Berdjajews
Plotinrezeption 2
e) Das Verhältnis zur Mystik
Hinsichtlich
seiner Haltung zur Mystik ist mit einem Berdjajew-Zitat Nachstehendes zu
ergänzen: Im Zusammenhang seines Werkes "Der Sinn des Schaffen" beschäftigt
sich der russische Denker im 13. Kapitel mit verschiedenen Formen der Mystik
und führt aus: "Dieselbe Verneinung des Menschen und der Person [wie in
der zuvor dargestellten indischen Mystik] ist auch in der neuplatonischen
Mystik enthalten. Plotin verleiht der Mystik des Einigen den lebhaftesten und
genialsten Ausdruck. Der Vielheit und der Individualität kommt in seiner
Auffassung keine metaphysische Realität zu. Der Mensch verschwindet in der
Gottheit. Die Denkweise Plotins ist der Denkweise Indiens verwandt. Es ist
dieselbe Linie. ‚Der Einige, das Prinzip aller Dinge, sagt Plotin, ist ganz
einfach’.- ‚Das Eine kann nicht dasselbe sein wie Alles, weil es dann nicht
mehr das Eine wäre: Das Eine kann auch nicht der Geist sein, weil doch der Geist
alles ist; es kann auch nicht das Sein sein, weil auch das Sein Alles ist’. Bei
Plotin hat erstmalig in der europäischen religiösen Philosophie die negative,
losgelöste Vorstellung des Einen, der Gottheit, genialen Ausdruck gefunden, -
eine von der Welt und von jedem Sein restlos gereinigte Mystik. Das Eine ist
das Nichts. Das Bewusstsein Plotins ist jener antinomischen christlichen
Offenbarung entgegengesetzt, derzufolge die ganze Vielheit in dem Einen nicht
erlöscht, sondern beharrt, und Gott ist nicht eine Verneinung des Menschen und
des Kosmos, sondern dessen Behauptung. Plotins Mystik ist die rationalste, die
am wenigsten antinomische Form der Mystik. In ihr wird die Göttlichkeit vor
ihrer antinomischen Offenbarung in der kosmischen Vielheit erkannt. Aber die
neuplatonische Metaphysik und Mystik vom ‚Einen’ ging in die christliche
Metaphysik über. So schließt die negative Theologie, die mit Pseudo-Dionysius
dem Areopagiten verbunden ist, an die neuplatonische Mystik des Einen an. Aber
sowohl Plotin als auch die negative Theologie lassen – in ihrer Umkehrung – den
Positivismus entstehen, da sie einen unüberbrückbaren Abgrund zwischen der
Vielheit dieser Welt und dem Einen der anderen Welt aufreißen. Es führen
keinerlei positive Wege von unserem vielfachen und komplizierten Sein zu dem
Einen und einfachen Sein hinüber; es gibt da nur den negativen Wert des
Verzichts. Hiermit wird eigentlich die Unmessbarkeit von Mensch und Gott
behauptet. Der Mensch gehört ganz und gar der vielfachen, unvollkommenen, gefallenen
Welt an und kann nicht in die vollkommene Welt des Einen übergehen. Die
neuplatonische Mystik und die mit ihr verbundene negative Theologie gehen an
der christlichen Offenbarung vom Gottmenschentum, von der tiefen Verwandtschaft
und der Verschmelzung der menschlichen Natur und der göttlichen Natur, einer
Verschmelzung, die den Menschen im absoluten Leben nicht etwa vernichtet,
sondern behauptet, vorüber. Damit wird natürlich die große Wahrheit der
negativen Theologie nicht verneint: die Unanwendbarkeit, gleichviel welcher
Kategorien in bezug auf die Gottheit. Aber die Wahrheit der negativen
mystischen Theologie muss vor allen Dingen auf die Urgottheit, auf den
uranfänglichen Ungrund bezogen werden" (25).
f) Pneuma und Nus
Im
ersten Kapitel seines Werkes "Geist und Realität", überschrieben
"Die Realität des Geistes – Geist und Sein", wendet sich Berdjajew
der Geschichte des Geistes (Pneuma, Nus) zu und führt aus: "Die Griechen
haben zwei Worte für Geist: Pneuma und Nus. Der ursprüngliche Sinn von Pneuma ist,
ganz so wie von Ruach (hebräisch), Hauch, Atem. Pneuma hängt mit dem
Feuer zusammen. Es ist, vor allem bei den Persern, ein Element, das der Sonne
und dem Feuer, aber auch der Luft und dem Wasser ähnlich ist" (26).
