Mystik 2
In ähnlicher Weise wie
M.P.Begzos sieht auch W.Dietrich die Beziehungen Berdjajews zur griechischen
Patristik. Im Blick auf Athanasius den Großen führt er, Berdjajew zitierend,
aus: „Der hl. Athanasius der Große kämpfte mit Arius nicht um eine Doktrin oder
Lehre, sondern um das Leben und um den wahren Weg, um die echten Begegnungen
mit der geistigen Welt“ [Philosophie des freien Geistes, S. 120], und Dietrich
ergänzt: "Dem heiligen Athanasius dem Großen offenbarte sich die Wahrheit von
der Homousie' als Wahrheit des geistigen Lebens, in der der Mensch seine
Bestimmung erkennt und auslebt. Der Mensch soll seiner selbst bewusst werden
als einer, der bis in den Grund durch Christus geprägt ist" (14).
Es sei auch erwähnt, dass
Berdjajew Beziehungen zu Gregor von Nyssa sieht, und Begzos bemerkt dazu:
"Grundanliegen bleibt immer und ständig bei ihm [Berdjajew] das
Gottmenschentum, die Theoandrie, welche Gregor von Nyssa begründet hat […]. Die
Theoandrie Berdjajews verankert sich nicht nur in der Anthropologie, sondern
auch in der Theologie, speziell in der Christologie" (a.a.O., S. 6). Es
ist eines der Hauptanliegen Berdjajews, so etwas wie eine "Christologie
des Menschen" zu begründen, wie er sie auch bei Gregor von Nyssa in
Ansätzen entworfen sieht. Wie O.Clément in seinem Werk "Berdiaev – Un
philosophe russe en France" gezeigt hat, habe Berdjajew den Gedanken der
"Christologie des Menschen" von Viktor Nesmelow (1863-1920)
übernommen (a.a.O., S. 52).
Mit M.P.Begzos fassen wir
zusammen und beschließen damit unser Kapitel über die Theandrie/Theoandrie bei
Berdjajew: "Aus all diesen obenerwähnten Einsichten Berdjajews geht die
enge Beziehung des gegenwärtigen russischen Philosophen mit Gregor von Nyssa
hervor. Er ist in bestimmter Hinsicht ein Vorläufer einer christologischen
Anthropologie, die noch nicht in christlichen Kreisen vorhanden ist. Kernstück
solcher Anthropologie ist die Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen im
Gottmenschentum, in der Theoandrie. Weder das Göttliche noch das Menschliche,
sondern beides, d.h. das Gottmenschliche, das Theoandrische spielt eine Rolle
dabei. „Das Menschliche darf weder mit dem Humanismus noch mit dem
Humanitarismus verwechselt werden, es ist das, was im Menschen zugleich
göttlich und menschlich ist. Das christologische Dogma ist ein symbolischer
Ausdruck für diese Wahrheit von der Vereinigung des Göttlichen mit dem
Menschlichen“" (15).
Exkurs
2: Der Begriff "Theandrismus" im Kontext der Überlegungen R.Panikkars
Der katholische Philosoph,
Theologe und Religionswissenschaftler R.Panikkar hat sich in seiner Studie
"Trinität" ebenfalls des recht selten benutzten Begriffes
"Theandrismus" bedient (16). Um von anderer Seite her noch eine
Präzision des Begriffs der Theandrie (Theoandrie) zu erreichen, wenden wir uns
im zweiten Teil unseres Exkurses den Überlegungen R.Panikkars zum Thema zu.
"Theandrismus ist die klassische, traditionelle Bezeichnung für jene
innige und vollständige Einheit zwischen dem Göttlichen und dem menschlichen,
die sich paradigmatisch in Christus verwirklicht und die der Endzweck ist, auf
den sich alles in dieser Welt durch Christus und den Heiligen Geist zubewegt.
