Mystik 4

 

 

C. Die Gnosis N.Berdjajews im Pro und Contra

 

a) Hans Müller-Eckhard

 

Schon vor über fünfundzwanzig Jahren hat sich der philosophisch und theologisch versierte Psychotherapeut H.Müller-Eckhard in seinem Buch "Das Unzerstörbare – Religiöse Existenz im Klima des Absurden" mit den Anregungen beschäftigt, die er von N.Berdjajew empfangen hatte und ist ausführlich der Frage nachgegangen, ob nicht eine legitime Gnosis im Christentum erwünscht und möglich sei (38). Ohne die von ihm ausführlich diskutierte Frage hier vertiefen zu können, gehen wir nur auf seine, Berdjajew betreffenden Äußerungen ein, den er recht häufig zitiert und dessen Anregungen er schon einleitend mit der Einsicht aufnimmt, dass eine Theologie, die nicht zugleich Anthropologie sei, undenkbar ist – vergleichbar der Aussage R.Bultmanns, dass, wer von Gott rede, stets auch vom Menschen reden müsse. Müller-Eckard stellt fest, dass die Theologie stets "jedes innere Erleben und Erfahren, das sich jenseits oder vielmehr abseits der feststellbaren und registrierbaren, pädagogisch zu beeinflussenden Evolution vollzog und sich als 'Erkenntnis' behaupten wollte, das also, kurz gesagt, nicht ohne weiteres objektiviert werden konnte", stets mit Misstrauen beobachtete (39). Man habe schließlich die numinose Erfahrung, d.h. jede "erkennende Schau" als gnostisch diffamiert. "Es gab schon immer und gibt noch heute Theologie, die selbst mit dem Agnostizismus eines völlig gemein hat – vor allem, wenn es darum ging, noch nicht entschiedenen und nicht bewältigten Problemen aus dem Wege zu gehen: der menschlichen Erkenntnisfähigkeit willkürliche Grenzen zu setzen. Auch nicht einmal die mit dem Agnostizismus gemeinsame Front gegen die mystische Erfahrung war für diese Theologie ein ausreichendes Signal des Irrtums. Bei der Frage nach der numinosen Erfahrung zog sich die Theologie in ihre Basis des Glaubens zurück, eine bedenkliche Bastion: der Glaube musste die Funktion einer gnostischen, – ja sogar antignostischen Abwehr übernehmen" (40). Damit wurde also dem Glauben die Erkenntniskraft genommen, die Flügel (des johanneischen Adlers) wurden ihm beschnitten. Demgegenüber besteht Müller-Eckhard vehement darauf: "Und doch gab und gibt es Gnosis, wirkliche und unentbehrliche christliche Gnosis!" Diese Gnosis verschaffe sich ihren höchsten Ausdruck im biblischen Wort: ‚Wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist’. Die Summe aller Gnosis bringt das Johannesevangelium im hohepriesterlichen Gebet des Christus: ‚Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, erkennen, den du gesandt hast, Jesus Christus’ [Joh 6,6].“ Was nun ist die Folge, dass das Christentum auf die Erkenntnisdimension des Glaubens weithin verzichtete? Müller-Eckhard konstatiert: "Die Abkehr von der neutestamentlichen Gnosis und von jener 'geheimnisvollen Theo-Sophia', von der der Apostel Paulus im Brief an die Korinther spricht [1 Kor 2,7], führte so weit, dass heute mit dem Schlagwort 'gnostisch' manches strafend belegt wird, in dessen Besitz man eigentlich sein sollte" (41). So sei gerade in kirchlichen Kreisen ein starkes Misstrauen gegen alle mystische und gnostische Erfahrung entstanden, „die jenen geistigen Bereich innerer Freiheit repräsentiert, der sich von der hierarchischen Macht nicht fassen und bevormunden lässt“ (Zitat aus: Berdjajew, Geist und Wirklichkeit, S. 136). Um auch andere Denker dieser Provenienz nicht unerwähnt zu lassen, beschließen wir unseren Abschnitt "Pro Gnosis" mit einem weiteren Zitat: "Auch die theologische Beurteilung Teilhard de Chardins beispielsweise, jenes französischen Paläontologen, der 1955 starb, ist bezeichnend. Die kosmische Bedeutung des Christus haben schon Solowjew und Berdjajew gesehen. Teilhard de Chardin kam aber mit einer Kühnheit ohnegleichen, wie sie nur durch die Selbstoffenbarung des Göttlichen geschenkt wird, zu Konzeptionen, die endlich eine endgültige Exegese der beiden Briefstellen des Apostels Paulus an die Epheser und Kolosser ermöglichten [Eph 1,10; Kol 1,20]. Im Mittelpunkt dieser Stellen, die schon immer ein theologisches Ärgernis waren und tabuiert wurden, steht 'der Beschluss Gottes, die Fülle der Zeiten eintreten zu lassen und dann ta panta (=das All) in Christus als dem Haupt zusammenzufassen', und nicht nur das, sondern 'das ganze All mit sich zu versöhnen, das heißt alles, was auf Erden und im Himmel ist', die sichtbare und die unsichtbare Welt" (42).

