Offenbarung 3
N.Berdjajew
und A.J.Heschel – eine Entsprechung christlichen und jüdischen Denkens
Berdjajew sieht, dass sich
beide Seiten, beide "Partner", in einer gott-menschlichen
Zusammengehörigkeit aufeinander zu bewegen: "Die Idee Mensch ist die
erhabenste Idee Gottes. Der Mensch wartet auf die Geburt Gottes in ihm selber,
Gott wartet auf die Geburt des Menschen in Ihm selber". Berdjajew betont
diese Sicht, dass es zu einer "existentiellen Dialektik des Göttlichen und
des Menschlichen"19) kommen müsse, zu einem Beziehungsgeschehen, in dem es
so etwas wie ein "Aufeinanderangewiesensein" gibt.
Bevor wir uns der Konzeption
A.J.Heschels zuwenden, soll die von Berdjajew und anderen vertretene Sicht des
Aufeinanderverwiesenseins von Gott und Mensch von einer neohinduistischen
Stimme und damit aus einem ganz anderen, uns weithin fremden Kulturkreis
ergänzt werden. Sri Aurobindo führt aus: "Universum und Individuum
brauchen einander zu ihrem Aufstieg. Tatsächlich existieren sie immer
füreinander und haben voneinander ihren Nutzen. Das Universum ist eine
Ausbreitung des göttlichen Alls in die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Das
Individuum ist dessen Konzentration innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit.
Das Universum sucht in unendlicher Ausdehnung nach der göttlichen Totalität,
die zu sein es fühlt, ohne sie völlig verwirklichen zu können"20).
Mit ähnlicher Blickrichtung
kann der jüdische Religionsphilosoph und Mystiker Abraham Joshua Heschel
formulieren: "Es ist wahr, dass Er selber uns hilft, wenn wir Ihn suchen.
Aber die Initiative und die Intensität unseres Suchens liegt in unserer eigenen
Macht"21). Und an anderer Stelle sagt er: "Gott wartet darauf, dass
der Mensch ihn sucht. ‚Der Herr schaut vom Himmel auf die Menschenkinder, zu
sehen, ob es einen Verständigen gibt, der Ihn sucht’ (Ps 14,2). Wir müssen
unablässig bemüht sein umzukehren, nach Ihm zu fragen, Ihn zu suchen. Es ist
ein außergewöhnlicher Akt göttlicher Gnade, dass Menschen, die nicht nach Ihm
gefragt haben, plötzlich entdecken, dass sie Ihm nahe sind"22). Heschel
ordnet dieses tastende oder auch ungewisse Suchen des Menschen, das wiederum –
dialektisch betrachtet – ein stetes Suchen Gottes nach dem Menschen ist, ein in
die "Begegnung mit dem Unbekannten", indem er diese Begegnung
phänomenologisch so beschreibt: "Das Mysterium weckt unsere religiöse
Aufmerksamkeit, und vom Mysterium her muss unser religiöses Denken seinen
Ausgang nehmen. Die traditionelle Weise, über Gott nachzudenken, war ‚via
eminentia’, der Weg vom Bekannten zum Unbekannten. Unser Ausgangspunkt ist
nicht das Bekannte, das Endliche, das Gesetzmäßige, sondern das Unbekannte
innerhalb des Bekannten, das Unendliche im Endliche, das Mysterium mitten im
Gesetzmäßigen.“
An dieser Stelle könnte man
einmal die beunruhigende Frage stellen, die bis jetzt noch keine befriedigende
Antwort gefunden hat, warum Gott darauf wartet, dass der Mensch ihn sucht. Ist
es nur das liebende Werben um sein Geschöpf, das seit Ewigkeit in der Trinität
zu ihm gehört, ist es das Sehnen des Schöpfers danach – wie Berdjajew es sieht
– einen adäquaten Partner im Prozess des Schaffens zu finden? Zwei plausible
Antworten haben wir damit gefunden. Ein dritter, von ferne an Hegel erinnernder
Erklärungsversuch findet sich bei Sri Aurobindo: Das Sein "existiert in sich
selbst und hängt bezüglich seines Daseins nicht von seinen Manifestationen ab.
Diese repräsentieren es hier, erschöpfen es aber nicht. Sie weisen auf es hin,
enthüllen es aber nicht. Dieses Sein ist innerhalb ihrer Gestaltungen nur sich
selbst gegenüber offenbar. Das in die Formen involvierte bewusste Sein gelangt
bei seiner Evolution zur Erkenntnis seiner selbst durch Intuition, Selbst-Schau
und Selbst-Erfahrung. Es wird in der Welt es selbst, indem es sich selbst
erkennt. Es erkennt sich selbst, indem es selbst [indem es in sein ‚Anderes’
eingeht und in die Verkörperungen des Endlichen] wird"23).