Diese Bezeichnung erscheint mir besonders geeignet, um die Synthese der drei
vorhin dargestellten spirituellen Anschauungen [gemeint sind vom Autor die drei
Gestalten der Trinität: Vater, Sohn und Hl. Geist], ebenso wie die drei von
diesen abgeleiteten Formen der Spiritualität zu beschreiben, die der Weg des
Vaters, des Sohnes und des Geistes genannt werden. Neuerdings pflege ich von
einer kosmotheandrischen Spiritualität zu reden, da der Kosmos einen
ebenbürtigen Partner in dieser Ganzheit darstellt (17) […]. Ich verwende lieber
die Bezeichnung theandrisch als trinitarisch, um diese Synthese
und die gesamte katholische Spiritualität (kath’holon), in der sie
gipfelt, zu kennzeichnen. Als Grund dafür möchte ich erstens anführen, dass die
gegenwärtige Theologie das trinitarische Geheimnis allzu häufig der
ausschließlichen Sphäre des Göttlichen zugeordnet hat, der ‚Theologie’ in dem
Sinn, in dem dieses Wort von den Scholastikern verwendet wurde, das heißt als
Studium von Gott-an-sich, fast völlig losgelöst von der ‚Ökonomie’ oder dem
Studium Gottes in seiner ‚zeitlichen Manifestation’, nämlich in der Schöpfung
und in der Inkarnation. Eine trinitarische Spiritualität im engen Sinn
des Wortes läuft Gefahr, dass sie die Notwendigkeit der Dimension der
Fleischwerdung, des Menschlichen, ohne welche die ganze Synthese zwangsläufig
verarmt, außer acht lässt oder zumindest nicht genügend vertritt […]. Die
Bezeichnung ‚Theandrismus’ deutet mit hinlänglicher Klarheit die beiden
Elemente jeglicher Spiritualität an: das menschliche Element, das als
Ausgangspunkt dient, und der außermenschliche Faktor, der sie von innen her
belebt und ihre transzendente Folge ist. Ich leugne nicht, dass meine Deutung
des Theandrismus in Wirklichkeit trinitarisch und christlich ist, möchte jedoch
klarstellen, dass der Theandrismus als Konzept nicht von vornherein dem
christlichen Glauben innewohnt, noch ausschließlich von diesem geprägt wurde.
Im Gegenteil, der Theandrismus ist präsent als das Endziel, auf welches das
religiöse Bewusstsein der ganzen Menschheit zustrebt, sowie als die
angemessenste Auslegung der mystischen Erfahrung, in der jede religiöse
Erfahrung gipfelt. Christus ist zugleich Gott und Mensch" (18).
Mit seinen weiteren
Äusserungen trifft sich Panikkar mit N.Berdjajew in ganz erstaunlicher Weise,
wenn er feststellt, dass „der wahre Mensch“ unendlich weit über den „Menschen“
hinausgeht. Der Mensch ist von seinem Wesen her zur Gotteskindschaft berufen,
"eins zu sein mit dem einzigen Sohn". Damit nähert sich Panikkar der
häufig von Berdjajew erhobenen Forderung nach einer Christologie des
Menschen, und der Autor ergänzt: "Es geht ohne Zweifel auf das griechische
Erbe zurück, dass der abendländische Mensch bis heute eine solche Scheu davor
hat, das Göttliche im Menschen zu erkennen. Es besteht die Furcht, ja, eine
beklemmende Angst, dass das menschliche Wesen damit seine Individualität
verlieren würde […]. In der psychologischen und anthropologischen Sphäre liegt
die Bedeutung der theandrischen Spiritualität auf der Hand. Sie stellt in
größtmöglichem Maß eine harmonische Synthese zwischen den Spannungen und
Polaritäten des Lebens dar: zwischen Körper und Seele, Geist und Materie,
männlich und weiblich, Aktion und Kontemplation, dem Heiligen und Profanen, dem
Vertikalen und Horizontalen, mit einem Wort, zwischen dem, was man weiterhin
das Göttliche nennen könnte, und dem, was wir gewohnheitsmäßig als menschlich
bezeichnen" (19). Panikkars Synthese umfasst also den Gedanken, "dass
das Grundkonzept des Theandrismus in der Erkenntnis besteht, dass der Mensch
ein grenzenloses Vermögen besitzt, das ihn mit der asymptotischen Grenze
vereint, die Gott genannt wird; oder, mit anderen Worten, dass Gott das
Endziel, die Grenze des Menschen, ist" (20).
Will nach R.Panikkar und auch
im Sinne Berdjajews eine theandrische Spiritualität eine nicht-dualistische
Anschauung dieser zwei Pole der Wirklichkeit – nämlich von Gott und Mensch –
wiederherstellen, so ist zu konstatieren: "Eine rein empirische, auf das
Irdische beschränkte Anthropologie erniedrigt den Menschen, während eine
ausschließliche „Offenbarungstheologie“ [etwa im Sinne K.Barths] Gott selbst
zerstört".
Panikkar führt aus:
"Mensch und Gott sind weder eins noch zwei. Der Theandrismus ist jene
Intuition, die ein großer Teil der Denker aller Zeiten erfasst und verkündet
hat, obgleich sie dabei häufig als Gegenreaktion einen der Pole auf Kosten des
anderen stärker betont oder Terminologien verwendet haben, die nicht
ausreichten, um die Spannung zwischen beiden Polen der Wirklichkeit zu tragen.
Die Waage kommt aus dem Gleichgewicht, wenn man aufhört, auf den Zeiger in der
Mitte zu schauen; wenn wir Gott anschauen, werden wir geblendet, wenn wir auf
den Menschen schauen, werden wir betäubt" (21).