Hinsichtlich der Verwendung des Wortes "Nus" in der Spätantike führt
Berdjajew aus. "Wir haben eben gesagt, dass die griechischen Philosophen
zur Bezeichnung des Geistes das Wort Nus dem Worte Pneuma vorgezogen
haben. Das intellektuelle Element wurde also als dominierendes Element des
Geistes anerkannt. Das intellektuelle Prinzip beherrscht die Sinnenwelt, es ist
geistig und göttlich. In der französischen Übersetzung des Plotin wird das Wort
Nus mit intelligence (Intelligenz) wiedergegeben. Die Scholastik
hat diese Auffassung des Geistes übernommen. Hier sind wir schon sehr weit
entfernt von der alten Auffassung des Pneuma – Hauch oder Atem. Die
naturalistische Auffassung des Geistes ist überwunden, aber die Objektivität
der Vernunft wird auf den Geist übertragen. Für Platon und Aristoteles ist der
Geist die höchste Kraft der Seele, aber diese Kraft ist vor allem Denken. Bei
Plotin, der den Geist immer mit dem Worte Nus bezeichnet, ist der
Geist-Intellekt eine Emanation des göttlichen Einen. Bei den Scholastikern und
insbesondere beim heiligen Thomas von Aquin ist der Geist in erster Linie eine
intellektuelle Kraft, die allein dem Menschen erlaubt, mit dem Sein in Kontakt
zu treten. Aber das ist noch nicht die Ratio der rationalistischen modernen
Philosophie. Platon betrachtete die immaterielle Welt noch nicht als geistige
Welt. Die geistige Welt ist für ihn die Welt der Ideen, die den Begriffen
erreichbar ist: das ist eine Welt, die Dauer hat. Nus ist ein
platonischer Begriff, der mit dem Dualismus und Idealismus zusammenhängt.
Pneuma ist ein stoischer Begriff, der mit dem Monismus und hylozoistischen
Materialismus zusammenhängt. Das Pneuma ist Lebenskraft, der Nus ist Vernunft,
ethisches Prinzip. Nus ist der göttliche Teil des Menschen. Platon hebt den
geistigen Teil der Seele hervor" (27).
Nachdem
Berdjajew sich noch einmal mit dem Begriffsbestimmung von Pneuma und Nus
beschäftigt hat, fasst er zusammen: "Die Neuplatoniker betrachten das
Pneuma erst recht als etwas Materielles, im Gegensatz zu Philo, der es als
etwas Geistiges ansah. Bei der Interpretation des Nus hingegen ist eine solche
Unschlüssigkeit nicht zu beobachten, ihm hat man niemals einen materiellen
Charakter zugeschrieben. Die philosophische Schule von Alexandrien unterschied
den universalen Logos von der menschlichen Vernunft und von der äußeren Natur.
Alle Strömungen der griechischen Philosophie vereinigen sich aber in dem
genialen System Plotins. Plotin gehörte nicht nur zur klassischen Philosophie,
sondern auch zu jenem Griechenland, das die Brücke zweier Welten war, zu einer
Epoche, in der man leidenschaftlich nach dem Geiste suchte. Der Nus – die
Intelligenz, die Plotin zwischen das Eine und das Viele verlegte – bewahrt bei
ihm seine ganze Reinheit. Das Böse im Menschen entsteht einzig und allein
dadurch, dass dieser reine Teil der menschlichen Natur, der den Menschen mit
dem Einen verbindet, in die Materie, in die kosmische Vielgestaltigkeit stürzt.
