Offenbarung 2

 

 

Da wir im Zusammenhang dieser Studie auch an A.J.Heschel, den bedeutenden jüdischen Religionsphilosophen erinnern werden, so sei in unserem Zusammenhang, wo wir vom "Leer-werden" Gottes und vom "Nichts" in Gott gesprochen haben, auch die Vorstellung G.Scholems aufgenommen, der sich auf die kabbalistische Spekulation des Isaak Luria bezieht und seine Idee vom Zimzum, an die in unserem Jahrhundert Hans Jonas mit seinem Text "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" (Frankfurt 1987) wieder erinnert hat, Gedanken, die leider hier aus räumlichen Gründen nicht referiert werden können. Konzentrieren wir uns auf die kabbalistische Sicht. "Das hebräische Wort Zimzum bedeutet wörtlich ‚Kontraktion’. Es ist damit eine Konzentration des göttlichen Wesens auf sich selbst gemeint, ein Hinabsteigen in seine eigenen Tiefen, eine Verschränkung seines Wesens in sich selber, das allein, nach dieser Auffassung, den Inhalt einer möglichen Schöpfung aus Nichts darstellen kann. Nur wo Gott sich ‚von sich selbst auf sich selbst’ zurückzieht (wie die von vielen Kabbalisten gebrauchte Formel lautet), kann er etwas hervorrufen, was nicht göttlichen Wesens und göttlichen Seins selber ist. Es gibt also in diesem Sinne einen Akt, in dem Gott etwas von sich selbst, und sei es auch nur gewissermaßen von einem Punkte seines Wesens, zurückzieht. Solcher ‚Punkt’ im göttlichen Sein, auf den sich dieser Akt bezieht, wäre der wahre mystische Urraum aller Schöpfung und aller Weltprozesse ... In der Idee des Zimzum haben wir einen unendlich kühnen Ausdruck für diese tiefe Bewegtheit in der Gottheit selbst [die damit einen Punkt des "Nichts" und damit zugleich auch der ‚Freiheit’ in sich setzt und sich ihr unterwirft]".10)

 

An anderer Stelle formuliert Scholem: "Der erste aller Akte [in dem Gott ins Exil geht] ist also kein Akt der Offenbarung, sondern ein Akt der Verhüllung und Einschränkung. Erst im zweiten Akt tritt nun Gott mit einem Strahl seiner Wesenheit aus sich hinaus und beginnt seine Offenbarung oder seine Entfaltung als Schöpfergott in jenem Urraum, den er in sich selbst geschaffen hat. Ja nicht nur dies, vielmehr findet auch vor jedem weiteren Akt der Emanation und Manifestation Gottes ein neuer Akt der Konzentration und Verhüllung statt. Mit anderen Worten: der Weltprozess ist nun zweigleisig geworden. Jede Stufe des Schöpfungsprozesses enthält in sich eine Spannung zwischen dem in Gott selbst zurückflutenden Licht und dem aus ihm herausbrechenden. Und ohne diese beständige Spannung, diesen immer wiederholten Ruck, mit dem Gott sein Wesen anhält, würde kein Ding der Welt bestehen. Diese Lehre ist von bestechendem Tiefsinn. Dieses Paradoxon des Zimzum ist, [...] der einzige ernsthafte Versuch, der je gemacht wurde, den Gedanken einer Schöpfung aus dem Nichts wirklich zu denken"11).

 

G.Scholem sieht im Gedanken des Zimzum, der der orthodoxen Formel vom unbewegten Gott mit ihrem Ursprung bei Aristoteles und weniger in der biblischen Offenbarung zuwiderläuft, als Zentrum vor allem die Freiheit, die in der unendlichen Vollkommenheit seines Wesens liegt, die Gott selbst beschränkt. Der Autor sieht diesen Prozess des Sich-Zurückziehens und des Sich-Zusammennehmens Gottes als einen kontinuierlichen an. Die dialektischen Zusammenhänge müssen gesehen werden. Aus dem Zimzum erwächst das Nichts. Dieses Nichts ist aber kein nichtiges –sozusagen gänzlich ohne Inhalt –, sondern dieses hier in den Blick genommene Nichts ist im Verständnis G.Scholems "ein unerhört erfülltes Sein". Es ist das mystische Nichts gemeint, das Gott in seiner Fülle ist. In diesem Sinne erst kann von der Schöpfung aus dem Nichts in der Kabbala geredet werden. Die Kabbalisten haben – anders als Aristoteles – vom Nicht-Sein als dem Nichts, das in jedem Ding steckt, geredet. "Da, wo sich die Formen in der Materie wandeln, das heißt also in jedem lebendigen Prozess, bricht das Nichts in dieser Verwandlung mit auf. Es ist ein Abgrund, der in jedem Etwas mitgegeben ist" (Scholem). So stammt aus der immer wieder erneuten Berührung mit dem Nichts die immerwährende Schöpfung, "das immer erneute Wunder des Anfangs". So können wir dieses mystische Nichts auch als die absolut unbegreifliche, undefinierbare und doch existente Quelle aller schöpferischen Prozesse sehen.