So wie Berdjajew eine
schöpferische Bezogenheit von Gott und Mensch im wechselseitigen Verhältnis
zueinander entdeckte und in vielen sprachlichen Variationen formulierte, so
kommt es auch R.Panikkar darauf an, eine theandrische Wirklichkeit zu schauen,
in der nicht ein rein transzendenter Gott und auch kein unabhängiger
Mensch getrennt voneinander wirken. Es gibt nicht mehr zwei Realitäten in
einem nicht-dualistischen Raum. Da sind weder Gott und Mensch noch
existieren Gott oder Mensch. Vielmehr sieht der Autor die Wirklichkeit
kosmotheandrisch. Gott, Mensch und Welt sind aufeinander bezogen: "Gott
und Mensch stehen sozusagen in einer engen und wesenhaften Beziehung des
Zusammenwirkens, um die Wirklichkeit zu gestalten, die Geschichte zu entfalten
und die Schöpfung fortzusetzen. Es ist nicht so, dass der Mensch sich hier auf
Erden abrackert, während Gott ihn von oben beaufsichtigt und ihm Belohnung oder
Strafe in Aussicht stellt. Es gibt eine Bewegung, eine Dynamik, ein Wachstum in
dem, was die Christen den mystischen Leib Christi und die Buddhisten dharmakâya
nennen, um nur zwei Beispiele aufzuführen. Gott, Mensch und Welt sind einem
einzigartigen Abenteuer verpflichtet, und diese Verpflichtung macht die wahre
Wirklichkeit aus" (22).
Wenden wir uns nach diesen
unfangreichen Exkursen wieder den Ausführungen der französischen Autorin Davy,
die leider im deutschen Sprachbereich recht unbekannt blieb, zu, so stellen wir
mit ihr fest, dass das christliche Denken N.Berdjajews auf einmal den „Körper“
des Christentums und seinen Geist wiedererkannte. Dabei handelte es sich
keineswegs um ein abstraktes, sondern um ein lebendiges Christentum, dessen
Körper vom Geist erleuchtet ist. Die Mystik sieht M.-M.Davy als der Realität
des Christentums und seinem tiefen Leben, unleugbar in seinem Wesen, zugehörig
an. Das Geheimnis der christlichen Offenbarung entkommt dem Sektierertum ebenso
wie dem Rationalismus, um die Metaphysik wahrzunehmen. M.-M.Davy zitiert
Berdjajews Aussagen, die uns darin bestärken, wie sehr der Autor einem ganz
besonderen spirituellen Weg verpflichtet war: "Die Mystiker [...] drücken
das Geheimnis des theandrischen Lebens aus [...]. Die Erfahrung der Heiligen
vermittelt uns eine tiefere Kenntnis der menschlichen Persönlichkeit als alle
vereinigte Metaphysik und Theologie" (Das Reich des Geistes und das Reich
des Caesar). Aus diesen und anderen, hier nicht wiedergegebenen Zitaten Berdjajews
kommt die Verfasserin zum Ergebnis, dass der Mensch stets unter zwei Aspekten
betrachtet worden ist: unter dem des äußeren und dem des inneren Menschen. Der
erste Aspekt bietet sich dem zerstreuten Blick an. Für bestimmte Menschen ist
die Gestalt ausreichend, sie erzeugt die Aufmerksamkeit, die Leidenschaft, den
Neid. Das andere Antlitz offenbart sich nur dem, der, die Gestalt
überschreitend, betrachtet, dass das Wesentliche zum Geheimnis gehört und dass
es eine Rolle spielt, sich ihm mit der erforderlichen Haltung zu nähern: mit
derjenigen des Respekts, der Sammlung und der Liebe. Die Mehrheit der Menschen
sucht im anderen die Gelegenheit, sich zu zerstreuen; andere, verliebt in die
Unendlichkeit, erörtern es in der Stille von einem Jenseits des Zeitlichen; die
Begegnung des Geheimnisses begründet die Schwelle der Ewigkeit. Welchen Weg
schlägt die Autorin vor, um dem Geheimnis näher zu kommen? "Der Mensch,
der das Mysterium zurückweist, bleibt in der Sphäre des Götzendienstes mit
allem, was er an Egoismus von Trennung und Endlichkeit mit sich bringt. Dagegen
findet der zur geheimnisvollen Realität hin orientierte Mensch nach mehr oder
weniger schmerzhaften Reinigungen die Harmonie und die Einheit. Das Geheimnis,
das der Mensch verbirgt, ist an sein Innenleben gebunden. Als Mikrokosmos und
Mikrotheos besitzt der Mensch ein geheimes Band mit der Welt und mit Gott. Dies
geschieht durch sein Innenleben, das spirituell ist, und allein die Mystik ist
fähig, das Geheimnis seines Verhältnisses mit der Welt und mit Gott zu
erfassen" (23).