Um zur Geistigkeit zu gelangen, muss man sich aus dieser Vermischung erheben,
muss der höhere Teil des Menschen zu seiner ursprünglichen Reinheit
zurückgeführt werden. Aber in seiner Auffassung des Geistes folgt Plotin dem
griechischen Intellektualismus. Bei ihm findet sich keine Spur von Magie, die
bei den anderen Neuplatonikern (Jamblichos, Proklos u.a.m.) Eingang gefunden
hat. Das geistige Leben des Griechen gründete sich auf die Harmonie mit dem
Kosmos. Das geistige Leben des mittelalterlichen Menschen wird sich auf die
Harmonie mit Gott gründen. Aber die Verbundenheit des Neuplatonikers mit dem
Kosmos ist nicht mehr ganz harmonisch. Daher dringt der Geist in die
geschlossene Welt des kosmischen Lebens ein. Der Synkretismus der Gnostiker
führt zu einer Vermischung verschiedener Welten und Mythen. Für die Gnostiker
ist das Pneuma geistig und materiell; kosmische Kräfte beherrschen den Geist
des Menschen; erst durch das Christentum wird er befreit. Der Geist ist eine
feine Materie: Und doch sind die Gnostiker extreme Spiritualisten" (28).
Dies war eine geistige Richtung, die N.Berdjajew recht nahe lag, da er von
seinem Wesen her auch ein gnostischer Denker war. Auf die genauere
Begriffsbestimmung von Pneuma und Nus soll ausführlicher noch im
Exkurs über das Eine eingegangen werden.
g) Plotin im Kontext des philosophischen Denkens
Berdjajews und der Gedanke des Einen
Nehmen
wir zunächst den Faden der Interpretation W.Dietrichs wieder auf und folgen
seinen Anregungen: "Urverwandt dem Einen und ‚makellos’ bleibt lediglich
ein Element im Menschen: "der Nus, der Intellekt, der bei Plotin
zwischen dem Einen und dem Vielen steht" (29). Und Dietrich ergänzt mit
einem weiteren Zitat: "Bei Plotin" – wie überhaupt im griechischen
Denken, "in der idealistischen Philosophie – wird das intellektuelle
Element als das vorzüglich geistige anerkannt, es verdrängt das Element des
Herzens, das seelisch-emotionale Element" (30). Um die sehr schwierigen
Verhältnisbestimmungen bezüglich des Einen (hen) und den damit
zusammenhängenden Begriffen des Logos bzw. des Nus einer besseren
Klärung zuzuführen, bedienen wir uns der prägnanten Ausführungen in E.Früchtels
Werk "Weltentwurf und Logos" – Zur Metaphysik Plotins (31).
Exkurs: Das hen [das Eine] und der Logos [Nus] bzw.
das Pneuma
Wir
zitieren: "Urgrund alles Seins ist bei Plotin das Hen, das in seiner
absoluten Jenseitigkeit für den Geist nicht zu begreifen ist. Nur auf dem Wege
der Negation können überhaupt Aussagen über das Hen gemacht werden. Dadurch
kann man jedoch nur eine Vorstellung davon erwecken, was das Hen nicht ist.
Alle Aussagen über das Hen müssen daher eingeschränkt werden durch ein oion (οίον)*): es ist mit den endlichen Begriffen nur analog zu
begreifen. Dieser Urgrund ist schlechterdings rein das, was es ist. Doch ist
dabei das ‚ist’ wiederum nur endlich gedacht, denn dieses "ist"
entzieht sich dem Sein; will man es begreifen, ist es ein Nichtsein, denn es
verharrt als επέκεινα πάντων in seiner
absoluten Transzendenz und Integrität. In seinem überseienden Selbst ist es
existierend als Ursprung allen Seins und damit jenseits von Geist, Leben und
Denken in einer unerfasslichen Übervernünftigkeit. In aktualer Sicht ist das
Hen αρχή
πάντων, Prinzip und Ursprung allen Seins.
