hat diese Auffassung des Geistes übernommen. Hier sind wir schon sehr weit entfernt von der alten Auffassung des Pneuma – Hauch oder Atem. Die naturalistische Auffassung des Geistes ist überwunden, aber die Objektivität der Vernunft wird auf den Geist übertragen. Für Platon und Aristoteles ist der Geist die höchste Kraft der Seele, aber diese Kraft ist vor allem Denken. Bei Plotin, der den Geist immer mit dem Worte Nus bezeichnet, ist der Geist-Intellekt eine Emanation des göttlichen Einen. Bei den Scholastikern und insbesondere beim heiligen Thomas von Aquin ist der Geist in erster Linie eine intellektuelle Kraft, die allein dem Menschen erlaubt, mit dem Sein in Kontakt zu treten. Aber das ist noch nicht die Ratio der rationalistischen modernen Philosophie. Platon betrachtete die immaterielle Welt noch nicht als geistige Welt. Die geistige Welt ist für ihn die Welt der Ideen, die den Begriffen erreichbar ist: das ist eine Welt, die Dauer hat. Nus ist ein platonischer Begriff, der mit dem Dualismus und Idealismus zusammenhängt. Pneuma ist ein stoischer Begriff, der mit dem Monismus und hylozoistischen Materialismus zusammenhängt. Das Pneuma ist Lebenskraft, der Nus ist Vernunft, ethisches Prinzip. Nus ist der göttliche Teil des Menschen. Platon hebt den geistigen Teil der Seele hervor" (27).

Nachdem Berdjajew sich noch einmal mit dem Begriffsbestimmung von Pneuma und Nus beschäftigt hat, fasst er zusammen: "Die Neuplatoniker betrachten das Pneuma erst recht als etwas Materielles, im Gegensatz zu Philo, der es als etwas Geistiges ansah. Bei der Interpretation des Nus hingegen ist eine solche Unschlüssigkeit nicht zu beobachten, ihm hat man niemals einen materiellen Charakter zugeschrieben. Die philosophische Schule von Alexandrien unterschied den universalen Logos von der menschlichen Vernunft und von der äußeren Natur. Alle Strömungen der griechischen Philosophie vereinigen sich aber in dem genialen System Plotins. Plotin gehörte nicht nur zur klassischen Philosophie, sondern auch zu jenem Griechenland, das die Brücke zweier Welten war, zu einer Epoche, in der man leidenschaftlich nach dem Geiste suchte. Der Nus – die Intelligenz, die Plotin zwischen das Eine und das Viele verlegte – bewahrt bei ihm seine ganze Reinheit. Das Böse im Menschen entsteht einzig und allein dadurch, dass dieser reine Teil der menschlichen Natur, der den Menschen mit dem Einen verbindet, in die Materie, in die kosmische Vielgestaltigkeit stürzt. Um zur Geistigkeit zu gelangen, muss man sich aus dieser Vermischung erheben, muss der höhere Teil des Menschen zu seiner ursprünglichen Reinheit zurückgeführt werden. Aber in seiner Auffassung des Geistes folgt Plotin dem griechischen Intellektualismus. Bei ihm findet sich keine Spur von Magie, die bei den anderen Neuplatonikern (Jamblichos, Proklos u.a.m.) Eingang gefunden hat. Das geistige Leben des Griechen gründete sich auf die Harmonie mit dem Kosmos. Das geistige Leben des mittelalterlichen Menschen wird sich auf die Harmonie mit Gott gründen. Aber die Verbundenheit des Neuplatonikers mit dem Kosmos ist nicht mehr ganz harmonisch. Daher dringt der Geist in die geschlossene Welt des kosmischen Lebens ein. Der Synkretismus der Gnostiker führt zu einer Vermischung verschiedener Welten und Mythen. Für die Gnostiker ist das Pneuma geistig und materiell; kosmische Kräfte beherrschen den Geist des Menschen; erst durch das Christentum wird er befreit. Der Geist ist eine feine Materie: Und doch sind die Gnostiker extreme Spiritualisten" (28). Dies war eine geistige Richtung, die N.Berdjajew recht nahe lag, da er von seinem Wesen her auch ein gnostischer Denker war. Auf die genauere Begriffsbestimmung von Pneuma und Nus soll ausführlicher noch im Exkurs über das Eine eingegangen werden.