 

Schließlich hat der Gedanke des Zimzum Eingang in die christliche Dogmatik, speziell die christliche Lehre von der Schöpfung, gefunden. Sowohl Eberhard Jüngel ("Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den "Gottesbegriff nach Auschwitz", Festschrift für J.Moltmann, München 1986, S. 265-275) als auch Jürgen Moltmann haben sich durch den von H.Jonas vermittelten Gedanken anregen lassen.

 

In seiner ökologischen Schöpfungslehre "Gott in der Schöpfung" hat J.Moltmann im § 3 "Schöpfung aus nichts" dieser kabbalistischen Vorstellung einen angemessenen Raum dargeboten, indem er zunächst einmal diesen spekulativen Gedanken des Isaak Luria mit Bezugnahme auf die Äußerungen G.Scholems referiert, darauf hinweist, dass diese kabbalistische Lehre von der Selbstverschränkung Gottes in die christlichen Theologien von Nicolaus von Cues, J.G.Hamann, Fr. Oetinger, F.W.J.Schelling, A. von Oettingen, E.Brunner und anderer eingedrungen ist, die darin "den ersten Akt derjenigen Selbsterniedrigung gesehen [haben], die im Kreuz Christi ihren tiefsten Punkt erreicht ... Gott macht seiner Schöpfung Platz, indem er seine Gegenwart zurücknimmt. Es entsteht ein nihil, das nicht die Negation geschöpflichen Seins enthält, weil Schöpfung noch nicht da ist, sondern das die partielle Negation des göttlichen Seins darstellt, sofern Gott noch nicht Schöpfer ist. Der Raum, der durch Gottes Selbstverschränkung entsteht und frei wird, ist im wörtlichen Sinne ein gottloser Raum. Das nihil, in dem Gott seine Schöpfung schafft und gegen dessen Bedrohung er seine Schöpfung am Leben erhält, ist die Gottverlassenheit, die Hölle, der absolute Tod. Diesen bedrohenden Charakter bekommt das nihil freilich erst durch die Selbstabschließung der Geschöpfe, die Sünde und Gottlosigkeit genannt wird. Die Schöpfung ist mithin nicht nur von ihrem eigenen Nichtsein bedroht, sondern auch von dem Nichtsein Gottes ihres Schöpfers, d.h. vom Nichts selbst. Das macht seine dämonische Macht aus. Das Nichts verneint nicht nur die Schöpfung, sondern auch Gott, sofern er ihr Schöpfer ist. Seine Verneinungen führen in jenen Urraum, den Gott vor der Schöpfung in sich selbst eingeräumt hat. Als Ermöglichung der Schöpfung durch Selbstverschränkung hat das nihil diesen vernichtenden Charakter noch nicht. Es ist eingeräumt worden, um Schöpfung in Eigenständigkeit ‚außerhalb’ Gottes zu ermöglichen"12). Es ist hier nicht der Ort, die systematischen Konsequenzen, die Moltmann aus der kabbalistischen Theorie für die christliche Theologie zieht, referierend zu entfalten (vgl. a.a.O., S. 100-105). Dennoch ist es angebracht, einige Schlusssätze aus § 3 diesem Exkurs anzufügen: "Wer an den Gott glaubt, der aus dem Nichts das Sein schuf, der glaubt auch an den Gott, der die Toten lebendig macht. Darum hofft er auf die neue Schöpfung von Himmel und Erde. Sein Glaube macht ihn bereit, der Vernichtung auch dort zu widerstehen, wo menschlich gesehen nichts mehr zu hoffen ist" (S. 105).