 

Mit einigen seiner Kronzeugen – mit Solowjew, Berdjajew und Teilhard de Chardin – will Müller-Eckhard festhalten, dass ein Christentum, das diesen Namen verdient, in seiner numinosen Erfahrung "im Wesen letztlich pneumatisch, niemals ohne weiteres objektivierbar, das heißt nicht vom lebendigen Subjekt abtrennbar und doch realistisch [ist]; sie [die numinose Erfahrung] ist Erwachen des Geistes im Menschen, der dann viel besser und tiefer als der nur natürliche oder nur physische Mensch das Reale begreift. Meditierende, religiöse Erfahrung, mystisches Innewerden des Seins, Wahrnehmung der Unmittelbarkeit göttlicher Welt entziehen sich zunächst einmal jeglicher Definition, der psychologischen wie der theologischen. Das ist auch der Grund, warum alle Erfahrung übernatürlicher Wirklichkeit nicht so einfach katalogisiert werden kann und meist sogar irrig diagnostiziert wird" (43).

 

So sehr H.Müller-Eckhard mit seiner Nachfrage nach der "numinosen Erfahrung" Recht behalten dürfte, dennoch sei von philosophischer Seite die kritische Bemerkung gestattet, dass es diese Unmittelbarkeit, wie Müller-Eckhard sie wünscht, wohl nicht geben kann. Jede vermeintliche Unmittelbarkeit, in der wir meinen, dass Gott direkt zur Seele spricht, trägt in sich stets den Charakter der Vermittlung durch das Denken, durch das Bewusstsein sowie ebenso durch die Notwendigkeit einer sprachlichen Vermittlung des Erfahrenen im nachhinein. Wenn, wie dies Hegel richtig gesehen hat, die Dinge der Erfahrung nicht sprachlich zu vermitteln sind, verbleibt alles in einer schlechten Subjektivität und im Gefühl, das sich meist nicht verbindlich, d.h. allgemeinverständlich artikulieren kann. Gefühle sind momentane Eindrücke. Nur das, was allgemeinverbindlich der sprachlichen Artikulierung unterzogen werden kann, hat die Chance, dann auch geltungstheoretisch begründet zu werden.

 

Deshalb scheint es für Hegel und nicht nur für ihn eine Katastrophe zu sein, die Religion ausschließlich im Gefühl und nicht in der Vernunft zu verankern. Erst dann, wenn ein geistiger Inhalt mitteilbar wird, bekommt er einen allgemeingültigen Charakter und verliert seine subjektive Enge bzw. häufig auch seine subjektive oder egoistische Engstirnigkeit. Erst die durch den Geist erwirkte verbindende Vernunft ist die legitime Verklammerung, die dem gegenseitigen Verstehen Sinn verleiht.

 

Dennoch entbindet die obige Argumentation noch nicht davon, dass eine Intuition dann einer diskursiven philosophischen Entfaltung bedarf. Müller-Eckhard hat freilich schon sehr früh den Finger auf die Wunde gelegt, dass nämlich ein Christentum "fast ohne transzendentale Erfahrung und Erleuchtung sein Dasein fristet" und er schließt die Frage an, ob "diese Verkümmerung des unmittelbaren religiösen Erlebens eine der Ursachen der weitverbreiteten Ratlosigkeit der Gegenwart [1964!] ist?" (44). Auch hier gilt freilich unser schon erwähntes Bedenken einem religiösen Erleben, das sich ohne Vermittlung der "Unmittelbarkeit" rühmt.