Beide
Sichten ergeben jene Fragestellung, die eine Aporie aufzuzeigen scheint. Warum
nämlich blieb das Hen nicht Hen, warum trat das Hen aus seinem überseienden
Sein heraus, um αρχή πάντων zu werden, lautet
die quaestio vexata Plotins. Im eigentlichen Sinn gibt es vom Einen auch für
den Menschen kein Wissen: erfahrbar ist es für den Menschen nur auf dem Wege
der unio mystica; doch auch dabei erhält der Mensch keine Erkenntnis. Vielmehr
gilt es dabei, alles erkennende Denken gering zu achten und alles von sich
ferne zu halten. Seinem Wesen nach bleibt das Eine ein schlechthinniges άρρητον... Dennoch versucht Plotin, dieses Eine als Grund und
zugleich Ziel metaphysischen Denkens zu erweisen. Bild und Gleichnis sind dabei
seine Mittel. Doch führt Plotin auch über den Weg des Aufstiegs zum Einen"
(32). Plotin kann das Hen wiederum mit dem Guten als dem Urprinzip der
Prinzipien identifizieren. "Denn jenes Prinzip der Dinge, das Quelle für
Sein und Warum der Dinge ist, hat sein eigenes Sein, das identisch mit der
eigenen Seinsheit aus sich ist. Wesenheit und Seinsheit fallen in diesem
Prinzip zusammen und tragen in sich die Existenzursache dieses Seins, die Dinge
haben das Sein erst aus jenem Prinzip. Da alle Archai auf einer höheren
Seinsstufe stehen als die Seienden, deren Prinzipien sie sind, so muss das
höchste der Prinzipien, weil es Prinzip der Prinzipien ist, nicht nur Prinzip
sein, sondern mehr: es ist das Eine, der Urgrund alles Seins. Wenn schon bei
allen Seienden, die die Ursache ihres Seins in sich haben, jegliches Akzidenz
ausgeschlossen ist, so gilt dies in höherem Grade für das oberste Prinzip. Das
Eine ist daher Vater des Logos, der Usia und der Ursache. Dieses Eine ist dabei
von sich und um seinetwillen eigentlicher als eigentlich – es selbst. Trotz
dieser Vaterschaft des Einen wird seine Integrität gewahrt. Die Vaterschaft
wird nicht aus dem Einen selbst ermittelt: über die Frage nach den Prinzipien
führt Plotin auf das Eine, welches seinerseits Ursache und Ursprung der
obersten geistigen Formkraft, des Logos ist. Dieser Logos erst gibt die
Möglichkeit, aus seinem Sein auf das Überseiende zu schließen. Aus seinem Sein
für anderes wird das Eine – modern gesagt – der Horizont plotinischen
Denkens" (33). Früchtel bezeichnet das Eine als eine Hypostase, die weder
im Unbeseelten noch im Leben ohne Vernunft besteht, er schließt Zufälligkeit
und Zerstreuung des Logos ebenso vom Einen aus wie Unbestimmtheit und
Unbegrenztheit. Wir finden im Einen nicht den Logos, sondern die Wurzel des
Logos. E.Früchtel legt Wert darauf, dass – sehr antinomisch – die unbegrenzte
Transzendenz des Einen gewahrt werden muss, aber dennoch eine immanente Wirkung
des Einen besteht. Darauf folgt: "So ist das Eine zugleich das Umfassen
und damit das Maß alles Seienden. Nichts ist außer ihm, alles ist in ihm: und
dennoch ist das Andere außerhalb des Einen, das Eine selbst ist drinnen in der
Tiefe: Es ist Wesenheit und Eigentlichkeit des Alls, untastbar in seiner Selbigkeit"
(34).
