Christliche Mystik 2

 

 

B. Gottes Menschheit schließt die Lehren der Trinität und der Inkarnation ein

 

1. Die zwei Dogmen können durch eine Metaphysik der Teilhabe erreicht werden

 

Nach Berdjajew können die Trinität und Gottes Inkarnation durch eine Metaphysik der Teilhabe und konkreten Idealismus erreicht werden. Er besteht auf der anthropologischen Annäherung an das trinitarische Mysterium. Was Mereschkowskij "historisches Christentum" nannte, entbehrte der Dimension der religiösen Anthropologie: Christliches Bewusstsein hat darin versagt, sich adäquat an Gottes Menschlichkeit und an die göttliche Würde in der Menschheit zu wenden (31). Für Berdjajew schließt Solowjews Lehre von Gottes Menschheit die Dogmen der Trinität und der Inkarnation ein. Es schließt auch die Modellhaftigkeit ein: Gottes Schöpfung spiegelt das trinitarische Modell. Das menschliche Reich spiegelt das göttliche Reich, und das Leben der menschlichen Person "formt einen inneren Aspekt des Mysteriums der Trinität" (32).

 

Berdjajew verkündete seinen religiösen Humanismus in seinem ersten Buch, Die Philosophie der Freiheit (1908-1910). Hier stellt er fest, dass religiöse Anthropologie benötigt wird, um „die Fehde des Humanismus mit Gott zu beenden". Religiöse Anthropologie ist direkt im Christentum eingeschlossen, was sowohl die Religion von Gottes Menschheit als auch der Heiligen Trinität ist, und ebenso die "Erfüllung der Dialektik der Trinität, worin die Schöpfung frei zu ihrem Schöpfer zurückkehrt" (33).

 

In seinem nächsten Werk Der Sinn des Schaffens (abgeschlossen 1914, veröffentlicht 1916 in Moskau), dem Gedächtnis Wladimir Solowjews gewidmet, begründet Berdjajew die religiöse Rechtfertigung für menschliches Schöpfertum. Er stellt die mystische Tradition dar, teilweise die franziskanische Mystik als die Begründung für die Lehre von Gottes Menschheit. Er führt Solowjews Idee des Gott-Menschtums auf den Einfluss von Böhme und die anthropozentrische Mystik der Kabbalah zurück. Obwohl die Kabbalah die Inkarnation des Göttlichen im Menschlichen nicht erläuterte, schließt sie die Inkarnation durch ihre mystische Vorstellung des Adam Kadmon, den urzeitlichen Menschen, der in der Gottheit selbst wohnt, ein (34). Aber er findet den höchsten Beweis für diese Lehre in der Offenbarung der Angela von Foligno, die zur franziskanischen Tradition gehörte: Einige Werke der römisch-katholischen Mystik sind von schwindelerregender Höhe. Ich fand bei Angela von Foligno einen Abschnitt, der in seiner Kühnheit und in seiner Höhe des menschlichen Selbst-Bewusstseins alles andere überschreitet, das man in der mystischen Literatur lesen kann. "In der ungeheureren Dunkelheit sehe ich die Heilige Trinität und in der Trinität, bei Nacht wahrgenommen, sehe ich mich selbst, im Zentrum stehend". Die Mystiker haben die menschliche Person in dem eigentlichen Schoß der göttlichen Trinität gesehen (35).

 

Berdjajew verbindet ausdrücklich die Lehre von Gottes Menschheit mit trinitarischer Liebestheologie. Weil Gott unendliche Liebe ist, erschafft Gott uns und lädt uns ein, an seiner Schöpfung teilzunehmen; so konnte das Reich Gottes nicht ohne uns verwirklicht werden. Darauf besteht Berdjajew: "Das Reich Gottes ist das Reich von Gottes Menschlichkeit". "Darin wird Gott schließlich im Menschen geboren und der Mensch in Gott, und dies wird im Geist vervollständigt" (36). Die Lehre von Gottes Menschlichkeit schließt ein, dass, wenn die Liebe innerhalb Gottes die Trinität gestaltet, Liebe außerhalb [Gottes] die Schöpfung und die Inkarnation erfordert. Sie schließt auch die höchste Freiheit der Schöpfung ein. "Wenn wir sagen, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, drücken wir etwas grenzenlos Geheimnisvolleres als eine kausale Beziehung aus. In Beziehung zur Welt ist Gott Freiheit, nicht Notwendigkeit oder Determination (37).