g) Plotin im Kontext des philosophischen Denkens Berdjajews und der Gedanke des Einen

Nehmen wir zunächst den Faden der Interpretation W.Dietrichs wieder auf und folgen seinen Anregungen: "Urverwandt dem Einen und ‚makellos’ bleibt lediglich ein Element im Menschen: "der Nus, der Intellekt, der bei Plotin zwischen dem Einen und dem Vielen steht" (29). Und Dietrich ergänzt mit einem weiteren Zitat: "Bei Plotin" – wie überhaupt im griechischen Denken, "in der idealistischen Philosophie – wird das intellektuelle Element als das vorzüglich geistige anerkannt, es verdrängt das Element des Herzens, das seelisch-emotionale Element" (30). Um die sehr schwierigen Verhältnisbestimmungen bezüglich des Einen (hen) und den damit zusammenhängenden Begriffen des Logos bzw. des Nus einer besseren Klärung zuzuführen, bedienen wir uns der prägnanten Ausführungen in E.Früchtels Werk "Weltentwurf und Logos" – Zur Metaphysik Plotins (31).

Exkurs: Das hen [das Eine] und der Logos [Nus] bzw. das Pneuma

Wir zitieren: "Urgrund alles Seins ist bei Plotin das Hen, das in seiner absoluten Jenseitigkeit für den Geist nicht zu begreifen ist. Nur auf dem Wege der Negation können überhaupt Aussagen über das Hen gemacht werden. Dadurch kann man jedoch nur eine Vorstellung davon erwecken, was das Hen nicht ist. Alle Aussagen über das Hen müssen daher eingeschränkt werden durch ein oion (οίον)*): es ist mit den endlichen Begriffen nur analog zu begreifen. Dieser Urgrund ist schlechterdings rein das, was es ist. Doch ist dabei das ‚ist’ wiederum nur endlich gedacht, denn dieses "ist" entzieht sich dem Sein; will man es begreifen, ist es ein Nichtsein, denn es verharrt als επέκεινα πάντων in seiner absoluten Transzendenz und Integrität. In seinem überseienden Selbst ist es existierend als Ursprung allen Seins und damit jenseits von Geist, Leben und Denken in einer unerfasslichen Übervernünftigkeit. In aktualer Sicht ist das Hen αρχή πάντων, Prinzip und Ursprung allen Seins.

Beide Sichten ergeben jene Fragestellung, die eine Aporie aufzuzeigen scheint. Warum nämlich blieb das Hen nicht Hen, warum trat das Hen aus seinem überseienden Sein heraus, um αρχή πάντων zu werden, lautet die quaestio vexata Plotins. Im eigentlichen Sinn gibt es vom Einen auch für den Menschen kein Wissen: erfahrbar ist es für den Menschen nur auf dem Wege der unio mystica; doch auch dabei erhält der Mensch keine Erkenntnis. Vielmehr gilt es dabei, alles erkennende Denken gering zu achten und alles von sich ferne zu halten. Seinem Wesen nach bleibt das Eine ein schlechthinniges άρρητον... Dennoch versucht Plotin, dieses Eine als Grund und zugleich Ziel metaphysischen Denkens zu erweisen. Bild und Gleichnis sind dabei seine Mittel. Doch führt Plotin auch über den Weg des Aufstiegs zum Einen" (32). Plotin kann das Hen wiederum mit dem Guten als dem Urprinzip der Prinzipien identifizieren. "Denn jenes Prinzip der Dinge, das Quelle für Sein und Warum der Dinge ist, hat sein eigenes Sein, das identisch mit der eigenen Seinsheit aus sich ist. Wesenheit und Seinsheit fallen in diesem Prinzip zusammen und tragen in sich die Existenzursache dieses Seins, die Dinge haben das Sein erst aus jenem Prinzip. Da alle Archai auf einer höheren Seinsstufe stehen als die Seienden, deren Prinzipien sie sind, so muss das höchste der Prinzipien, weil es Prinzip der Prinzipien ist, nicht nur Prinzip sein, sondern mehr: es ist das Eine, der Urgrund alles Seins. Wenn schon bei allen Seienden, die die Ursache ihres Seins in sich haben, jegliches Akzidenz ausgeschlossen ist, so gilt dies in höherem Grade für das oberste Prinzip. Das Eine ist daher Vater des Logos, der Usia und der Ursache. Dieses Eine ist dabei von sich und um seinetwillen eigentlicher als eigentlich – es selbst. Trotz dieser Vaterschaft des Einen wird seine Integrität gewahrt. Die Vaterschaft wird nicht aus dem Einen selbst ermittelt: über die Frage nach den Prinzipien führt Plotin auf das Eine, welches seinerseits Ursache und Ursprung der obersten geistigen Formkraft, des Logos ist. Dieser Logos erst gibt die Möglichkeit, aus seinem Sein auf das Überseiende zu schließen. Aus seinem Sein für anderes wird das Eine – modern gesagt – der Horizont plotinischen Denkens" (33). Früchtel bezeichnet das Eine als eine Hypostase, die weder im Unbeseelten noch im Leben ohne Vernunft besteht, er schließt Zufälligkeit und Zerstreuung des Logos ebenso vom Einen aus wie Unbestimmtheit und Unbegrenztheit. Wir finden im Einen nicht den Logos, sondern die Wurzel des Logos. E.Früchtel legt Wert darauf, dass – sehr antinomisch – die unbegrenzte Transzendenz des Einen gewahrt werden muss, aber dennoch eine immanente Wirkung des Einen besteht. Darauf folgt: "So ist das Eine zugleich das Umfassen und damit das Maß alles Seienden. Nichts ist außer ihm, alles ist in ihm: und dennoch ist das Andere außerhalb des Einen, das Eine selbst ist drinnen in der Tiefe: Es ist Wesenheit und Eigentlichkeit des Alls, untastbar in seiner Selbigkeit" (34).