 

Hans Hermann Henrix hat in seinem Aufsatz "Machtentsagung Gottes? – Eine kritische Würdigung des Gottesverständnisses von Hans Jonas" die Fragen gestellt, die mit der Theodizeefrage und der Zimzum-Vorstellung verbunden sind und die für uns offen bleiben müssen: "Müssen wir die Rede von der Allmacht Gottes wirklich verabschieden? Ist Gottes Machtentsagung unabwendbar zu statuieren? Müssen wir der Sehnsucht nach dem allmächtigen Gott tatsächlich entsagen? Sagen uns die in Auschwitz als gerecht Bewährten, die Heiligen in der Schoa, dass das Ersehnenswerte, d.h. die Allmacht Gottes, nach einem anderen Wort von Emmanuel Levinas, in der Sehnsucht getrennt bleiben (muss), als ersehnenswert – nahe, aber unterschieden – heilig"? – Auszug aus einer Überarbeitung eines Artikels von H.H.Henrix: Auschwitz und Gottes Selbstbegrenzung. in: Theologie der Gegenwart 32 (1989).

 

Kehren wir nach diesem kurzen, aber hilfreichen Abstecher zum Zimzum der Kabbala und seiner Rezeption durch H.Jonas und J.Moltmann zurück zu den Gedanken Keiji Nishitanis! Nishitani kann im gut christlichen Sinne auf dem Hintergrund seiner Kenosis-Erfahrung – als Buddhist – den Glauben als den Ort qualifizieren, wo das Gerüst des "Ich" [d.h. des Ego] zerbrochen wurde und interpretiert religionsübergreifend: "So wie die Sünde als eine Realität im Selbst gewahrt werden muss, die, zusammen mit dem Selbst, vom Grund aller menschlichen Existenz oder aller "lebendigen Wesen" auftaucht, muss der Glaube, der eine völlige Umkehr des Selbst von dieser Sünde, Erlösung nämlich, bedeutet, gleichermaßen eine große Realität sein. Christentum wie Buddhismus verstehen den Glauben in diesem Sinne"13).

 

An dieser Stelle, wo der Kenosis-Gedanke mit dem Sündenbewusstsein in Verbindung gebracht wird, haben wir wiederum eine gute Anknüpfung an N.Berdjajew und das von ihm beschriebene, dialektische Beziehungsgeschehen von Gott und Mensch. Hatte Berdjajew einst von einer "Tragödie in Gott" gesprochen (was den heftigen Widerspruch S.Bulgakows hervorrief, vgl. Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, S. 57), so nahm J.Moltmann in seinem systematischen Entwurf "Trinität und Reich Gottes" diesen originellen und zugleich an der Grenze zum Häretischen stehenden Gedanken Berdjajews wieder auf, um damit auf die Tragödie der menschlichen Freiheit hinzuweisen, die unüberbietbar der russische Dichter F.Dostojewskij in seinem Werk "Die Brüder Karamasow" literarisch gestaltet und später W.Solowjew theologisch präzisiert hat. Moltmann zitiert zustimmend N.Berdjajew, dass die Sehnsucht Gottes zum Menschen eine Bewegung in Gott sei, die Gott selbst aus sich herausführt und zu seinem "Anderen", dem Menschen bringt. Moltmann interpretiert: "Die Tragödie der menschlichen Freiheit ist darum zugleich die Passionsgeschichte jener Sehnsucht Gottes nach dem MenscheN.Berdjajew nennt darum die wahre Tragödie in der menschlichen Geschichte die Tragödie Gottes, der Freiheit will und sie nur durch das Leiden seiner Liebe schaffen und erhalten kann. Nur die freie Offenbarung des Menschen und sein freies Schaffen sind Gott erwünscht. Nur sie erwidern die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen" (S. 58). Haben wir oben von der Kenosis, der Leere in Gott, gesprochen, der sich in Christus seiner Macht entkleidet, so wird nur dieser "ohnmächtige" und "leidende" Gott in die Tiefe herabsteigen, um beim Menschen zu sein. Eben gerade diese Kenosis ist gleichsam die Triebfeder für die in Gott sich vollziehende schöpferische Bewegung zum Menschen hin, da er nicht statisches Sein ist, denn: "Gott sehnt sich nach seinem Anderen, um seine schöpferische Liebe zu betätigen", "Das Drama der göttlichen Liebe und der menschlichen Freiheit, das im Inneren der Gottheit beginnt und das Leben der Gottheit ausmacht, ist vielmehr der Beweis für die göttliche Vollkommenheit" (Moltmann, S. 61). Nun ist aber diese Beziehung und Sehnsucht Gottes nach seinem Anderen zu begründen. Moltmann interpretiert Berdjajews Ansatzpunkt von der ewigen, innertrinitarischen Bestimmung her: "Deshalb muss in dem Verhältnis vom Vater zum Sohn etwas sein, das potentiell über dieses Verhältnis hinausreicht und faktisch zur Weltschöpfung führt. Um in der Sprache Berdjajews zu reden: in der ‚Liebe Gottes zu seinem Sohn’ muss die ‚Liebe Gottes zu seinem Anderen’ als selbstverständlich schon mitgesetzt sein. Die Erschaffung der Welt ist nichts anderes als ‚eine Geschichte der Göttlichen Liebe zwischen Gott und seinem Anderen’. Darum ist mit der Liebe Gottes zum Sohn auch die Menschwerdung des Sohnes potentiell schon mitgesetzt. Die Menschwerdung des Sohnes Gottes ist keine Antwort auf die Sünde, sondern die Erfüllung des ewigen Verlangens Gottes, Mensch zu werden und aus jedem Menschen einen ‚Gott aus Gnade’ zu machen: einen ‚Anderen’, der an dem göttlichen Leben teilnimmt und die göttliche Liebe erwidert".14)

