Mystik 6
d)
Karl Pfleger
Der katholische Theologe Karl
Pfleger (1883-1975) beschäftigte sich schon vor Jahrzehnten in seinem Aufsatz
"Nicolai Berdjajews orthodoxe Gnosis" mit den gnostischen Tendenzen,
die er bei Berdjajew zu finden meinte (75). Zu Pflegers Ausführungen über
Berdjajew äußert sich S.Reichelt. "Grundsätzlich sei festzuhalten, dass
Berdjaev ein organisches Glied in der Entwicklung der noch jungen russischen
Geschichtsphilosophie ist, die die Aufgabe des Menschen im Schöpfungsprozess in
den Mittelpunkt stellt. Zudem spreche der Religionsphilosoph die Sprache des
authentischen Christen, dessen ostchristliches Denken sich auf einen
integralen, absoluten Glauben gründe. Sein Philosophieren erwüchse aus den
lebendig-religiösen Urquellen des Seins, in denen Philosophie, Theologie und
Mystik noch ineinanderfließen und können darum auch als 'Illuminatentum' oder
'Orthodoxe Gnosis' bezeichnet werden […]. Während im Westen Okkultisten,
Kosmosophen und Anthroposophen zunehmend an Einfluss gewönnen, bemühte sich die
russische 'Sophiotik' um Rehabilitierung der Kosmologie im Christentum, setze
sich damit aber zugleich der Gefahr des Pantheismus aus. Berdjaev, der im 'Sinn
des Schaffens' mit geblähten Segeln an den Klippen des Pantheismus
vorbeigeschossen sei, sei seitdem vorsichtiger geworden, denn nicht die
Weisheit, sondern der Mensch steht im Mittelpunkt des Christentums […]. So ist
Berdjaev 'halsstarriger Schismatiker' und 'genuin christlicher Gnostiker'
zugleich, dessen Gnosis in Einzelheiten für das katholische Denken wohl kaum
annehmbar ist, dem aber im Kampf um die Berechtigung einer ostchristlichen
Gnosis Recht zu geben ist"(76).
In seinem Briefwechsel mit
dem Münsteraner Philosophen Peter Wust hat sich K.Pfleger auch auf seine
Auseinandersetzung mit der Gnosis bezogen: "Jetzt beschäftigt mich als
Hauptsache, was eine Nebensache sein müsste: Die Frage der Gnosis. Ich will für
Hochland einen Aufsatz schreiben: 'Kampf um die Gnosis'. Was ich schon lange
spürte: dass der Thomismus nicht die einzig richtige, nicht die maximal
richtige Erkenntnis des Göttlichen ist, das wird ja jetzt immer mehr Gemeingut
der theologisch Gebildeten. Das Buch von Koepgen 'Die Gnosis des Christentums',
das neben die noch etwas schiefe Gnosis der Russen nun eine katholische Gnosis
stellen will, ist ein bedeutungsvolles Symptom dafür. Aber welche Geduld gehört
dazu, sich in all diese Feinheiten der Erkenntnisvorgänge einzuleben!"
(77).
Eine weitere kritische Stimme
zum philosophischen Denken Berdjajews entnehmen wir in diesem Zusammenhang
einem Brief Max Picards vom 26. April 1932 an Karl Pfleger: "Nur mit Ihrer
Hochschätzung von Berdjajew bin ich nicht recht einverstanden. Gehört diese
menschliche Aktivierung Gottes nicht zu der spät-schelerischen Art? Ich meine
jenen Schelerismus, nach dem Gott erst durch die Aktion des Menschen realisiert
oder mitrealisiert wird. So etwas ähnliches meint Berdjajew doch auch. Oder
nicht? Diese Art ist mir fremd. Aber vielleicht habe ich Berdjajew nicht recht
verstanden" (78).
Karl Pfleger, der ein Kenner
der Weltliteratur und der Philosophiegeschichte (Schelling, Schopenhauer,
Nietzsche) war, verbreitete in späteren Jahren die Gedanken von Teilhard de
Chardin, "dessen Geschichtstheologie seinen eigenen [Pflegers]
Konzeptionen von Gott, Mensch und Welt in der Geschichte nahe kommt" (79).