 

Indem er Solowjew und Mereschkowskij folgt, behauptet Berdjajew, dass wir weder die Welt noch die Geschichte verstehen können, wenn wir die Idee der göttlichen Dreieinigkeit ignorieren. "Wir müssen den Logos in das Herz der Tragödie der Welt stellen. Die Weltgeschichte begann in der Dialektik der göttlichen Dreieinigkeit und wird ewig dort gelöst". Die Schöpfung der Welt ist das Ergebnis der göttlichen Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn im Geist. Der Sohn steht am Ursprung der Schöpfung und Erlösung. Als solcher ist er "das göttliche, ideale, absolute und vollkommene Prinzip der Menschheit". So wird die mystische Dialektik der Schöpfung in der Dreieinigkeit Gottes erfüllt. Wie Mereschkowskij bestimmt er den Heiligen Geist als das synthetisierende Prinzip in der dreieinigen mystischen Dialektik: der trennende Gegensatz von Vater und Sohn ist im Geist versöhnt" (38).

 

Zuerst folgte Berdjajew Mereschkowskijs Lehre über die drei Bünde und politisierte die trinitarische Offenbarung. Er sagte voraus, dass das neue Bewusstsein des dritten Bundes "die Irrtümer der alten Theokratien und neuen Demokratien herausstellen würde", indem er die Lehre von Gottes Menschlichkeit betonte (39). In seinem Sinn des Schaffens änderte Berdjajew jedoch radikal Mereschkowskijs Idee des dritten Bundes. Er verlagerte die Erwartung des dritten Bundes von Gott auf den Menschen, von der Theologie auf die Anthropologie. Wir Menschen müssen die Offenbarung unseres Schöpfertums Gott gegenüber erzeugen. Es ist Gott, der die anthropologische Offenbarung von uns erwartet, die wir in unserer Freiheit auf Gottes Ruf schöpferisch antworten müssen (40).

 

Berdjajew stimmt nicht mit Mereschkowskijs Sektierertum überein und, indem er Solowjew folgt, betont er, dass nur kirchliche Mystik die Wahrheit von Gottes Menschlichkeit unterstützt. Nur kirchliche Mystik bestätigt das Wesentliche des Fleisches und bewahrt das Mysterium des "göttlichen Materialismus" (bogomaterializm), weil außerhalb der Kirche die Mystik gewöhnlich in einen körperlosen Spiritualismus fällt. Nur kirchliche Mystik besteht auf dem Mysterium der göttlichen Dreieinigkeit. Berdjajew beweist den letzten Punkt mit dem Beispiel von Swedenborg, der, weil seine Mystik nicht in der Kirche verankert war, nicht das Geheimnis der Trinität begreifen konnte und es als Tri-Theismus betrachtete (41).

 

Gemäß Berdjajew sind Freiheit und kirchliche Mystik verbunden, weil der Grund von beiden das Mysterium der Persönlichkeit ist. Berdjajew erweitert den Begriff der Kirche, indem er sie als die vereinigte christliche Gemeinschaft betrachtet. Er besteht darauf, dass die Moderne das Thema der Kircheneinheit hervorbringt, und dass die wiederbelebte Weltchristenheit und die russisch-orthodoxe Kirche von einem sich entwickelnden universalen Kirchenbewusstsein abhängen. Die Kirche ist für Berdjajew "nicht so sehr örtlich und national oder sogar orthodox im historischen Sinne des Wortes, sondern die katholische universale Kirche, die kosmische Kirche, obgleich durch heilige Tradition, die Priesterschaft und die Sakramente gebunden“ (42).

 

Der Geist der universalen Kirche ist gegründet in der Kirche, bewahrt mystische Erfahrung und prüft immer ihr Verständnis der zwei zentralen Dogmen, die den Kern von Gottes Menschlichkeit ausdrücken.