 

Diese Gedanken treffen sich mit denen des Philosophen K.Nishitani: "Deshalb darf gesagt werden, dass auch in Gott selbst die Bedeutung des "Sich-entäußert-Habens" enthalten ist. Im Falle des Sohnes hingegen wird ekkénōsis in der Tatsache wirksam, dass er, der im Anfang bei Gott war und Gott war, Knechtsgestalt annimmt [Phil 2,5-11]. Im Falle des Vaters ist ekkénōsis immer schon in der ursprünglichen Vollkommenheit Gottes enthalten. Das besagt: Eben weil Gott Gott ist, enthält er wesenhaft das Charakteristikum des ‚Sich-entäußert-Habens’ in sich. Im Falle des Sohnes ist dieses Charakteristikum ein Werk, das vollbracht worden ist; beim Vater ist es seine eigentliche Natur. Wenn der Fall des Sohnes ekkénōsis genannt wird, dann ist der Fall des Vaters kénōsis."15) Nishitani setzt nun die menschliche Situation in Parallele zur göttlichen und fasst zusammen: "Um der Vollkommenheit Gottes ebenbürtig zu werden, um so vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel [Mt 5,48], um ‚Kinder des Vaters im Himmel’ zu werden, kann diese Selbstlosigkeit [also die Kenosis bzw. Ekkenosis] nur durch die Liebe zum Feind in der Tat verwirklicht werden. Der Mensch muss die unterscheidende menschliche Liebe aufgeben und sich der nicht unterscheidenden göttlichen Liebe hingeben ... Im Falle Christi besteht die Selbstlosigkeit darin, dass das mit Gott ‚Gleichförmige’ Knechtsgestalt annimmt. Diese Christus-Liebe ist eine ‚Verkörperung’ der Vollkommenheit Gottes. Im Falle eines Christen bedeutet ‚sich entäußern’ den Wandel von der menschlichen, unterscheidenden Liebe zur göttlichen, nicht unterscheidenden Christus-Liebe. In seinem Fall kann die christliche Liebe als ‚Nachahmung’ der Vollkommenheit Christi oder als Einübung in diese gelten".16) Da K.Nishitanis Gedanken gerade auch für die christliche Theologie von weitreichender Bedeutung sind, sei dieser Abschnitt, der sich seinen Gedanken widmet, mit seiner Interpretation abgeschlossen: "Der Vollkommenheit Gottes wohnt, wie schon gesagt, wesenhaft und ursprünglich die Eigentümlichkeit des Sich-immer-schon-entäußert-Habens [im Sinne der ekkénōsis] inne, woraus dann das Werk der Liebe als Verkörperung oder als Nachahmung jener Vollkommenheit entsteht. In ihrer Relation zur Liebe als Werk oder Tat kann die Vollkommenheit Gottes auch Liebe genannt werden. Wenn aber das Werk der Liebe einen ‚personalen’ Charakter hat, dann muss die Vollkommenheit Gottes (und ‚Liebe’ als Vollkommenheit) als etwas noch Fundamentaleres als das ‚Personale’ gedacht werden, so dass das ‚Personale’ erst als eine Verkörperung dieser Vollkommenheit oder in menschlicher Nachahmung zustande kommt. In diesem Sinne wohnt Gottes Vollkommenheit eine Art Transpersonalität oder Impersonalität inne – nicht eine Impersonalität, die einfach im Gegensatz zur Personalität steht, sondern, wie oben erwähnt, eine personale Impersonalität bzw. persönliche Unpersönlichkeit. Diese Eigentümlichkeit personaler Impersonalität kann auch in der nicht unterscheidenden Liebe vermutet werden, welche die Sonne gleichermaßen über Bösen und Guten aufgehen lässt und den Regen auf Ungerechte und Gerechte fallen lässt [Mt 5,45]."17).