"Alles schöpferische
Denken kommt aus einer Begegnung mit dem Unbekannten", [psychologisch
gesprochen: aus dem Unbewussten, das in uns ist, uns aber auch wie eine
unendliches Feld umgibt und wo wir nicht mehr von einer Trennung von ‚Innen’
und ‚Außen’ sprechen können]. Wir haben kein Interesse an einer Erforschung des
Bekannten, es sei denn, wir entdecken plötzlich, dass das, was wir als längst
bekannt ansahen, in Wahrheit ein Rätsel ist. Daher muss der Geist aus dem
Gehäuse des Wissens heraustreten, um zu spüren, was uns zum Wissen hindrängt.
Wenn wir aber wieder anfangen, die Wirklichkeit unserem Denken anzupassen, dann
kehrt der Geist in sein Schneckenhaus zurück. Wissen ist nicht nur eine Frucht
des Denkens. Nur extreme Rationalisten oder Solipsisten könnten behaupten,
Wissen käme ausschließlich durch die Kombination von Begriffen zustande. Jede
echte Begegnung mit der Wirklichkeit ist eine Begegnung mit dem Unbekannten,
ist intuitive Wahrnehmung des Objekts, ist rudimentäres vorbegriffliches
Wissen. In der Tat ist kein Objekt wirklich bekannt, wenn es nicht zuvor in
seiner Unbekanntheit erfahren wurde. Es ist eine tief bedeutsame Tatsache, dass
wir mehr fühlen, als wir aussprechen können. Wenn wir vor der Großartigkeit der
Welt stehen, dann erscheint jede Formulierung unserer Gedanken blass und
dürftig. Alles schöpferische Denken beginnt mit dem Innewerden, dass das
Geheimnis, dem wir gegenüberstehen, unvergleichlich tiefer ist als alles, was
wir kennen".24)
Zunächst einmal ist es nach
A.J.Heschel das vorbegriffliche Denken, das der Verbegrifflichung als der
Symbolisierung vorangeht, weil lebendige Begegnung mit der Wirklichkeit sich
auf einer Ebene abspielt, die vor der Begriffswerdung liegt. Für den Bereich
der Religionsphilosophie muss deshalb festgehalten werden: Innere Erkenntnis im
Sinne eines Widerfahrnisses, einer "geistigen Erfahrung" (Berdjajew)
wird stets erst im "Nachher" zur Sprache gebracht, weil wir
"Transzendenz", die uns als "Immanenz" widerfährt, auch
nicht "begreifen", sondern ihrer zunächst einmal inne werden. So wird
auch das Vorbeiziehen Jahwes im Moment des Geschehens nicht wahrgenommen,
sondern erst im Nachhinein erkannt und in seiner Tiefe und Bedeutsamkeit
erfahren, weil wir "Gottes Angesicht nicht schauen können ohne zu
sterben" (1 Kön 19,12). So ist die Verhüllung die Weise seiner
Offenbarung, die erlittene Vernichtung, das "Zu-nichts-werden" die
Empfindung, die sich beim Menschen einstellt, als ihn die Präsenz Jahwes
überwältigt. Jes 6,5: ‚Wehe mir, ich vergehe. Denn ich bin ein Mann mit
unreinen Lippen und wohne inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen; und nun
habe ich den Herrn der Heerscharen mit meinen Augen gesehen!’, so ruft erschüttert
und bestürzt der Prophet Jesaja, als er berufen wird. Doch der Prophet bleibt
nicht bei der erlittenen Erfahrung der "Selbst-Vernichtung" stehen,
sondern nimmt seine Beauftragung an. Seine Niedergedrücktheit wandelt sich aus
der Passivität– um mit Berdjajews Interpretationsmuster zu sprechen – in eine
konstruktiv-schöpferische Dimension hinein, in eine positive Transformation des
Bewusstseins.