Dennoch sollte es in unserer
Studie nicht unterbleiben, wenigstens einige außerhalb Deutschlands entstandene
Arbeiten zu nennen, die sich in der Vergangenheit mit Berdjajews gnostischer
Weltanschauung auseinandergesetzte haben. S.Reichelt zählt sie auf (80):
Schluss
und eschatologischer Ausblick
Wir hatten es uns zum Ziel
gesetzt, mit Hilfe verschiedener Autoren (M.-M.Davy, H.Müller-Eckhard,
G.Koepgen, L. Schestow, K.Pfleger) und natürlicher der Originalquellen des
russischen Denkers N.Berdjajew dessen Verhältnis zu Mystik und Gnosis
wenigstens ansatzweise zu skizzieren und seine geistigen Ausgangspunkte zu
bestimmen. Ohne ein eindeutiges Ergebnis im Blick auf die Verhältnisbestimmung
zur Gnosis vorlegen zu können, sei am Schluss noch einmal Berdjajews
Verwurzelung in der Mystik mit Zitaten des ihm geistig nahestehenden und im
Jahre 1884 in Moskau geborenen Philosophen, Soziologen und Schriftstellers
F.Stepun (1884-1965) unterstrichen. Stepun, der von 1903-10 in Heidelberg und
Freiburg studiert hatte, gehörte zu den politischen Intellektuellen, die im
Jahre 1922 aus Russland ausgewiesen wurden und von 1926-37 als Professor für
Soziologie an der Technischen Hochschule Dresden wirkte. Stepun wirkte auch als
Mitbegründer der Zeitschrift Logos, der ersten internationalen
philosophischen Zeitschrift (Tübingen 1909-1914, Moskau 1910-1914).
In seinem Buch
"Mystische Weltschau" (81) über die fünf Gestalten des russischen
Symbolismus (Solowjew, Berdjajew, Iwanow, Belyj und Blok) führt er in seinem
Berdjajew-Kapitel (S. 93-200) zu dem uns interessierenden Thema im Abschnitt
„Die Mystik und der geistige Weg“ aus: "Als einzig mögliches Ausdrucks-
und Mitteilungsmittel der gnostischen Tiefenerkenntnis betrachtet Berdjajew […]
das religiöse Symbol. Alle wahren Philosophen waren seiner Meinung nach tiefe
Mystiker, die in Symbolen gesprochen haben. Als solche nennt er Plato und
Plotin, Schelling und sogar auch Eduard von Hartmann; selbstverständlich aber
vor allem die Gnostiker Jakob Böhme, Meister Eckhart und Simeon, den Neuen
Theologen" (82).
Fragen wir nach Stepuns
Interpretation der mystischen Tendenzen bei Berdjajew, so erfahren wir aus
seiner sachlich überaus angemessenen und auch verständnisvollen Interpretation
des mit ihm Geistesverwandten: "Ergänzend kann man sagen, dass das
mystische Erlebnis dem Menschen ein zweieiniges Wissen schenkt: das Wissen
davon, dass er Gott in sich hat und dass er selber bei Gott beheimatet ist. Für
die beste Formulierung, die ‚tiefste und wesenhafteste’ des mystischen
Erlebnisses hält Berdjajew die Definition: 'Mystik ist die Überwindung der
Kreatürlichkeit'. Im Akt dieser Überwindung schwindet jeglicher Unterschied
zwischen natürlichem und Übernatürlichem. 'Das Natürliche wird zum
Übernatürlichen und das Kreatürliche wird vergottet'. Diese Vergottung bedeutet
aber, und das ist für Berdjajews Standpunkt entscheidend, keinesfalls 'das
Verschwinden des Menschen und des Unterschiedes der beiden Naturen in ihm.
Überwunden wird nur das kreatürliche Nichts'. Der Mensch als das Bild Gottes
bleibt bestehen" (83).