Dies
wird ausführlich mit dem Bild des Kreises, das später wieder von dem
Plotin-Schüler Proklos aufgenommen wird, demonstriert, wobei wir hier auf
Früchtels Ausführungen verweisen müssen (S. 19f). Festzuhalten bleibt: Das Eine
als Mittelpunkt ist Vater von Peripherie und Radien. Dies Äußere aber ist Logos
und Nus. Nus und Logos sind dabei in Eines gedacht und das Hen als
einheitliches Umgreifendes wird in diese Momente des eigenen Seins entfaltet.
Zitieren wir noch einmal Früchtel: "Menschliches Denken kann zwar das Eine
zum Thema haben, das Wesen des Einen bleibt jedoch diesem Denken entzogen. So
wird das Eine zum Horizont des plotinischen Denkens und bestimmt daher die
plotinische Denkrichtung: Plotin bedenkt das Eine, da er es nicht denkend
erfassen kann" (35). Von daher sind wir auf die absolute Undenkbarkeit des
Einen verwiesen bzw. es tritt – mit Früchtel – "nur in der untersten
Dimension an die Sphäre des Denkbaren und Denkmöglichen heran". Das Selbst
des Einen verbleibt also jenseits des Geistes und jenseits des Geistigen.
"Dennoch darf man das Eine nicht etwa dem Nichts gleichsetzen, weil wir
über das Eine und seine Existenz nichts ausmachen können. Plotin hat die
Gewissheit von der Existenz des Einen wie ein Gottbegeisterter, wenn er auch
klagen muss, dass wir nur aus den Wirkungen des Einen hinterher über dieses
etwas auszusagen haben. Wenn wir den reinen Geist haben, so empfangen wir als
Offenbarung, dass dieser der innere Nus ist, welcher Wesenheit und alles andere
dieser Reihe Zugehörige dargibt, während er selbst nicht ist, was wir seiend
nennen, sondern Höheres. Es ist mehr und größer als wir aussagen können, da es
selbst stärker ist als Logos, Geist und Wahrnehmung, was dieser Gott, das Eine,
darreicht, es aber nicht selber ist (36).
Beschließen
wir unseren Exkurs über das plotinische Eine mit dem Hinweis darauf, dass das
Eine zunächst einmal "Prinzip des Nus, des Geistes und damit der ersten
Vielheit, die alle Logoi umfasst", ist (Früchtel): Als solches ist es mit
dem Weltplanlogos gleichgesetzt. Weiter ist zu ergänzen: "Der Geist, der
im Einen sein Wesen hat, wobei dieses Eine jenseits des Geistes verharrt, sagt
über sein eigenes Zentrum aus. Dieses Zentrum, dem Mittelpunkt des Kreises
vergleichbar, ist Prinzip des Geistes, der dem Range nach mit der Peripherie
eines solchen Kreises verglichen werden kann. Das Eine aber verharrt in sich,
ist durch sich selbst das, was es ist. Dass das Eine trotz seiner
Ungeschiedenheit ohne dass es auf ein anderes gerichtet ist – also auch nicht auf
den Geist – dennoch Prinzip – eben des Geistes – ist, das ist das
geheimnisvolle Dilemma plotinischer Philosophie" (37).
Ergänzend
zu dem von E.Früchtel über das Eine Dargestellten fügen wir die
Interpretation W.Dietrichs an, der Berdjajews Gedanken aufnimmt und auch im
Sinne Früchtels darstellt: "Das souveräne Eine selber endlich, das durch
Lossagung, durch Abstraktion von der vielfältigen Welt erreicht wird und auf
das sich alle Bewegung bezieht, transzendiert auch den Nus: es ist 'Über-Sein'
und Über-Vernunft, es lässt sich nur negativ oder uneigentlich umschreiben als
positives 'Nichts', als reine Seinsmächtigkeit, als unausdrückbare Tiefe, als
Macht des Entzugs" (38). Differenzen werden sichtbar. Dietrich
konstatiert: "Freilich differenziert sich das Verhältnis beider Denker im
Blick auf das Eine als das Übersein. Der apophatische Weg, der zum
Plotin'schen Zentrum führt, weist für Berdjajew auch auf ein Wahrheitsmoment.
