Mystik 3
B.
Die Gnosis im Werk N.Berdjajews
Bevor wir uns im zweiten Teil
unserer Arbeit dem Thema der Gnosis im Werk N.Berdjajews widmen und uns
hierbei wiederum von der Interpretation von M.-M.Davy (a.a.O., S. 133-140)
sowie von Originalquellen Berdjajews leiten lassen, sei einleitend zur
Begriffsgeschichte der Gnosis ausgeführt: "Bei der Gnosis (Erkenntnis) ist
das Erkennen nicht nur ein gedankliches Erfassen im Sinne der
Erkenntnistheorie, sondern zugleich ein Schauen oder Einswerden mit dem
Gegenstand der Erkenntnis. Dieser ist Gott und bzw. oder die von ihm
ausgehenden (mit ihm identischen) Zwecke und Gesetze der Welt und des
menschlichen Lebens. Sie zu wissen, bedeutet Sein und Handeln in ihnen und
damit letztlich, in Abstimmung mit dem vorausgesetzten Welt- und Menschenbild.
In diesem allgemeinen Sinne haben viele geistige Systeme eine gnostische
Komponente. Als gnostisch muss man auch die Grundlage aller jener Versuche
charakterisieren, welche die Einheit aller Religionen proklamieren. Hier ist
Gnosis ein Ausdruck des allgemein menschlichen Bedürfnisses nach der Einheit
von Glauben und Wissen, Mensch, Gott, Erde und Kosmos, kreatürlichem Sein und
ethischem Sollen, historischen Erscheinungen und allgemeiner Gültigkeit.
Insofern ist Gnosis ein elementares religiöses Verhalten, das seine Tiefe in
der schmerzenden Empfindung des Auseinanderfallens jener Pole verrät, die es
zur Einheit zusammenführen möchte" (25).
Schon im Jahre 1961 hat der
bedeutende Orientalist Henri Corbin in seiner Studie "Le combat spirituel
du Shî’isme" auf die uns bewegenden Fragestellungen – besonders die Mystik
– im Blick auf Berdjajew, den er auch zitiert, hingewiesen und ließ sich von
den Hauptthemen beeinflussen, die Berdjajew in seinem "Versuch einer
eschatologischen Metaphysik" entfaltet hat (26). Davy sagt dazu:
"Henry Corbin zeigt zutreffend die Konsequenzen der Sozialisation der religiösen
Erfahrung. Er vermutet ‚eine geheime und verhängnisvolle Verbindung zwischen
der Staatsgewalt und den Forderungen der fides historica und der
Vorbereitung eines Zeitalters, die das des historischen Materialismus
sein wird’“ (27).
Davy interpretiert: "Man
erfasst den Ernst dieser Äußerung, die Ergebnisse der religiösen Sozialisation
betreffend. Jede wahrhafte Religion sollte mystisch sein. In dem Maße, wie sie
sich gegen die Mystik wendet, verrät sie sich. Die Mystik – wie übrigens der
Prophet – kann sich nur gegen die Sozialisation des Spirituellen erheben"
(28).
In einem solchen Kontext
können die Begriffe vom "Prophetismus" und von "Gnosis",
angemessen für das Denken von Berdjajew, verwendet werden; hier wird eine
besondere Aufmerksamkeit vom Leser erfordert, um nicht Gefahr zu laufen, es zu
verändern.
Ähnlich wie in der
Betrachtung der Hildegard von Bingen, die in ihrer ersten Vision die Stimme
Gottes hört: "Öffne das Siegel der Geheimnisse", so sieht die Autorin
in diesem Sinne auch N.Berdjajew als Propheten: "Er spielt gerne auf einen
ekstatischen Zustand an, wenn er schreibt. Dieser Zustand der Ekstase ist
Erleuchtung, Erkenntnis und Enthüllung. An diesem letzten Punkt vereinigen sich
Prophetismus und Gnosis" (29).
Wenn – so Davy – ein
westlicher Philosoph oder ein Theologe über N.Berdjajew als „Gnostiker“
schreibt, handelt es sich hier sehr oft um ein pejoratives Urteil oder es sind
wenigstens einige Vorbehalte eingeschlossen, und man verdächtigt seine
Orthodoxie. Die Autorin stellt fest, dass das Problem der Gnosis eines von
denjenigen sei, das man tatsächlich am schwersten fassen könne, "und die
Unkenntnis steht häufig auf der Grundlage der missbräuchlichen Äußerungen, die
sie [die Gnosis] betreffen. […] Wenn Nicolas Berdiaev in einer gewissen Weise
ein Gnostiker genannt werden kann, so ist sein Denken jedoch gänzlich von aller
Ähnlichkeit mit der heterodoxen Gnosis getrennt; der manichäische Dualismus ist
ihm gänzlich fremd. Man findet in seinem Denken kein pantheistisches Element.