So würden wir auch diesen,
dem Propheten widerfahrenen Prozess des "Sterbens" und des
"Wiederauferstehens" im dialektischen Sinne betrachten, wie etwa
K.Nishitani in seiner Interpretation von Meister Eckehart
"Nichts-Erfahrung" sagen konnte: Das subjektive Selbst-Gewahrwerden
des Menschen „zeigt sich in der Ansicht Eckharts, dass das Gewahrwerden seiner
selbst als absolute Bejahung hervortrete, die jedoch allein durch absolute
Negation entstehe“ (S. 125). Nur die völlige Negation (bei Meister Eckhart: die
Abgeschiedenheit) lässt im Menschen die Subjektivität des "unkreatürlichen
bin" erscheinen. In diesem bin bzw. Ich bin
sind Unkreatürlichkeit [d.h. der Unendlichkeitsaspekt] und Kreatürlichkeit [der
Endlichkeitsaspekt] eins. "Im Leben sind Ewigkeit und Zeitlichkeit ein
lebendiges Eines" (Nishitani, a.a.O., S. 124). Diese recht schwer
verständliche Ineinssetzung von Unkreatürlichkeit und kreatürlichem Sein
spricht Jesus Christus im Johannesevangelium aus: "Wahrlich, wahrlich ich
sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich" (Joh 8,58). Hier ist die
ewige, innertrinitarische Beziehung des Sohnes zum Vater [‚Ich bin, der ich
bin’, 2 Mose 3,14] zum Ausdruck gebracht und Selbstausdruck des Sohnes, der
sich mit dem Vater identisch weiß, aufgenommen.
Den Gedanken von A.J.Heschel
weiter folgend, halten wir fest: Heschel hat die Anwesenheit Gottes in der
Welt, die nicht wahrgenommen wird, weil die Erkenntnisorgane gleichsam in einem
Tiefschlaf liegen, so beschrieben, dass der Mensch blind und taub für das
Wunder der Präsenz der göttlichen Herrlichkeit ist: "Wir entziehen uns dem
Staunen, wir verweigern die Antwort auf die Präsenz. Das ist unser aller
Tragödie: ‚Wir verdunkeln jedes Wunder durch Gleichgültigkeit’. Leben ist
Routine, und Routine ist Widerstand gegen das Wunder. ‚Voll ist die Welt von
göttlichem Glanz, voll von erhabenen und wunderbaren Geheimnissen. Aber eine
kleine Hand, über das Auge gelegt, verdeckt alles’, sagt Baal Schem ... Die
Wunder sind täglich um uns, und dennoch ‚wird das Wunder nicht von dem erkannt,
der es erfährt’. Es handelt sich nicht um eine physische Wahrnehmung. ‚Was
nützt ein offenes Auge, wenn das Herz blind ist?’. Man kann viele Dinge sehen,
ohne sie wahrzunehmen – ‚sein Ohr ist geöffnet, aber er hört nicht’ (Jes
42,20).25)
Hören wir neben A.J.Heschel
noch eine weitere Stimme aus jüdischer Sicht, in der die Gott-Mensch-Beziehung
noch einmal neu beleuchtet wird. Die französische Philosophin Simone Weil führt
in ihrem Text "Die Gottesliebe und das Unglück" über die Beziehung
Gottes zum Menschen aus: "Es kommt der Tag, wo die Seele Gott gehört, wo
sie nicht mehr nur in die Liebe einwilligt, sondern wo sie wahrhaft und
tatsächlich liebt. Dann muss sie ihrerseits das All durchqueren, um zu Gott zu
gelangen. Die Seele liebt nicht wie ein Geschöpf mit einer erschaffenen Liebe.
Diese Liebe in ihr ist göttlich, unerschaffen, denn es ist die Liebe Gottes zu Gott,
die durch sie hindurchgeht. Nur Gott ist fähig, Gott zu lieben. Wir können nur
unsere Einwilligung geben, aller Eigengefühle ledig zu werden, damit diese
Liebe ungehindert durch unsere Seele hindurchgehen kann. Das heißt sich selbst
verneinen. Nur dieser Einwilligung wegen sind wir erschaffen"26).
Es musste erst derjenige
"Prophet" kommen, der liebend die Organe zur Wahrnehmung der
göttlichen Nähe aus ihrem Tiefschlaf weckt und heilt. "Der Geist des Herrn
ist über mir, weil er mich gesalbt hat, damit ich den Armen die frohe Botschaft
bringe; er hat mich gesandt, um den Gefangenen die Freilassung und den Blinden
die Verleihung des Augenlichts zu verkünden" (Lk 4,18).
Aber diese Worte sind – wie
alle Worte Jesu von Nazareth – nicht nur Mitteilungen "über" etwas,
sondern mit ihnen verbindet sich so etwas wie eine Neuschaffung von
Wirklichkeit in denen, die die Worte hören, denn der "göttliche
Logos" redet sie an. Wer von diesem Wort getroffen wird, bleibt nicht, der
er vorher war, weil diese Worte so wirkkräftig sind, dass sie bis ins Innerste
der Seele dringen, wenn sie sich selber ein "neues Hören" verschafft
haben. Ja, sie verschaffen sich nicht nur ein neues Sehen, Hören und Verstehen,
sondern dringen durch bis hin zu Lazarus, der schon im Tode lag (vgl. Joh
11,1-44).