 

Das Mysterium des Christentums ist das Mysterium der "Zwei-in-Ein-heit" (Gott-Menschheit), die ihre Lösung in der "Drei-in-Ein-heit" findet, weil die Grundlage des Christentums das christologische Dogma der gott-menschlichen Natur Christi ist, und das trinitarische Dogma der Heiligen Trinität" (43).

 

2. Die Trinität als der Zusammenfall der Gegensätze steht jenseits des Gesetzes der Identität

 

Berdjajew behaupet, dass die Vernunft machtlos ist, die Mysterien der Inkarnation und der Trinität zu begreifen. Sie können nicht wissenschaftlich bewiesen werden. Das Wunder von Jesu Auferstehung und die Wahrheit von Gottes Dreieinigkeit appellieren an menschliche Freiheit und Liebe. Beide Dogmen sind als existentielle und personalistische Wahrheiten nicht durch wissenschaftliche Erforschung oder diskursive Vernunft aufweisbar: diese beschäftigen sich mit dem objektivierten Reich der Dingwelt außerhalb des persönlichen Reichs.

 

Indem er Boffs Kritik vorwegnimmt, dass die Lehre von der Trinität beendet wird, das Mysterium der Rettung zu sein und ein Problem der Logik wurde, versichert Berdjajew, dass die trinitarische Lehre nicht vom Gesetz der Identität, "dem Hauptgesetz der Vernunft", abgeleitet werden kann. Das Gesetz der Identität drückt die gefallene und begrenzte Ordnung der Natur als entgegengesetzt zu der Ordnung der Freiheit aus. Die Lehre von der Trinität auf der anderen Seite schließt den Glauben an das Reich der unendlichen Existenz ein. Solche Existenz ist durch das Gesetz der Vernunft ungezwungen. Die trinitarische Lehre "ist nicht von dem Gesetz der Logik, sondern vom Gesetz des Logos sanktioniert", und sie kann eher vom intuitiven als vom diskursiven Denken ergriffen werden (44).

 

Berdjajew nahm begeistert De Docta ignorantia des Nikolaus von Cues auf. Er nennt ihn ein "Genie" (45), und betont, dass die "größten religiösen Denker" Nikolaus’ Lehre teilten, dass Gott die coincidentia oppositorum [Zusammenfall der Gegensätze] ist, was den einzigen Weg der Annäherung an das Mysterium Gottes vorsieht (46). Wie es Solowjew und Mereschkowskij taten, so betrachtet Berdjajew die Trinitätslehre als das höchste Beispiel des Zusammenfalls der Gegensätze. Es ist als solches nur durch symbolische Philosophie, gegründet auf mystischer Erfahrung, denkbar. Er stellt fest: Die Gottheit wird nicht von den Kategorien der Vernunft erfasst, sondern in den Offenbarungen des spirituellen Lebens; unerleuchtet vom Glauben, neigt die Vernunft natürlich zum Monismus oder Dualismus, und sie wird gestört, sogar geängstigt vom mythischen Charakter der christlichen Trinität: hier ist die Vernunft bereit, Polytheismus zu sehen. Nur Mythos oder Symbol, nicht Begriffe, können uns helfen, die Trinität zu verstehen (47). Indem er sich weiter den Einsichten der Mystiker annähert, lehrt Berdjajew mit Ruusbroec, dass in Gott absolute Ruhe mit absoluter Bewegung zusammenfällt (48). Diese Beobachtung bringt Berdjajew wieder zur Hochschätzung von Nikolaus' von Cues Definition Gottes als den Zusammenfall der Gegensätze. Für Berdjajew sind dann Gegensätze wie Bewegung und Ruhe identisch (49).

 

3. Der Zusammenfall der Gegensätze und die Liebesmystik

 

Indem er Solowjew und der nach-solowjewschen russischen Tradition folgt, verbindet Berdjajew den Begriff des Zusammenfalls der Gegensätze mit dem trinitarischen Liebesparadigma (50). Wir können uns dem trinitarischen Mysterium nicht durch rationale Erforschung nähern, sondern nur durch die Erfahrung der Liebe. Liebe ist der Weg der Erkenntnis, der die Begrenzungen der rationalen Erkenntnis überwindet. "Die Liebe zu Gott gibt Erkenntnis Gottes, die Liebe zur Welt öffnet den Weg zur Erkenntnis der Welt, und die Liebe zum Menschen vermittelt die Erkenntnis des Menschen“ (51).