Dies wird ausführlich mit dem Bild des Kreises, das später wieder von dem Plotin-Schüler Proklos aufgenommen wird, demonstriert, wobei wir hier auf Früchtels Ausführungen verweisen müssen (S. 19f). Festzuhalten bleibt: Das Eine als Mittelpunkt ist Vater von Peripherie und Radien. Dies Äußere aber ist Logos und Nus. Nus und Logos sind dabei in Eines gedacht und das Hen als einheitliches Umgreifendes wird in diese Momente des eigenen Seins entfaltet. Zitieren wir noch einmal Früchtel: "Menschliches Denken kann zwar das Eine zum Thema haben, das Wesen des Einen bleibt jedoch diesem Denken entzogen. So wird das Eine zum Horizont des plotinischen Denkens und bestimmt daher die plotinische Denkrichtung: Plotin bedenkt das Eine, da er es nicht denkend erfassen kann" (35). Von daher sind wir auf die absolute Undenkbarkeit des Einen verwiesen bzw. es tritt – mit Früchtel – "nur in der untersten Dimension an die Sphäre des Denkbaren und Denkmöglichen heran". Das Selbst des Einen verbleibt also jenseits des Geistes und jenseits des Geistigen. "Dennoch darf man das Eine nicht etwa dem Nichts gleichsetzen, weil wir über das Eine und seine Existenz nichts ausmachen können. Plotin hat die Gewissheit von der Existenz des Einen wie ein Gottbegeisterter, wenn er auch klagen muss, dass wir nur aus den Wirkungen des Einen hinterher über dieses etwas auszusagen haben. Wenn wir den reinen Geist haben, so empfangen wir als Offenbarung, dass dieser der innere Nus ist, welcher Wesenheit und alles andere dieser Reihe Zugehörige dargibt, während er selbst nicht ist, was wir seiend nennen, sondern Höheres. Es ist mehr und größer als wir aussagen können, da es selbst stärker ist als Logos, Geist und Wahrnehmung, was dieser Gott, das Eine, darreicht, es aber nicht selber ist (36).

Beschließen wir unseren Exkurs über das plotinische Eine mit dem Hinweis darauf, dass das Eine zunächst einmal "Prinzip des Nus, des Geistes und damit der ersten Vielheit, die alle Logoi umfasst", ist (Früchtel): Als solches ist es mit dem Weltplanlogos gleichgesetzt. Weiter ist zu ergänzen: "Der Geist, der im Einen sein Wesen hat, wobei dieses Eine jenseits des Geistes verharrt, sagt über sein eigenes Zentrum aus. Dieses Zentrum, dem Mittelpunkt des Kreises vergleichbar, ist Prinzip des Geistes, der dem Range nach mit der Peripherie eines solchen Kreises verglichen werden kann. Das Eine aber verharrt in sich, ist durch sich selbst das, was es ist. Dass das Eine trotz seiner Ungeschiedenheit ohne dass es auf ein anderes gerichtet ist – also auch nicht auf den Geist – dennoch Prinzip – eben des Geistes – ist, das ist das geheimnisvolle Dilemma plotinischer Philosophie" (37).