 

Schon damals konnte der Autor bemerken, was heute wohl erst recht nicht mehr verständlich zu machen ist, da Theologie sich weithin – bis auf rühmliche Ausnahmen – von ihren spirituellen Wurzeln entfernt hat: "An die Theologie wäre längst die Frage zu richten, ob man in einem Zeitpunkt numinoser und religiöser Erblindung, in der das Individuum untergeht, auf den Menschen der Sehnsucht, auf den Menschen, der sich auf dem Weg nach innen befindet, verzichten soll" (45). An anderer Stelle heißt es: "Der Weg nach innen öffnet sich nur dem wahrhaft hungernden Menschen, dem, der sich aus der Armut und dem Chaos des mechanisierten Lebens heraussehnt, weil allein dieser Zustand des 'Hungerns und Dürstens' alles interesselose Interesse ausschließt. Nur die schmerzhafte Seelen- und Geistentbehrung ermöglicht es, zu dem Seelengrund vorzudringen, und befähigt die Menschenseele, das in sich zu finden, was sie in Wahrheit ist. Auch das visionäre Erleben bis hin zur 'Zentralschau' des Jakob Böhme 'hat von innen im Hunger der Seele angefangen' [Zitat aus Jakob Böhme, Sendschreiben]“ (46).

 

Wenn wir abschließend die Frage stellen, wo das Ziel ist, worauf hin sich die menschliche Sehnsucht richtet, so findet der Psychotherapeut auch aus seiner praktischen Tätigkeit heraus zwei Antworten: "Transzendenz kommt in Wirklichkeit aus dem Insein, keinesfalls 'von außen'. Transzendenz ist gewissermaßen immanent. Berdjajew ist es, der auf diese Antinomie, auf diese Dialektik der Transzendenz aufmerksam gemacht hat [in: Existentielle Dialektik des Göttlichen und des Menschlichen S. 78]. 'Gott wohnt in einer noch größeren Tiefe in mir als ich selbst!'. Diese Wendung Augustins vermag den richtigen Transzendenzbegriff zu erhellen. 'Auf sich selbst zu muss also transzendiert werden', bemerkt Berdjajew (47). Freilich liegt auch in diesen Sätzen schon wieder die Gefahr einer ungewollten Dualität von 'Außen' und 'Innen' nahe."

 

H.Müller-Eckhard, der immerhin den Mut besaß, als Psychotherapeut – ähnlich wie C.G.Jung – solche metaphysische Betrachtungen anzustellen und sie mit seiner seelenärztlichen Tätigkeit sinnvoll zu verbinden, schreibt in seinem Schlussteil: "In der Predigt über das Evangelium Lk 21,23 sagt Meister Eckehart: ‚Die Meister machen sich viele Bedenken darüber in der Schule, wie es für die Seele möglich sein soll, Gottes inne zu werden […]. Nie hat ein Mensch sich irgend wonach so sehr gesehnt, wie Gott sich danach sehnt, den Menschen dahin zu bringen, dass er seiner inne werde’" (48).

 

b) Georg Koepgen

 

In seiner Studie "Die Gnosis des Christentums", die schon vor ihrer 3. Auflage (Trier 1978) in zwei Auflagen 1939 u. 1940 im Otto-Müller-Verlag, Salzburg, erschienen war, aber vor fünfzig Jahren, am 16. Mai 1941, durch das römische Officium verurteilt wurde, hat sich der Autor G.Koepgen (1898-1975) wiederholt mit den spirituellen Ansichten N.Berdjajews auseinandergesetzt. Koepgen steht dem russischen Denker, wie wir noch zeigen werden, recht ambivalent gegenüber. Davon legen die Zitate ein bemerkenswertes Zeugnis ab.

 

Bevor wir zur Darstellung der Kritik Koepgens kommen, sei über diesen recht unbekannten Theologen zitiert: "Am 10. November 1898 in Mainz geboren, geriet Koepgen im Ersten Weltkrieg in britische Kriegsgefangenschaft. Ab 1919 studierte er in Bonn Philosophie und Theologie. 1923 besuchte Koepgen in Köln das erzbischöfliche Seminar und wurde 1924 Presbyter. Nach einer Assistentur absolvierte er ab 1925 das Vikariat in Düsseldorf. 1927 verteidigte er seine Dissertation mit dem Thema 'Die neue kritische Ontologie und das scholastische Denken. Ein metaphysisch-theologischer Umriss der Tragweite des religiösen Erkennens' an der Universität Bonn. Danach arbeitete Dr. theol. Koepgen viele Jahre als Studienrat am Gymnasium Fabritianum in Krefeld. Er starb am 23. Februar 1978" (49).