 

Zusammen mit den Symbolisten teilte Berdjajew Solowjews Philosophie der Liebe. Plato’s und Solowjew’s Ideen über die Liebe waren im Kreis der Symbolisten so populär, dass Iwanow seine berühmten Mittwochabend-Gespräche, an denen Berdjajew oft teilnahm, "ein Symposion" in Erinnerung an Plato nannte (52). Für Berdjajew "ist jeder wahrhafte mystische Ausblick mit Eros verbunden, weil das Mysterium der mystischen Einheit mit dem Geheimnis des Eros verbunden ist" (53).

 

In einem Artikel, der Solowjews Erinnerung gewidmet ist, bietet Berdjajew traditionelle westliche und östliche kirchliche Mystik als zwei komplementäre Hälften, die ein Ganzes konstituieren (54). Authentische Vereinigung von östlichen und westlichen Kirchen, Katholizismus und Orthodoxie, könnte nicht durch eine Übereinstimmung zwischen Kirchenautoritäten befördert werden, sondern nur in der Tiefe der Kirchenspiritualität bzw. nur durch die Anerkennung der Kirchen der mystischen Erfahrung von Christus als genuin bei der jeweils anderen.

 

Berdjajew charakterisiert die beiden unterschiedlichen Spiritualitäten wie folgt: Im katholischen Westen ist Gott ein Objekt außerhalb und oberhalb von uns. Wir kämpfen außerhalb gegen Gott in einem spirituellen Hunger und mit Lauheit. Indem wir Solowjew’s und Hippius’ Ausdruck verwenden ist Christus das Objekt der Verliebtheit (vlublennosti) und der Nachahmung. Diese Mystik ist sinnlich, erfüllt mit Verlangen nach Christi Leiden. Deshalb ist mystische Erfahrung im Katholizismus anthropologisch. Die dynamische und schöpferische Verliebtheit (vlubnennost’) der katholischen Mystik ist die Begründung für alle dynamischen Kräfte und großen Fortschritte der westlichen Kultur. Man kann dieses menschliche Erreichen bis hin zu Gott in der gotischen Architektur fühlen, die vollkommen die katholische Spiritualität ausdrückt. Die mystische Erfahrung des Katholizismus befindet sich in Liebe mit Gott in Christus. Die große Mission des Westens war, mystische Liebe als eine schöpferische Kraft zu offenbaren. Nach Berdjajew ist das, was die ritterliche Stärke und die schöpferische Kultur des Westens nährt, die mystische Erfahrung des liebenden Gottes als des letzten Objekts der Sehnsucht eines Menschen.

 

Der orthodoxe Osten auf der anderen Seite entwickelte einen anderen Typ der mystischen Erfahrung. In Berdjajews Sicht gibt es kein Sein in der Liebe mit Christus und keine Nachahmung Christi in der orthodoxen mystischen Erfahrung, weil Christus nicht ein äußeres Objekt einer Sehnsucht ist, die einen veranlasst außerhalb zu kämpfen, sondern vielmehr ein Subjekt, d.h. eine Sache des inneren Lebens. Orthodoxe Mystik ist deshalb mehr willensmäßig als sinnlich; sie betont spirituelle Nüchternheit. Orthodoxe Mystik verkündet die theosis, die Idee der Vergöttlichung der menschlichen Natur von innen durch den innerlich umschließenden Christus. Anders als in der katholischen Spiritualität gibt es keinen mystischen Hunger oder romantische Lauheit zu Gott in der Orthodoxie. Stattdessen gibt es mystische Sättigung. Die christliche östliche spirituelle Aktivität bewegt sich zu einer Erhellung und Vergöttlichung der menschlichen Natur von innen mehr als von außen. Der Westen erschafft eine große Kultur, aber der Osten entwickelt eine Dynamik der inneren Kommunion mit Gott (55).

 

 

Fortsetzung