Folgen wir weiter den
Ausführungen von M.-M.Davy und fassen ihre wesentlichen Aussagen in oft
wörtlicher Übertragung zusammen: Die Mystik belebt das religiöse Leben. Dennoch
erscheinen die Religionen häufig gegenüber den Mystikern feindlich. Berdjajew
kommt häufig auf diesen Widerspruch zurück, dem er zugesteht, dass man ihn von
verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten kann. Es genüge schon, die Geschichte
des religiösen Gedankens zu betrachten, um sich davon zu überzeugen. Solange
die Mystiker am Leben sind, scheint ihre Erfahrung beunruhigend zu sein; sie
zerreißen die Segel, und die Undurchsichtigkeit ist beruhigend; sie besitzen
eine souveräne Freiheit, indem sie so der Herde entfliehen. Die Notwendigkeit,
sich der Menschheit anzupassen, erzwingt eine gewisse Mittelmäßigkeit, der
Primat wird oft der Äußerlichkeit durch das Bemühen um Oberflächlichkeit
gegeben.
N.Berdjajew bemerkte, dass
gewisse theologische Systeme versucht sind, eine Gegnerschaft zwischen der
Natur und der Gnade zu befestigen. Bald erscheint der Geist getrennt, der
selbständigen Eigenschaften beraubt, gänzlich an die Seele gebunden, indem er
einen Teil der Natur bildete; bald ist der Geist allein dem Göttlichen Sein
zugeordnet, er präsentiert sich wie die vom Heiligen Geist verliehene Gnade.
Recht oft findet sich der Geist von der Tiefe des Menschen zurückgewiesen.
Was Wesen und Bedeutung des
Heiligen Geistes angeht, so besteht Berdjajew häufig auf der Tatsache, dass das
Christentum die Rolle des Heiligen Geistes nur ungenügend anerkennt. Der Geist
ist noch in der Seele „eingekerkert“, man ignoriert, dass das ganze spirituelle
Leben in Gott und im Heiligen Geist eingepflanzt ist.
Beschließen wir unseren
ersten Teil über die Mystik mit einigen Bemerkungen von M.-M.Davy, die auch
Berdjajews Anliegen aufnehmen: "Im spirituellen Leben existiert weder ein
Objekt noch ein das Objekt reflektierendes Subjekt, weil alles in ihm [dem
Subjekt] identisch ist. Wenn das Bewusstein des mittelmäßigen Menschen die spirituelle
Erfahrung ablehnt, darf seine Ablehnung, wohl von aller Fassungskraft beraubt,
uns nicht umso weniger erstaunen. Der Mensch, einzigartig in eine natürliche
Welt gesetzt, überschreitet nicht die Grenzen dieser Welt. Er drückt sich durch
die Vermittlung dessen, was er kennt, aus. Oder das, was er kennt, wüsste nicht
die Grenzen des Seelenlebens oder des Psychologischen zu überschreiten, er geht
nicht jenseits der Welt der Seele, er bleibt den Gesetzen der natürlichen Welt
untergeordnet, dessen wahrhaftes Leben abwesend ist, denn alles ist für ihn im
Raum festgelegt, die Zeit und die Materie; er ignoriert die geheimnisvolle
Tiefe, wo der Geist sich offenbart. Auf dieser Ebene sind die Seele und Gott
selbst Realitäten, denen der materiellen Welt vergleichbar. Gott ist nun eine
bewegungslose Substanz. Von diesem Sachverhalt her sind die Seele, die Welt und
Gott getrennt, ein unüberschreitbarer Abgrund trennt sie. Die körperliche und
die seelische Welt ist eine Welt, wo alles ein Riss ist. In dem Maß, in dem ich
schmerzhaft meine Einsamkeit verspüre, wo das Elend, geboren aus meiner
Trennung mich zerreißt, kann ich mir meine Wohnung in der natürlichen Welt in
Erinnerung rufen. In diesem Falle würde keine spirituelle Erfahrung existieren.
Diese Erfahrung ‚ist nur möglich, indem man annimmt, dass der Mensch ein
Mikrokosmos ist, der in sich das ganze Universum offenbart, und dass keine
transzendenten Grenzen existieren, die die Seele von Gott und von der Welt
trennen’ [Zitat Berdjajews]. Wenn man diese Realität akzeptiert, würde keine
innere Einsamkeit mehr existieren, die göttliche Welt ist eins, sie umarmt die
Totalität in einer Bewegung, die das Leben selbst ist" (24).