Berdjajew beendet häufig
seine Werke mit einem eschatologischen Ausblick, so auch sein hier zitiertes,
selten herangezogenes Buch "Das Schicksal des Menschen in unserer
Zeit" (84). Im Schlusskapitel "Die neue Geistigkeit" (S. 97-100)
schreibt der Autor im Blick auf den chaotischen Zerfall der Welt: "Nötig
wird damit die Offenbarung einer neuen christlichen Geistigkeit in der Welt.
Von ihr, der neuen christlichen Geistigkeit wird das Schicksal des Menschen und
der Welt abhängen […]. Diese neue Geistigkeit kann die Versklavung des
Menschen, seine Unterwerfung unter die kosmischen und sozialen Kräfte nicht zulassen.
Sie muss den Menschen zur königlichen Rolle und Stellung in der Welt, zum
schöpferischen Werk und zur schöpferischen Tat aufrufen. Der Mensch der neuen
Geistigkeit wird die Welt nicht verdammen, die Besessenen und die Götzendiener
nicht verurteilen; er wird das Leiden der Welt teilen, die Tragik des Menschen
auf sich nehmen und darnach streben, das befreiende Prinzip allen Bereichen des
menschlichen Lebens mitzuteilen […]. Die neue Geistigkeit ist nicht nur ein Weg
der Welt und des Menschen zu Gott; sie ist zugleich auch der Weg Gottes zur
Welt und zum Menschen; nicht nur ein Emporsteigen, sondern auch ein
Hinabsteigen: die Erfassung der Wahrheit vom Gottmenschentum und vom
gottmenschlichen Leben in ihrer Fülle und in ihrem Glanz […]. Das Gericht über
das Christentum wendet sich gegen den Verrat am Christentum, gegen die
Entstellung und Verunreinigung des Christentums, und die Wahrheit dieses
Gerichtes ist zugleich auch die Wahrheit des Gerichtes über die gefallene Welt
und ihre sündenreiche Geschichte. Die wahre geistige Wiedergeburt aber wird in
dieser Welt nicht früher beginnen, als die elementaren Fragen der menschlichen
Existenz für alle Menschen und Völker gelöst und die bittere Not und die
ökonomische Versklavung des Menschen überwunden sind. Erst dann wird sich eine
neue und gewaltige Offenbarung des Heiligen Geistes in der Welt
vollziehen" (85).
Anmerkungen
1) Roman Rössler, Nikolai
Berdjajew. Die Welt als Objektivation, in: Festgabe für Hans-Rudolf Singer,
Frankfurt 1991, Bd. 2, S. 735-749, hier S. 735. Vgl. auch R.Rössler, Das
Weltbild Nikolai Berdjajews – Existenz und Objektivation, Göttingen 1956. Zur
Rezeption Berdjajews und der russischen religiösen Philosophie im heutigen
Russland vgl. die Studie von Jutta Scherrer, Auf der Suche nach der Tradition –
Russisches Denken an der Jahrhundertwende und seine Rezeption im heutigen
Russland, in: Klaus-Dieter Eichler u. Ulrich Johannes Schneider (Hg.),
Russische Philosophie im 20. Jahrhundert, Leipzig, 1996, S. 40-57.
2) N.Berdjajew,
Selbsterkenntnis – Versuch einer philosophischen Autobiographie, Darmstadt
1953, zit. Selbsterkenntnis, sowie Ders. "Philosophie des freien
Geistes", Tübingen 1930. Zit. Berdjajew, Philosophie des freien Geistes.
3) Marie-Madeleine Davy, Nicolas Berdiaev ou la révolution de l'Esprit,
Paris 1999, S. 123-140. Zit. Davy, Nicolas Berdiaev.
4) Vgl. den Hinweis von
M.-M.Davy auf N.Berdjajew, Das Reich des Geistes und des Reich des Caesar,
Baden-Baden 1952, S. 195-205.
5) Davy, Nicolas Berdiaev, S. 123f. Ausführlichere Einzelheiten zu
seinem Verständnis der Mystik finden sich u.a. bei N.Berdjajew, Philosophie des
freien Geistes, Kapitel "Die Mystik und der geistige Weg", S.