Ist nämlich die Absage der 'Apophatik' gegen alle Formen des 'Objektivierten'
und des Entstellten – auch im Denken – gerichtet, so übt sie eine klärende und
reinigende Funktion bis hinein in die Theologie. 'Plotin war der erste
Philosoph der mittelmeerischen kulturellen Welt, der mit größter Kraft die
Wahrheit der negativen Gotteserkenntnis ausdrückte'. Er schon 'lehrte, dass
auf Gott selbst der Begriff des Seins nicht anwendbar ist, dass Gott Übersein
ist, – Gott ist das Nichts, wenn Sein etwas ist'. Insofern 'hängt die
christliche apophatische Theologie von Plotin ab', und Berdjajew erkennt ihr
gegenüber den verhängnisvoll objektivierenden Zügen kataphatischer Theologie
einen entschiedenen Vorzug zu. Die bejahte Apophatik wird ihm Weg von der
Notwendigkeit zur Freiheit, von der Entfremdung zum Ursprung, von der
Objektivation zur personalen Existenz" (39). Wir finden dennoch an der
Konzeption Plotins die Kritik, die Berdjajew an anderer Stelle in ihrer Tendenz
schon Hegel gegenüber äußerte: "Aber die Apophatik verliert ihren
positiven Sinn, sobald sie mit dem Objektivierten auch der personalen Existenz
entsagt. Die absolute Apophatik, wie Plotin sie vertritt, entzieht um
einer fernen und unzugänglichen Einheit willen Gott, der Welt und dem Menschen
ihr lebendiges Herz. Die absolute Absage vernichtet den Absagenden und seine
Kraft des Absagens selbst: 'Der Mensch verschwindet in der Gottheit' (Der Sinn
des Schaffens, S. 324), er zersetzt sich in der Mystik des Negativen"
(40).
An
dieser Stelle spart Berdjajew als streng personalistischer Denker gegenüber
Plotin freilich nicht mit Kritik, sie [die plotinischen Gedanken] "regen
Berdjajew zum mitgehenden und gegengerichteten Denken an. Das gegengerichtete
Denken überwiegt; denn so sehr Berdjajew in Plotin ein scharfes Empfinden
des Seins-Schmerzens spürt, ein bohrendes Fragen nach dem Bösen und
dessen Ursprung und mehr noch das Sehnen nach Erlösung und heilem Sein,
so verhängnisvoll erscheinen ihm die letzten Antworten und Lösungen, die der
antike Antipode gibt" (41). Berdjajews Kritik setzt schon beim
Emanationsgedanken ein, wie er ihn in "Der Sinn des Schaffens" (S.
134f, A. 11) vorgetragen hat. W.Dietrich fasst die Bedenken des russischen
Philosophen zusammen. "Die Emanation des Einen, dem göttliche Qualität
beigelegt wird, überwogt die Person". Diesem Emanationsgedanken setzt Berdjajew
den Gedanken des Schaffens gegenüber. "Im echten Schaffen wird nichts
geringer, alles nimmt nur zu, so wie auch bei der göttlichen Schaffung der Welt
infolge ihres Übergangs in die Welt nichts geringer wird, vielmehr nimmt sie an
neuer Macht zu, die bisher nicht da war. Das pantheistische
Emanations-Gottesbewusstsein muss folgerichtig in seiner extremen Form den
Menschen verneinen. Damit wird natürlich keineswegs die teilweise Wahrheit des
Pantheismus, die auch in das theistische Gottesbewusstsein hineingehört, verneint.
Der Gedanke von Gott übersteigt jene Antinomien, die aus dem Gedanken von der
Welt in deren Verhältnis zu Gott entstehen. Denn gleich wahr sind die
antinomischen Thesen: die Welt ist in Gott, und die Welt ist außerhalb Gottes,
Gott ist der Welt transzendent, und Gott ist der Welt immanent" (42).