Es existiert bei ihm keine Gegnerschaft – ebenso wenig wie Dualität – zwischen
dem Licht und der Finsternis, der Erkenntnis und dem Unwissen, dem Geist und
der Materie. Wir haben manchmal Gelegenheit gehabt, dieses Thema zu prüfen. Für
Berdjajew ist ‚der Körper der Welt ein Symbol der Welt […]. Wir leben in einer
zweiten, widergespiegelten Welt’. Alles, der Mensch und die Welt, sind zur
Verklärung hin ausgerichtet. Die Seele ist nicht in der Materie eingekerkert,
kein ‚Fall’ des Lichts ist geschaffen, es ist keineswegs etwas von
Illuminatentum in dem Denken Berdjajews. Seine Gnosis verschwägert sich mit der
Jakob Böhmes; sie rechnet auch mit der Kabbala. Sie besteht genau in der
Erkenntnis des verborgenen Sinnes, das heißt der Esoterik der religiösen Wahrheit.
Dies ist immer der Übergang vom Buchstaben zum Geist, von der Ethik des
Gesetzes zur schöpferischen Ethik" (30).
Fassen wir die weitere
Interpretation von M.-M.Davy zusammen, so kann festgestellt werden, dass nach
Berdjajew die Gnosis notwendig ist. Diese Notwendigkeit sieht er darin, dass
die Gnosis alleine den Fortbestand des wahrhaften Christentums sichert. Dies
hängt damit zusammen, dass der Gnostiker eine spirituelle unmittelbare
Erfahrung besitzt und deshalb als „spiritueller oder innerer Mensch“ bezeichnet
werden kann. Die Unterscheidung zwischen den „Pneumatikern“ und den
„Psychikern“, die von der Gnosis vorgeschlagen wird, ist immer gültig.
"Sie setzt keine Dualität im Herzen des Christentums voraus, sie
bezeichnet nur zwei Entwürfe; der eine macht äußerliche Beobachtungen, der
andere durchdringt mit Liebe das Geheimnis der Offenbarung. Diese Erkenntnis
ist weder dem Alten noch dem Neuen Testament äußerlich. Man findet sie zum
Beispiel bei dem hl. Markus und bei dem hl. Johannes wieder. Es genügt, um sich
davon zu überzeugen, auf diese Texte zurückzugehen: "Aber euch,
ausgewählten Jüngern, ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu
erkennen. Aber der Menge werden die Dinge in Gleichnissen gesagt, damit sie
sehen und nicht verstehen, damit sie hören und nicht begreifen" (Mk
4,10-12). Der hl. Johannes macht eine Anspielung auf das göttliche Licht, das
von der Dunkelheit nicht ergriffen werden kann (Joh 1,5). Indem er sich an die
Samariterin wendet, ruft er die Erkenntnis hervor (Joh 4,23) (31). Ebenso
spricht der hl. Paulus von der dem Pneumatiker eigenen Erkenntnis, da das
göttliche Pneuma (der Geist) das menschliche Pneuma erleuchtet.
So ist die Gnosis von
Berdjajew beschaffen, deren Ergebnis die theophanische Vision ist, die mit der Erweckung
des Geistes im Menschen zusammenfällt. Der Gnostizismus aber ist eine
existentielle Haltung. "Ursprünglich sind die spirituellen Menschen von
den Psychikern nicht verschieden, denn jeder Mensch ist virtuell spirituell. Es
existieren jedoch wenige Gnostiker, weil nur eine kleine Anzahl von Menschen
fähig ist, eine wahrhafte Offenbarung zu empfangen. Aus Klugheit, um Irrtümern
zu entgehen, hat das offizielle Christentum immer versucht, die Suche der
Erkenntnis aufzuheben. Der Gnostiker, dessen spiritueller Körper sich dank des
Lichtes der Erkenntnis, das sein Sein verändert, gestaltet, ist nach einer
eschatologischen Perspektive hin ausgerichtet. Dieser Begriff betrifft in
seinem eschatologischen Sinn viele endliche Dinge. Er bezieht sich auf ein Jenseits,
dessen Ursprünglichkeit keineswegs darin besteht, sich außerhalb der Zeit zu
befinden und zu einer höheren Welt zu gehören, aber die Welt in ihrer
Verklärung zu betreffen. In dieser Perspektive bezeichnet das Heil den Übergang
der Welt des Fleisches zu der des Geistes. Pneumatismus und Eschatologie von
paulinischer und johanneischer Quelle liegen an der Basis des religiösen
östlich-orthodoxen Denkens. Berdjajew kommt – wir haben es gesehen – häufig auf
dieses Thema zurück. Ob es sich um den Menschen oder um den Kosmos handelt, es
existiert ein ängstliches Warten der Schöpfung [vgl. Röm 8]. Mit dieser in die
Tiefe des Seins eingeschriebenen Ungeduld besitzt der Gnostiker eine tiefe
Intuition. Mystiker und Gnostiker wissen, dass die Söhne Gottes die Sendung
besitzen, der Welt die Wachsamkeit dieses Wartens zu offenbaren, die vielleicht
einem Zustand des ausspähenden Wachens nach den Zeichen der Verwirklichung des
Reiches Gottes verglichen werden kann. Dies ist hier eine höchst aktive
Bewegung, denn dieses selige Warten ist überzeugt von der Herrlichkeit des
Menschen und des Kosmos, seiner wahren Bestimmung zurückgegeben" (32).