 

Im Kapitel "Religiöse Denkformen" schreibt G.Koepgen: "Von den lebenden christlichen Gnostikern hat Berdjajew das Wesen des geistigen Pneumas am tiefsten durchdacht. Für ihn gehört zum Sein des Menschen ein Geöffnetsein für die geistige Welt. Und diese geistige Welt ist das Göttliche, nicht im Sinne der Metaphysik, sondern im Sinne der Dreifaltigkeit und der Offenbarung. Der Mensch bekennt sich nicht nur zur Offenbarung als einem historischen Ereignis – das ist der Weg des orthodoxen Protestantismus – sondern er wiederholt Inkarnation und Erlösung in seinem Innern gleichsam noch einmal. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Gottmensch; um ihn kristallisiert sich das gesamte Geschehen der Welt, ein Vorgang, den keine Logik oder historische Methode darstellen kann. Daher rühren die unserm kritischen Denken so anstößigen Formulierungen der Bibel, sie will etwas für unsere normale Vernunft tatsächlich Unaussprechliches dennoch aussprechen. Und nur derjenige, der keinen Sinn für das Wesen des geistigen Pneuma hat, kann es den Evangelisten verübeln, wenn sie die Bergpredigt nicht im stenographischen Reporterstil wiedergegeben haben. Das geistige Leben vollzieht sich nach Berdjajew in der Freiheit" (50 ).

 

Scheint dieses Zitat den berdjajewschen Intentionen positiv gegenüber zu stehen, so fährt der Autor wenig später fort: "Wir müssen allerdings bemerken, dass wir die platonisierenden Folgerungen Berdjajews nicht mitmachen können, der die Vernunft schließlich zur Teilfunktion des göttlichen Pneumas und Logos macht. Damit verfällt er gerade demselben Irrtum, den er in der Kritik dem abendländischen Naturalismus vorgeworfen hat: er setzt die geistigen Erfahrungen und Begriffe ontologischen Kategorien gleich. Darin liegt der Irrtum des Pantheismus, dass er die symbolische Sprache realistisch und ontologisch auswertet. Die gnostische Denkform muss immer das bleiben, was sie ist, nämlich Gnosis und keine Metaphysik […]. Wer die ökonomische oder logische Denkform mechanisch auf religiöse Dinge überträgt, wird nie zum Ziele kommen. Umgekehrt wäre es aber auch falsch, wenn man mit Berdjajew die gnostische Denkform zur alleingültigen machen will und die ganze Welt und ihre Geschichte unter diesen Aspekt stellt" (51). Koepgen ist explizit der Meinung, dass Berdjajew der einseitigen Auffassung einer nur vom Pneuma herkommenden Theologie erlegen sei, da für ihn nach dem hier folgendem Zitat N.Berdjajews die Dogmen nur exoterische Bedeutung hätten: "Die Anpassung des Christentums an die Vernunft dieser Welt ist die exoterische Seite des Christentums, verbunden mit dem komplizierten Weg der Wirkung der christlichen Wahrheit im Milieu der natürlichen Welt, in der Durchschnittsmasse der Menschen. Für sie wurden die theologischen Systeme organisiert, die unbeweglichen Kanones erschaffen. Die autoritativen Formen des religiösen Bewusstseins sind unerlässlich, wenn man die Wege der religiösen Führerschaft der Volksmassen gehen will. Das heteronome und autoritative religiöse Bewusstsein hat soziale Natur und soziale Bedeutung; es drückt nicht die religiöse Wahrheit in sich selber aus, es ist exoterisch" (52).

 

G.Koepgens Kommentar zu diesem Textausschnitt ist überdeutlich: "Das ist der vulkanische Boden, auf der der russische Gnostiker die Erörterung stellt. Gewiss wehrt er sich dagegen, etwas der Autorität der offiziellen Kirche Feindliches damit zu verbinden – Berdjajew ist grundsätzlich allem abhold, was auf Spaltung oder Protest innerhalb der Kirche hinausläuft, nichts wäre verkehrter, als ihn für einen liberalen Theologen oder Aufklärer zu halten – er ist homo religiosus et christianus schlechthin. Aber wir müssen uns doch fragen: ist bei einer Unterscheidung eines exoterischen und esoterischen Christentums die Kirche als Organisation noch zu retten? Steht nicht der tiefer erkennende Gnostiker über Gesetz und Dogma?" (53).

 

Es ist nicht zu verkennen, dass der katholische Theologe G.Koepgen sowohl vom paulinischen Schriftverständnis, das gnostisches Denken begründet ablehnt (vgl. 1 Kor. 13) als auch vom katholischen Kirchenverständnis her zu einer kritischen Stellungnahme kommen muss, die sich an vielen Stellen seines Werkes wiederholt. So kann er feststellen, dass – im Hinblick auf protestantische Irrtümer ("der Protestantismus ist ausschließlich auf geschichtliche Vorgänge eingestellt", a.a.O., S. 135) – der Katholizismus dem Protestantismus gegenüber kosmisch und pneumatisch, der Gnosis Berdjajews gegenüber historisch eingestellt sei (a.a.O., S. 135).

 

 

Fortsetzung