Der Philosoph Kurt Hübner hat
dieses Ereignis des Wortes Jesu Christi, das eine neue Schöpfung ins Leben
bringt, in die Formulierung gefasst: Der Sinn „des christlich verstandenen
Logos in Jesu Worten liegt also darin, dass er durch sie göttliche Wirklichkeit
innerhalb unmittelbar fassbarer, existentiell-menschlicher Wirklichkeiten
offenbart; und zwar nicht so, dass er über sie in Form einer
theoretischen Beschreibung oder Erklärung spricht (oder gar schreibt), sondern
so, dass er diese Wirklichkeiten selbst im Hörenden unmittelbar wachruft
und entstehen lässt, womit sie im gesprochenen Wort eine mythische Anwesenheit
und Gegenwart gewinnen, an welcher der Hörende teilhat, weil er sich hiervon
durchdrungen fühlt. Auch hier ist also im Sinne des christlichen Logos das Wort
zugleich die Wirklichkeit, die es meint, ist es Schöpfung von Wirklichkeit und
nicht deren wie auch immer zu verstehende ‚Abbildung’ oder eine
‚Übereinstimmung mit ihr’, wie es der metaphysische Logos in seiner Scheidung
von gegebenem Objekt und es beschreibendem, erklärendem Subjekt auffasst“.27)
Insofern interpretiert
K.Hübner die Reaktion der Zuhörer auf die Worte Jesu Christi nicht nur so, dass
man sich verwunderte und staunte (so die Vulgata-Übersetzung), sondern wie es der
griechische Urtext nahe legt: " ...während im griechischen exepléssanto
außer dem Entsetzen auch das Erschrecken, das Erschüttertsein mitschwingt,
also jene Gestimmtheiten, welche die Erfahrung des Numinosen als majestas und
tremendum begleiten"28). Die Zuhörer sind nicht mehr außerhalb des
Geschehens geblieben, sondern die gehörten Worte haben sie in ihrer Numinosität
so ergriffen, dass ihr Ergriffensein so etwas wie eine Existenzumwandlung mit
sich bringt. Es war so etwas wie eine paulinische Wandlungserfahrung, die –
potentiell – jedem Menschen widerfahren kann, doch sind es in der Regel eher
die nach dem Geist Hungernden (im Sinne der Bergpredigt), denen
"Gerechtigkeit" und Sättigung widerfährt. Berdjajew hat es einmal so
ausgedrückt: "Die Offenbarung setzt ein Heranreifen der menschlichen Natur
für die Aufnahme der Offenbarung voraus, setzt geistiges Hungern und Dürsten
des Menschen voraus, ein Suchen des Menschen nach der höheren Welt, bitterste
Unzufriedenheit mit der niederen Welt. Das göttliche Leben erschließt sich
mittelst einer doppelten Bewegung, einer Bewegung in zwei Naturen, der
göttlichen und menschlichen, durch Wandlung des Bewusstseins, hervorgerufen
durch eine Bewegung von oben und von unten her, die Wirkung göttlicher Gnade
und menschlicher Freiheit voraussetzt. Das Phänomen der Offenbarung hat das
Phänomen des Glaubens zu seiner Kehrseite. Offenbarung ist ohne das Ereignis
der geistigen Erfahrung des Menschen, das wir Glauben zu nennen pflegen,
unmöglich, wie auch der Glaube unmöglich ist ohne jenes Ereignis der geistigen
Welt, das wir Offenbarung nennen. Der real-gegenständliche Glaube setzt
Offenbarung voraus, eine Bewegung aus der göttlichen Welt, aber die Offenbarung
kann in die Welt eingehen, weil ihr der Glaube als ein Ereignis des geistigen
Lebens des Menschen entgegenkommt"29).
Stets wird der
"prophetische Geist" denen vorbehalten, die Gott sich dafür
ausersehen hat. Wenn auch – so sagt es der johanneische Christus – das Reich
Gottes nicht von dieser Welt ist, wenn es auch kein natürliches,
objektivierbares Reich ist, weil in dieser Welt die "anderen Welten"
nur symbolisch und nicht real-objektivierbar erfassbar sind, so gilt dennoch
die Aussage N.Berdjajews: "Zugleich aber verwirklicht sich das Reich
Gottes in jedem Augenblick des Lebens" (Philosophie des freien Geistes, S.
107) – ebenso, wie jeder Augenblick der Ewigkeit gleich nahe steht und von ihr
erfüllt ist. Doch diese Ewigkeitsdimension – weder der Zeit noch des jeweiligen
Augenblicks – kann anschaulich nicht demonstriert werden.