Wir übergehen im Folgenden
die von Berdjajew inspirierten Gedanken der Autorin über den Tod und die Hölle
(a.a.O., S. 137f.) und wenden uns ihrer Schlussbetrachtung zu: "Mystiker
und Gnostiker nehmen an der Verklärung der Welt teil, sie bereiten die
Machtergreifung des Gottesreiches vor, das sie schon in flüchtigen Augenblicken
durchdringen. Ihre Sendung – sie ist übrigens die Berufung jedes Christen –
ist, den Geist aufzuerwecken, und dadurch am Werk des Heiligen Geistes
mitzuarbeiten. Diese Befreiung ist eine Weisheit" (33).
Im Schlussabschnitt dieses
Kapitels kommt M.-M.Davy auf das Bild des "Todesengels" zu sprechen,
über den Lew Schestow in seinen Révélation de la Mort: Dostojewskij, Tolstoj
(Paris 1925) geschrieben hat und führt aus: "Es scheint, dass N.Berdjajew
den Besuch des Todesengels empfangen hat. Man könnte sich fragen, in welchem
Augenblick dieser sein Gastgeber war und ihm ein geheimnisvolles Paar Augen
hinterließ? Ohne Zweifel bei einer seiner schöpferischen, schnellen, aber
leuchtenden Ekstasen, die die Aufhebung der historischen Zeit, ein Eindringen
in die Ewigkeit sind, in diese Ewigkeit, nach der er Sehnsucht hatte und die er
uns lieben lässt. Hier sind wir wieder in das Paradox hineingezogen, denn der
Engel des Todes ist der Engel des Lebens" (34).
Exkurs:
Das Bild vom "Todesengel"
Der von M.-M.Davy benutzte
Ausdruck vom Todesengel ist recht ungewöhnlich. Bei der Durchsicht
russisch-orthodoxer Literatur stieß ich bei diesem Thema auf einen Aufsatz von
P.A.Florenskij mit dem Titel "Die den Tod in Ewigkeit nicht sehen"
(35). In seinen Reflexionen beschäftigt sich Florenskij zunächst mit dem
Terminus des "Sehens" des Todes und schreibt dann zum Todesengel:
"Eine mythologische Gestalt pflegt jedoch keine absichtliche Verkörperung
abstrakter Begriffe oder innerer Erlebnisse zu sein und kann es auch nicht
sein. Wie immer wir den psychologischen Vorgang einordnen wollen, [dass also
die Gestalt des Todesengels oder des Todesgenius als geistiges
Wesen, das den Lebensfaden durchtrennt und die Seele in die andere Welt
hinübernimmt, schwer vorstellbar ist] wir werden es zweifellos mit einer
Gestalt zu tun haben, die plastisch hervortritt, die sichtbar ist und nicht nur
ein Gedanke; gewiss gibt es einen inneren Bezug zwischen uns und ihr, aber sie
ist gegenständlich. Darum wird man auch den Todesengel nicht als eine verbale
Aussage des Gedankens vom Ende und der Empfindung dieses Endes verstehen
dürfen. Tatsächlich wird er Sterbenden sichtbar, und oft genug furchtbar und
schrecklich. Relativ selten sprechen Sterbende davon, dass sie den Tod sehen,
und zwar nicht deshalb, weil sie es nicht sagen können, sondern weil hier ein
Geheimnis empfunden wird. Von diesem Gast aus einer anderen Welt will man
gemeinhin den Lebenden nicht sprechen. Wenn in jenem allergrößten Schrecken der
Sterbende seine Gefühle nicht mehr verbergen kann und sein Blick in eine
bestimmte Richtung gelenkt wird, fallen den Anwesenden seine
unzusammenhängenden Äußerungen und eine unwillkürliche Geste der Abwehr auf und
dass mit ihm etwas ganz Eigenes zu geschehen begonnen hat. Auf ihre Fragen
schweigt er gewöhnlich oder versucht, die Beobachtungen der Umstehenden durch unzusammenhängende
Worte zu zerstreuen.