W.Dietrich kommentiert: "so bedeutet das Schaffen Zunahme, Mehrung,
Hervorbringung des Neuen […]. Während das Emanationsbewusstsein das Schaffen
des Menschen in der Welt verneint und ersterben lässt, ruft das Bewusstsein vom
Schöpfertum Gottes das schöpferische Tun des Menschen hervor" (43).
Berdjajew
bedauert es, dass dieser von ihm mit so viel Vehemenz vertretene Ruf zum
Schaffen vom Emanationsbewusstsein unterdrückt worden ist, und er sieht im
materialistischen Evolutionismus "eine seltsame Verwandtschaft mit der
Emanationslehre, obwohl in der Emanation alles nach Maßgabe der Entfernung von
Gott schlechter, in der Evolution aber alles besser wird" (44). Was ist
für Berdjajew das Ergebnis dieser Bewegung? "Jedenfalls sieht Berdjajew
den aus der Höhe kommenden, totalen Bewegungsfluss zur Begrifflichkeit jener
theologischen Systeme erstarrt, in denen Gott hinter der Maske des Menschen und
der Welt mit sich ein Spiel treibt, sich zum einzigen Gegenüber wird und damit
zum Gefangenen seiner Selbst: "Ungeachtet aller Komplikationen, die das
Christentum hereingebracht hat, sind die offiziellen rationalen Systeme der
christlichen Theologie genauso monistisch wie das System Plotins, in ihnen
bewegt sich ebenso alles ausschließlich von oben nach unten. Dann spielt der
allmächtige und allwissende Gott mit sich selbst, erhält Antwort auf seinen
Anruf nicht vom anderen, sondern von sich selbst. Es gibt kein Begegnen Zweier,
keinen dialogischen Kampf. Bei solcher Auffassung muss unausweichlich das Böse
determiniert sein von Gott; Gott ist die Erstursache des Bösen. Er ist die
Erstursache von allem, außer Gott wirken in der Welt nur sekundäre und
abgeleitete Ursachen. Das irrationale Geheimnis verschwindet" (45).
Dietrich kommentiert diese Ausführungen Berdjajews: "Wenn so Plotin in das
Christentum eindringt, wenn Gott als Ursache begriffen wird, 'verwandelt
sich die göttliche Tragödie in eine göttliche Komödie'. Tragödie
bleibt die Gotteslehre nur, wenn Gott als Freiheit begriffen wird. ‚Gott
ist Freiheit, aber nicht Ursache’, lautet die Endformel der Kritik an Plotins
Emanationslehre" (46). Berdjajew sieht bei Plotin "die Quelle des
Bösen nicht im Geist, sondern in der Materie, in den Niederungen des
Seins". Anders sieht es Berdjajew selbst: "Nicht in der Materie ist
die Quelle des Bösen […], sondern im Geist selbst". Stets kommt es
Berdjajew – gegenüber Plotin – darauf an, die Liebe nicht als ausschließlich
geistige zu sehen, "die keinerlei seelisches Element in sich
schließt". Dies erscheint ihm als eine Entstellung der Liebe. "Eine
solche Liebe ist völlig unpersönlich und unmenschlich". Wie Berdjajew dies
auch schon in anderem Zusammenhang beim monistischen System Hegels kritisiert
hast, so sagt er auch hier: "Es gibt bei Plotin nicht das Geheimnis der
Person", damit gibt es auch nicht das Geheimnis der Liebe. Er erkennt,
dass dieses Verständnis dem evangelischen, gottmenschlichen Verständnis der
Liebe widerspricht.
h) Der Nus und der Logos
Da
auch Nus und Logos zu den plotinischen Zentralbegriffen gehören, soll ihnen
unser Schlusskapitel gewidmet sein. Wir folgen in unserer Interpretation
zunächst wieder den sehr erhellenden Ausführungen E.Früchtels, um dann in einem
Ausblick mit Hilfe W.Dietrichs die Konzeptionen Plotins und Berdjajews noch
einmal im christlichen Kontext gegenüber zu stellen.