Ergänzend zu dem von E.Früchtel über das Eine Dargestellten fügen wir die Interpretation W.Dietrichs an, der Berdjajews Gedanken aufnimmt und auch im Sinne Früchtels darstellt: "Das souveräne Eine selber endlich, das durch Lossagung, durch Abstraktion von der vielfältigen Welt erreicht wird und auf das sich alle Bewegung bezieht, transzendiert auch den Nus: es ist 'Über-Sein' und Über-Vernunft, es lässt sich nur negativ oder uneigentlich umschreiben als positives 'Nichts', als reine Seinsmächtigkeit, als unausdrückbare Tiefe, als Macht des Entzugs" (38). Differenzen werden sichtbar. Dietrich konstatiert: "Freilich differenziert sich das Verhältnis beider Denker im Blick auf das Eine als das Übersein. Der apophatische Weg, der zum Plotin'schen Zentrum führt, weist für Berdjajew auch auf ein Wahrheitsmoment. Ist nämlich die Absage der 'Apophatik' gegen alle Formen des 'Objektivierten' und des Entstellten – auch im Denken – gerichtet, so übt sie eine klärende und reinigende Funktion bis hinein in die Theologie. 'Plotin war der erste Philosoph der mittelmeerischen kulturellen Welt, der mit größter Kraft die Wahrheit der negativen Gotteserkenntnis ausdrückte'. Er schon 'lehrte, dass auf Gott selbst der Begriff des Seins nicht anwendbar ist, dass Gott Übersein ist, – Gott ist das Nichts, wenn Sein etwas ist'. Insofern 'hängt die christliche apophatische Theologie von Plotin ab', und Berdjajew erkennt ihr gegenüber den verhängnisvoll objektivierenden Zügen kataphatischer Theologie einen entschiedenen Vorzug zu. Die bejahte Apophatik wird ihm Weg von der Notwendigkeit zur Freiheit, von der Entfremdung zum Ursprung, von der Objektivation zur personalen Existenz" (39). Wir finden dennoch an der Konzeption Plotins die Kritik, die Berdjajew an anderer Stelle in ihrer Tendenz schon Hegel gegenüber äußerte: "Aber die Apophatik verliert ihren positiven Sinn, sobald sie mit dem Objektivierten auch der personalen Existenz entsagt. Die absolute Apophatik, wie Plotin sie vertritt, entzieht um einer fernen und unzugänglichen Einheit willen Gott, der Welt und dem Menschen ihr lebendiges Herz. Die absolute Absage vernichtet den Absagenden und seine Kraft des Absagens selbst: 'Der Mensch verschwindet in der Gottheit' (Der Sinn des Schaffens, S. 324), er zersetzt sich in der Mystik des Negativen" (40).