Von dem, was er erfährt, kann
man nur in der Sprache der Mystik reden bzw. davon ist es "unmöglich zu
reden"; vielleicht auch deshalb, weil jedes Wort darüber – wie Tjutschew
bemerkt – eine "Lüge" ist. Es lässt sich nicht fassen. Bei derartigen
Erscheinungen befällt einen gebieterisch das Gefühl von etwas Verbotenem: Wenn
man es sagt, geschieht etwas unbegreiflich Schreckliches; wenn im Gespräch der
Gedanke an eine frühere Erscheinung auftaucht, lähmt er die Zunge, plötzlich
baut sich ein Hindernis auf, und der erschrockene Mensch sucht sich durch die
Flucht wie vor einem drohenden Abgrund zu retten. Eben dieses Empfinden, nur
unvergleichlich stärker, versiegelt den Mund des Sterbenden.
Aber nicht immer ist das Ende
mechanisch durch den Zustand des Organismus vorherzubestimmen. Häufig wird es
als Ausgang eines "harten Ringens" verschiedener Kräfte über Leben
und Tod entschieden. Es kommt vor, dass das Ende schon einzutreten scheint, ja
sogar in einem bestimmten Sinne schon eingetreten ist, dann aber auf einen
anderen Zeitpunkt verschoben wird. Da nähert sich der Engel des Todes, bereit,
das seine zu tun und wartet nur auf den Ausgang des Kampfes. Zuweilen hält er
sich lange bei dem Sterbenden auf, weil der Kampf selbst sich auf eine relativ
lange Frist erstreckt. Indessen behalten früher oder später die Kräfte des
Lebens die Oberhand, und der "Bote des Todes" muss, ohne sein Werk
vollendet zu haben, davon abstehen. Der Genesende vergisst meist seine Vision.
Diese Gedächtnislücke ist eine instinktive Vorkehrung seines Organismus, ihm
das Wahrgenommene zu verschweigen.
In einigen Fällen setzt sich
jedoch das Gedächtnis durch, besonders dann, wenn der Organismus noch nicht
ganz wiederhergestellt ist. Dann hört man wohl in der Beichte oder in einem
vertraulichen freundschaftlichen Gespräch das Eingeständnis von jenem
geheimnisvollen Boten des Todes. Häufig spricht man dann vom Tod oder vom
"Gevatter Tod". Er wird zwar unterschiedlich beschrieben, in der
Sache ist es aber immer das gleiche: Der Tod gleicht der Figur aus dem
"Totentanz" (36).
Nach dieser eindrucksvollen
Beschreibung des "Todesengels" beenden wir unseren Exkurs, bestehend
aus Zitaten des recht unbekannt gebliebenen Florenskij-Textes, mit einem
abschließenden Ausblick: "So wird im Angesicht des Todes der Lebensfaden
durchschnitten. Der an Christus Glaubende jedoch wird nach Seiner Verheißung in
Ewigkeit nicht sterben noch den Tod schauen. Das letzte muss buchstäblich
verstanden werden. Der Tod wird nicht an seinem Lager stehen. Er kommt
überhaupt nicht von ungefähr, ziellos, folglich: Wenn er in einem Fall nicht
kommt, dann deswegen, weil es nicht nötig ist, es gibt für die Seele keine
Veranlassung, angenommen und hinübergeführt zu werden. Das aber kann nur
bedeuten, dass die Seele schon zu einem neuen Leben wiedergeboren wurde und –
noch im Körper – bereits die Luft der anderen Welt atmete. Sie hat keine
Nabelschnur, die sie mit der unteren Welt verbindet, deren Durchtrennung im
Menschen gewöhnlich größten Schrecken und instinktive Abwehr mit aller Kraft
seines Seins auslöst. Mithin erfährt er beim Übergang von hier in das andere
Leben keinen qualitativen Sprung seines Schicksals. Noch im Körper, schaut er
bereits gleichsam wie durch ein Fenster jene Welt, in der er nun gehen und
fliegen und weilen kann. Er wird von Luft umweht, die bereits früher sein Odem
war" (37).