E.Früchtel
sieht bei Plotin als zweite Hypostase den Nus, den absoluten Geist. "Dass
alles, was ist, aus dem Hen als dem schlechthin Jenseitigen, seinen Ursprung
hat, ist für Plotin unbezweifelbar. Diese Gegebenheit an sich ist nicht mehr
hinterfragbar. Eine Platonstelle ist der Ausgangspunkt für die plotinische
Erklärung der Hypostasierung des Nus. Platon erklärt, Gott wollte dem
Geschaffenen Anteil an seiner Güte geben und führte daher alles Sichtbare, das
sich nicht in Ruhe befand, sondern sich ungeordnet hin und her bewegte, zur
Ordnung aus dem Zustand der Unordnung. Plotin nimmt diesen platonischen
Gedanken auf. Die Güte des Einen und die ihm innewohnende Allmacht und
Vollkommenheit ist der Grund für die Hypostasierung des Nus. In einem
Analogieschluss erklärt denn auch Plotin den Grund für diesen Vorgang: Jedes
andere Wesen zeugt, wenn es zur Reife kommt und dieses Zeugen geschieht auch
bei solchen Wesen, die ohne Vorsatz ihre Zeugungskraft bestätigen, wie könnte
dann das Vollkommenste, das erste Gute, bei sich verharren, als ob es ein
Teilnehmen an seinem Wesen anderen missgönnte oder nicht dazu fähig wäre,
obwohl es doch das Vermögen alles Seienden ist? Wie sollte es dann 'Urgrund', und
'beherrschendes Woher', 'Prinzip' sein? Es muss also auch aus ihm etwas
entstehen, soll überhaupt etwas sein. Denn notwendigerweise haben alle anderen
Seienden die Möglichkeit ins Sein zu treten nur von ihm, dem Urgrund. Das
Entstehen selbst kann jedoch nur an Vergleichen erläutert werden: So, wie die
Sonne ihre Strahlen aussendet und Licht gibt ohne ihr eigenes Sein zu
vermindern, so gibt das Eine die Existenz den Seienden nach ihm. Im Akte der
Verwirklichung des Prinzipseins des Einen, der zum ewigen zeitlosen Wesen des
Einen gehört, ist somit der Nus je und je aus Notwendigkeit schon vorhanden.
Das Eine bleibt dabei in seiner Selbigkeit, als das schlechthin Transzendente,
das dennoch die μεγάλη αρχή ist (47).
G.Huber
bringt schon in seinen einleitenden Bemerkungen das zentrale Anliegen des
griechischen Denkers vor: "Die Transzendenz des Ursprungs scheint bei
Plotin in gesteigerter, dem früheren Griechentum so vielleicht nicht
bekannter Intensität erfahren. Das Eine, der absolute Ursprung aller Dinge,
wird darum mit Nachdruck über alle Bestimmtheit des Seins hinausgehoben und zum
Thema einer in ihrem innersten Wesen negativen 'Theologie'. Wiewohl in der
Ekstase als eminent Positives unsagbar erfahren, ist es doch als solches für
das Denken schlechthin unfassbar: das Absolute kann nur in dem, was es an sich
nicht ist – in seiner Relativität zu anderen, die vielmehr dessen Relativität
zu ihm ist – angedeutet werden. Dieser grundsätzliche Verzicht auf eine
positive philosophische Begreifung des Ursprungs ist das Ergebnis der Begegnung
mit dem transzendenten Absoluten auf dem Boden der griechischen
Philosophie" (48). Wie sich die geistige Entwicklung Plotins und der
Spätantike bis zu Augustin und darüber hinaus vollzieht, wird von G.Huber
(a.a.O., S. 9ff.) deutlich skizziert, wobei nach Huber ‚das Maß der Originalität
Plotins […] überhaupt im Dunkel' liegt“ (a.a.O., S. 9).