278-310, sowie in: "Geist und Wirklichkeit", Lüneburg 1949, S.
135-168. Vgl. außerdem: "Der Sinn des Schaffens", Tübingen 1927, S.
316-341.
6) Stavros Panou, Der
Gottesbegriff bei Berdiajew, phil. Diss. München 1968, S. 23-25.
7) Metzler Philosophie
Lexikon, hg. von Peter Prechtl u. Franz-Peter Burkhard, Stuttgart 1996, S. 342.
Zit. Philosophie Lexikon.
8) Selbsterkenntnis, S. 177.
9) N.Berdjajew, Existentielle
Dialektik des Göttlichen und Menschlichen, München 1951.
10) Vgl. die Studie von
M.P.Begzos "Nikolaj Berdjajew und die byzantinische Philosophie" in
der Zeitschrift Theologie 64, Jan./Febr. 1993, zit. Begzos, Nikolaj Berdjajew.
11) Berdjajew, Philosophie
des freien Geistes, S. 223.
12) Begzos, Nikolaj
Berdjajew, S. 3f.
13) Begzos, Nikolaj
Berdjajew, S. 5.
14) Wolfgang Dietrich,
Provokation der Person, Bd. 3, Teil II, Gelnhausen 1975, S. 157.
15) Begzos, Nikolaj
Berdjajew, S. 6f.
16) Raimon Panikkar, Trinität
– Über das Zentrum menschlicher Erfahrung, München 1993, S. 99-105. Zit.
Panikkar, Trinität.
17) Vgl. dazu: R.Panikkar,
Der Dreiklang der Wirklichkeit – Die kosmotheandrische Offenbarung, Salzburg
1995. Vgl. auch die Verhältnisbestimmung von N.Berdjajew zu R.Panikkar im Blick
auf Aspekte der „Theandrie“ in: N.Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, Waltrop
1998, S. 94-109. Vgl. außerdem: R.Panikkar, Gott, Mensch und Welt, hg. von
R.Ropers, Petersberg 1999, sowie R.Panikkar, Das Abenteuer Wirklichkeit,
München 2000.
18) Panikkar, Trinität, S.
99f.
19) Panikkar, Trinität, S.
101f.
20) Panikkar, Trinität, S.
102.
21) Panikkar, Trinität, S.
102.
22) Panikkar, Trinität, S. 103f.
23) Davy, Nicolas Berdiaev, S. 126.
24) Davy, Nicolas Berdiaev, S. 129f.
25) RGG, Bd. II, Tübingen
1958, Sp. 1648f. Vgl. zur Begriffsbestimmung der „Gnosis“ auch Metzler
Philosophie Lexikon, S. 197f. Vgl. zu diesem Themenbereich aus
geistesgeschichtlicher bzw. tiefenpsychologischer Sicht. Gerhard Wehr,
Esoterisches Christentum, Stuttgart 1975, Kap. "Gnosis und
Gnostizismus", S. 74-129, sowie Ders., C.G.Jung und das Christentum, Olten
1975, Kap. "Zur Wiedergewinnung des Gnosis-Prinzips", S. 187-192. Die
Studie von Georg Koepgen, Die Gnosis des Christentums, Trier 1978, der sich
intensiv mit Berdjajew beschäftigt hat, wird uns im Schlussteil unserer
Darstellung noch mit einem kritischen Urteil dieses katholischen Theologen über
Berdjajew bekannt machen. Zit. Koepgen, Die Gnosis des Christentums. Über das
Verhältnis von G.Koepgen zu Berdjajew vgl. Stefan G.Reichelt, Nikolaj
A.Berdjaev in Deutschland 1920-1950, Leipzig 1999. Zit. Reichelt, Nikolaj
Berdjaev. Nach Reichelt trat G.Koepgen für eine neue gnostische Haltung in der
katholischen Kirche und Theologie ein, was von Hans Urs von Balthasar, Erich
Przywara S.J. und Karl Rahner S.J. eine kritische Beurteilung erfahren habe
(Reichelt, Nikolaj Berdjaev, S. 167).