 

Wie Nishitani zeigt, unterscheidet sich diese "Vollkommenheit" Gottes von der "personalen" Absolutheit des Gottes, der sich das Volk Israel erwählte – von dem Gott, der mit absolutem Willen und mit absoluter Macht befiehlt, der die Gerechten liebt und die Sünder bestraft" (S. 119). So kommt der japanische Philosoph aufgrund des neutestamentlichen Befundes (s.o.) zu der folgerichtigen Aussage: "Wenn Selbst-losigkeit, die nicht auswählt, vollkommen ist, dann ist eine auswählende Personalität nie ‚vollkommen’. In dem, was man die biblische Gottesidee nennen möchte, konvergieren also zwei heterogene Betrachtungsweisen. In der Vergangenheit hat das Christentum gewöhnlich nur dem personalen Aspekt von Gott Aufmerksamkeit geschenkt. Nur selten wandte die Aufmerksamkeit sich dem ‚impersonalen’ Aspekt zu" (S. 119). Mit seiner Diagnose, die nicht einer gewissen Logik entbehrt, dürfte Nishitani Recht behalten: "Ich glaube nicht, dass die Geschichte der christlichen Dogmatik eine Gottesvorstellung bereit hält, die diesem Problem gewachsen ist" (S. 120).

 

Es ist für J.Moltmann, um zu ihm zurück zu kehren, von großer Wichtigkeit, dass das Kreuz sowohl im Zentrum der menschlichen Freiheit als auch zugleich im Mittelpunkt des Leidens Gottes steht. Er sieht mit Berdjajew diese dialektische Beziehung, dass "das Metaphysische geschichtlich" und "das Geschichtliche metaphysisch" wird. Historisches und Meta-Historisches durchdringen einander. Wir verdanken J.Moltmann als einem der führenden deutschen Theologen, dass er schon vor Jahrzehnten die metaphysischen Betrachtungen des russischen Religionsphilosophen in seinen systematischen Denkansatz aufgenommen hat: "Die irdische Freiheitsgeschichte wird als ein Moment der himmlischen Geschichte erfasst, denn die Tragödie der menschlichen Freiheit ist die Leidensgeschichte der göttlichen Liebe. Berdjajew stellt die Theologie der Geschichte als Theologie der Freiheit dar und umgekehrt. Seine Kreuzestheologie ist die Antwort auf das Theodizeeproblem, das aus der Theologie der Geschichte und der Freiheit entsteht." (S. 62f.).

 

Eben an dieser Stelle, in der Freiheit, von der Berdjajew sagen konnte, sie sei "ungeschaffen" und nach Jakob Böhme mit dem undefinierbaren Ungrund identisch, trifft sich Berdjajew auch mit Kant, von dem er, sich stets gegen jeden Monismus hegelscher Ausprägung wehrend – ohne allerdings dessen dialektische Denkbewegung verstanden zu haben –, sagen wird: "Mit seiner Lehre vom intelligiblen Charakter der Freiheit war Kant der Wahrheit viel näher als die anderen Philosophen, trotz der falschen Folgerungen, die er aus seiner Lehre zog. Das Böse und die Leiden existieren in der Welt, weil die Freiheit existiert; die Freiheit existiert ohne Ursache [deshalb der ihm zur Grundlage dienende undefinierbare ‚Ungrund’ Böhmes], sie ist eine Grenze. Und Gott selbst leidet, Gott wird gekreuzigt, weil die Freiheit existiert. Die göttliche Liebe und das göttliche Opfer sind Gottes Antwort auf das Mysterium der Freiheit, das am Ursprung des Bösen und des Leidens steht. Auch die göttliche Liebe und das göttliche Opfer sind Freiheit"18). War soeben vom "Ungrund" die Rede, in der die Freiheit im Sinne Berdjajews, der sich auf Böhme und Kant bezieht, verwurzelt ist, so verweist uns dies auch auf eine hier schon vorweggenomme Aussage K.Nishitanis: "Nur das Absolut-Leere ist wahrhaft grundlos, Ungrund ... Die wahre Freiheit besteht in einer solchen Grund-losigkeit (Nishitani, Was ist Religion?, S. 83, A. 8).

 

 

Fortsetzung