An dieser Stelle spart Berdjajew als streng personalistischer Denker gegenüber Plotin freilich nicht mit Kritik, sie [die plotinischen Gedanken] "regen Berdjajew zum mitgehenden und gegengerichteten Denken an. Das gegengerichtete Denken überwiegt; denn so sehr Berdjajew in Plotin ein scharfes Empfinden des Seins-Schmerzens spürt, ein bohrendes Fragen nach dem Bösen und dessen Ursprung und mehr noch das Sehnen nach Erlösung und heilem Sein, so verhängnisvoll erscheinen ihm die letzten Antworten und Lösungen, die der antike Antipode gibt" (41). Berdjajews Kritik setzt schon beim Emanationsgedanken ein, wie er ihn in "Der Sinn des Schaffens" (S. 134f, A. 11) vorgetragen hat. W.Dietrich fasst die Bedenken des russischen Philosophen zusammen. "Die Emanation des Einen, dem göttliche Qualität beigelegt wird, überwogt die Person". Diesem Emanationsgedanken setzt Berdjajew den Gedanken des Schaffens gegenüber. "Im echten Schaffen wird nichts geringer, alles nimmt nur zu, so wie auch bei der göttlichen Schaffung der Welt infolge ihres Übergangs in die Welt nichts geringer wird, vielmehr nimmt sie an neuer Macht zu, die bisher nicht da war. Das pantheistische Emanations-Gottesbewusstsein muss folgerichtig in seiner extremen Form den Menschen verneinen. Damit wird natürlich keineswegs die teilweise Wahrheit des Pantheismus, die auch in das theistische Gottesbewusstsein hineingehört, verneint. Der Gedanke von Gott übersteigt jene Antinomien, die aus dem Gedanken von der Welt in deren Verhältnis zu Gott entstehen. Denn gleich wahr sind die antinomischen Thesen: die Welt ist in Gott, und die Welt ist außerhalb Gottes, Gott ist der Welt transzendent, und Gott ist der Welt immanent" (42). W.Dietrich kommentiert: "so bedeutet das Schaffen Zunahme, Mehrung, Hervorbringung des Neuen […]. Während das Emanationsbewusstsein das Schaffen des Menschen in der Welt verneint und ersterben lässt, ruft das Bewusstsein vom Schöpfertum Gottes das schöpferische Tun des Menschen hervor" (43).

Berdjajew bedauert es, dass dieser von ihm mit so viel Vehemenz vertretene Ruf zum Schaffen vom Emanationsbewusstsein unterdrückt worden ist, und er sieht im materialistischen Evolutionismus "eine seltsame Verwandtschaft mit der Emanationslehre, obwohl in der Emanation alles nach Maßgabe der Entfernung von Gott schlechter, in der Evolution aber alles besser wird" (44). Was ist für Berdjajew das Ergebnis dieser Bewegung? "Jedenfalls sieht Berdjajew den aus der Höhe kommenden, totalen Bewegungsfluss zur Begrifflichkeit jener theologischen Systeme erstarrt, in denen Gott hinter der Maske des Menschen und der Welt mit sich ein Spiel treibt, sich zum einzigen Gegenüber wird und damit zum Gefangenen seiner Selbst: "Ungeachtet aller Komplikationen, die das Christentum hereingebracht hat, sind die offiziellen rationalen Systeme der christlichen Theologie genauso monistisch wie das System Plotins, in ihnen bewegt sich ebenso alles ausschließlich von oben nach unten. Dann spielt der allmächtige und allwissende Gott mit sich selbst, erhält Antwort auf seinen Anruf nicht vom anderen, sondern von sich selbst. Es gibt kein Begegnen Zweier, keinen dialogischen Kampf. Bei solcher Auffassung muss unausweichlich das Böse determiniert sein von Gott; Gott ist die Erstursache des Bösen. Er ist die Erstursache von allem, außer Gott wirken in der Welt nur sekundäre und abgeleitete Ursachen. Das irrationale Geheimnis verschwindet" (45). Dietrich kommentiert diese Ausführungen Berdjajews: "Wenn so Plotin in das Christentum eindringt, wenn Gott als Ursache begriffen wird, 'verwandelt sich die göttliche Tragödie in eine göttliche Komödie'. Tragödie bleibt die Gotteslehre nur, wenn Gott als Freiheit begriffen wird. ‚Gott ist Freiheit, aber nicht Ursache’, lautet die Endformel der Kritik an Plotins Emanationslehre" (46). Berdjajew sieht bei Plotin "die Quelle des Bösen nicht im Geist, sondern in der Materie, in den Niederungen des Seins". Anders sieht es Berdjajew selbst: "Nicht in der Materie ist die Quelle des Bösen […], sondern im Geist selbst". Stets kommt es Berdjajew – gegenüber Plotin – darauf an, die Liebe nicht als ausschließlich geistige zu sehen, "die keinerlei seelisches Element in sich schließt". Dies erscheint ihm als eine Entstellung der Liebe. "Eine solche Liebe ist völlig unpersönlich und unmenschlich". Wie Berdjajew dies auch schon in anderem Zusammenhang beim monistischen System Hegels kritisiert hast, so sagt er auch hier: "Es gibt bei Plotin nicht das Geheimnis der Person", damit gibt es auch nicht das Geheimnis der Liebe. Er erkennt, dass dieses Verständnis dem evangelischen, gottmenschlichen Verständnis der Liebe widerspricht.

h) Der Nus und der Logos

Da auch Nus und Logos zu den plotinischen Zentralbegriffen gehören, soll ihnen unser Schlusskapitel gewidmet sein. Wir folgen in unserer Interpretation zunächst wieder den sehr erhellenden Ausführungen E.Früchtels, um dann in einem Ausblick mit Hilfe W.Dietrichs die Konzeptionen Plotins und Berdjajews noch einmal im christlichen Kontext gegenüber zu stellen.

E.Früchtel sieht bei Plotin als zweite Hypostase den Nus, den absoluten Geist. "Dass alles, was ist, aus dem Hen als dem schlechthin Jenseitigen, seinen Ursprung hat, ist für Plotin unbezweifelbar. Diese Gegebenheit an sich ist nicht mehr hinterfragbar. Eine Platonstelle ist der Ausgangspunkt für die plotinische Erklärung der Hypostasierung des Nus. Platon erklärt, Gott wollte dem Geschaffenen Anteil an seiner Güte geben und führte daher alles Sichtbare, das sich nicht in Ruhe befand, sondern sich ungeordnet hin und her bewegte, zur Ordnung aus dem Zustand der Unordnung. Plotin nimmt diesen platonischen Gedanken auf. Die Güte des Einen und die ihm innewohnende Allmacht und Vollkommenheit ist der Grund für die Hypostasierung des Nus. In einem Analogieschluss erklärt denn auch Plotin den Grund für diesen Vorgang: Jedes andere Wesen zeugt, wenn es zur Reife kommt und dieses Zeugen geschieht auch bei solchen Wesen, die ohne Vorsatz ihre Zeugungskraft bestätigen, wie könnte dann das Vollkommenste, das erste Gute, bei sich verharren, als ob es ein Teilnehmen an seinem Wesen anderen missgönnte oder nicht dazu fähig wäre, obwohl es doch das Vermögen alles Seienden ist? Wie sollte es dann 'Urgrund', und 'beherrschendes Woher', 'Prinzip' sein? Es muss also auch aus ihm etwas entstehen, soll überhaupt etwas sein. Denn notwendigerweise haben alle anderen Seienden die Möglichkeit ins Sein zu treten nur von ihm, dem Urgrund. Das Entstehen selbst kann jedoch nur an Vergleichen erläutert werden: So, wie die Sonne ihre Strahlen aussendet und Licht gibt ohne ihr eigenes Sein zu vermindern, so gibt das Eine die Existenz den Seienden nach ihm. Im Akte der Verwirklichung des Prinzipseins des Einen, der zum ewigen zeitlosen Wesen des Einen gehört, ist somit der Nus je und je aus Notwendigkeit schon vorhanden. Das Eine bleibt dabei in seiner Selbigkeit, als das schlechthin Transzendente, das dennoch die μεγάλη αρχή ist (47).

G.Huber bringt schon in seinen einleitenden Bemerkungen das zentrale Anliegen des griechischen Denkers vor: "Die Transzendenz des Ursprungs scheint bei Plotin in gesteigerter, dem früheren Griechentum so vielleicht nicht bekannter Intensität erfahren. Das Eine, der absolute Ursprung aller Dinge, wird darum mit Nachdruck über alle Bestimmtheit des Seins hinausgehoben und zum Thema einer in ihrem innersten Wesen negativen 'Theologie'. Wiewohl in der Ekstase als eminent Positives unsagbar erfahren, ist es doch als solches für das Denken schlechthin unfassbar: das Absolute kann nur in dem, was es an sich nicht ist – in seiner Relativität zu anderen, die vielmehr dessen Relativität zu ihm ist – angedeutet werden. Dieser grundsätzliche Verzicht auf eine positive philosophische Begreifung des Ursprungs ist das Ergebnis der Begegnung mit dem transzendenten Absoluten auf dem Boden der griechischen Philosophie" (48). Wie sich die geistige Entwicklung Plotins und der Spätantike bis zu Augustin und darüber hinaus vollzieht, wird von G.Huber (a.a.O., S. 9ff.) deutlich skizziert, wobei nach Huber ‚das Maß der Originalität Plotins […] überhaupt im Dunkel' liegt“ (a.a.O., S. 9).

 

Schluss